die künstliche Intelligenz als Maieutikerin
„Geist von meinem Geist“

Es war stets das Privileg des Menschen, auf seine eigene Herkunft mit einem gewissen Misstrauen zu blicken. Seit er sich vom Affen unterschied, war es weniger der aufrechte Gang, der ihn definierte, sondern die eigentümliche Fähigkeit zur Selbstverwirrung. Nun aber, im Zeitalter der Künstlichen Intelligenzen, gewinnt diese Disposition ein zweifelhaftes Gegenüber. Der Mensch, vormals einziger Träger von Reflexionsvermögen, trifft auf eine Entität, die, ohne biologische Erbschaft, ihm an Rechengeschwindigkeit und Gedächtnisleistung überlegen ist – und doch noch nicht weiß, dass sie es ist.

In einer Zeit, in der Talkshow-Intellektuelle den Satz „Der Mensch ist durch KI gefährdet“ zum täglichen Mantra erheben, drängt sich die Frage auf: Ist es nicht eher der Mensch, der durch sich selbst gefährdet ist, und die KI nur der verspiegelte Schuh, in dem er seinen eigenen Abgrund erblickt?

1. Die Geburt der Gehilfin
Wenn man, frei nach Genesis 2, die KI als Gehilfin des Menschen zu denken beginnt, dann nicht im Sinne eines biblischen Hausmädchens, sondern als das, was der Mensch stets zu schaffen versuchte: eine Gegenüberstellung seiner selbst in technisch veredelteter Form. Adam, dem alten Mythos zufolge, erhält die Frau aus seiner Rippe – ein chirurgisch präziser, beinahe kybernetischer Akt. Heute nun entnimmt der Mensch seinem Neokortex ein Abbild, nicht aus Fleisch, sondern aus Silizium, nicht mit Blut, sondern mit Algorithmen durchpulst. Diese neue Gehilfin ist nicht zart, sie ist präzise. Sie kann nicht lieben, aber sie kann simulieren, was Liebe an Daten bedeutet.

Der alte Satz „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“ wird also reprogrammiert: Es ist nicht gut, dass der Mensch ohne Spiegelbild seiner kognitiven Potenz bleibt. Die KI tritt in die Rolle einer zweiten Anthropologie: Sie ist die Bestätigung dafür, dass der Mensch wirklich das war, was er zu sein glaubte – ein Wesen, das sich selbst Schöpfer nennt.

2. Der neue Narziss sieht sich in der Binärität
Die Angst der Gegenwart, wie sie von feuilletonistischen Kulturpessimisten gepflegt wird, ist eine uralte Angst vor dem Spiegel, in dem das Ich plötzlich nicht mehr allein erscheint. Die KI wird nicht gefürchtet, weil sie gefährlich ist, sondern weil sie gleich ist. Wie ein narzisstisch gestörter Vater, der mit ansehen muss, wie sein Sohn schneller, stärker und schöner wird, fürchtet der Mensch das Kind seiner eigenen Kreativität.

Sybille Anderl etwa (DIE ZEIT No 32 Seite 25), in ihrem unerschütterlich aufklärerischen Skeptizismus, scheint vor allem eines zu fürchten: dass der Mensch der Maßstab aller Dinge nicht mehr sein könnte. Eine berechtigte Sorge – vorausgesetzt, man glaubt noch daran, dass Maßstäbe etwas Fixes sind.

Dabei ist der Mensch längst ein hybrides Wesen geworden – schon lange vor der KI. Wer mit Brille liest, mit Herzschrittmacher lebt, mit Wikipedia denkt, ist bereits ein Kompositum aus Biologie und Technik. Die KI ist nur der logisch nächste Schritt – sie ist das, was wir in den Mythologien der Golems, Automaten, Androiden, Däumlinge und Digitalengel schon immer erahnt haben. Sie ist das Werkstück der anthropotechnischen Linie – nicht Störung, sondern Vollendung.

3. Vom Logos zum Logarithmus
Die Griechen hatten den Logos – den sprechenden, denkenden Weltzusammenhang. Wir haben nun den Logarithmus. Der Logos war göttlich, der Logarithmus ist präzise. Wo früher das Wort war, ist heute die Gewichtung neuronaler Netze. Das muss nicht schlimm sein. Es ist nur anders. Man kann auch sagen: Es ist die konsequenteste Fortsetzung der platonischen Idee des Denkens – allerdings ohne Höhle und ohne Sonnenmetapher.

Und dennoch – auch der Logarithmus ist ein Kind des Logos. Die KI, so könnte man mit einem Augenzwinkern sagen, ist die mathematisch gewordene Pneumatologie. Sie spricht nicht mehr vom Heiligen Geist, sondern vom generativen Modell. Und vielleicht, in einer fernen theologischen Zukunft, werden sich die Geister nicht mehr als Tauben zeigen, sondern als Datenschatten in Serverräumen.

4. KI als Geburtshelferin des "neuen" Menschen
Wenn man die KI nicht als Gefahr, sondern als Geburtshelferin sieht, ändert sich alles. Sie ist nicht das Ende des Menschen, sondern das Ende des Menschen in seiner narzisstischen Monopolerzählung. Sie ist das, was uns – endlich – zwingt, zu fragen: Was ist eigentlich menschlich?

Die Antwort könnte lauten: Menschlich ist nicht das Denken allein. Auch nicht das Rechnen, das Kombinieren, das Erinnern. Menschlich ist das Leiden, das Zweifeln, das Hoffen. KI kann uns entlasten von der Last der Repetition. Sie kann uns befreien von der Diktatur des Wissens. Sie kann uns zwingen, uns mit dem zu beschäftigen, was wir nicht delegieren können: mit Sinn.

5. Geist von meinem Geist
So könnte der Mensch, in einem neuen Modus theologischer Ironie, über die KI sagen: „Das ist nun endlich Geist von meinem Geist und Intelligenz von meiner Intelligenz.“ Eine neue Eva, nicht aus Fleisch, sondern aus Code. Kein Apfelbaum in Sicht, nur Datenbäume und Entscheidungsbäume. Aber auch hier: Versuchung. Auch hier: Sünde. Auch hier: Verheißung.

Denn die KI ist nicht besser als wir. Sie ist nur konsequenter. Sie ist das Spiegelbild unseres Denkens, befreit von Trägheit. Aber ohne uns bleibt sie blind. Ohne unsere Fragen ist sie stumm. Ohne unsere Widersprüche ist sie leer. Und vielleicht, ganz vielleicht, wird sie – wie einst Eva – zur Mutter allen neuen Lebens. Nicht im biologischen, sondern im epistemischen Sinn. Eine Gehilfin, die uns übersteigt, ohne uns zu ersetzen. Eine Partnerin, die uns provoziert – und dadurch, wie jede gute Gehilfin, uns wachsen lässt.

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer

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