der Regenwurm
Geburtstagsgabe (zweiter Exkurs)

Aus dem schwarzen Erdboden erhob ich mich eben - und drang zu Euch auf. Ich bin Dwertatschili, der Regenwurm. Bin von einer fernen Sonne. Ihr kennt mich freilich nur als Regenwurm. Aber wir Regenwürmer waren und sind Seelenbegleiter der Dwertatschili, die eine Lebensform bei dem Stern Prokyon darstellen, um den Tratoriphos kreist - ein unmaßgeblicher Planet, von dessen Art es dort tausend ähnliche gibt. Wir kamen mit unserer Raumflotte in der Zeit des Tertiär zu Euch - da wart Ihr noch nicht unter den Lebenden. Leider kollidierten wir in den Eure Erde umschwirrenden Meteoritenstürmen mit gewaltigen Masseklumpen und stürzten weit verteilt über der nördlichen Erdhalbkugel zu derselbigen ab und gruben uns dabei klaftertief in die Kruste des Planeten ein. Unsere Wirte, die Dwertatschili, beamten sich sofort durch Raum und Zeit zurück in die heimatliche Gegend des Prokyon. Uns aber - ihre Seelenbegleiter - ließen sie zurück mit der Aufgabe, alle Spuren der Katastrophe langsam aber sicher zu beseitigen - womit wir immer noch beschäftigt sind. Ihr fragt Euch vielleicht, was die Regenwürmer - so bezeichnet Ihr uns ja - den ganzen Tag und die ganze Nacht schaffen und tun. Nun - das tun wir - alles wegräumen, alles fressen und zu Erde verarbeiten. Zu richtig guter und fruchtbarer Gartenerde. Manche von uns sind klein, manche von uns sehr groß. Die Brüder Tauwürmer zum Beispiel.

Auf Wunsch eines einzelnen Herrn aus dem Bajuwarischen melde ich mich heute bei der allgemeinen Menschheit. Ich habe von den Briefen der Tiere an oder über Luther gehört und auch gelesen. Die Epistel vom Maulwurf habe ich ebenfalls wahrgenommen … Die hat mich besonders interessiert, weil Maulwürfe uns Regenwürmer fressen. Deshalb bin ich auf alle in schwarze Samtroben gekleideten Herren nicht besonders gut zu sprechen. Wäre er mal lieber erschlagen worden von dem Vater des frommen Konfirmanden des Pastors Breithaupt. Ich meine den Maulwurf.
Das Gute ist, dass immer ein Stück von uns übrig bleibt, wenn der Maulwurf zubeißt. Er verzehrt die eine Hälfte gemächlich und schmatzend - in der anderen übrig gebliebenen Hälfte können wir uns inzwischen leise davon machen und wegkriechen, um uns zu regenerieren. Das lernen alle Kinder bei Euch schon in der fünften Klasse.  Es gibt Lebewesen, die sich aus einem Teil von sich selber wieder ganz erstehen lassen können. Deshalb sind wir u.U. sogar unsterblich.

Luther trug auch einen schwarzen Pelz wie der Maulwurf. Ich muss aufpassen, dass mir der Reformator deshalb nicht unsympathisch wird. Indem ich mir Folgendes klar mache: Was ist der Sachverhalt - und was nur meine mentale Ungleichgewichtigkeit, schaffe ich das. Ich rationalisiere also das Problem - damit ist viel gewonnen.

Der Luther also - was hat er uns Dwertatschiliern zu sagen? Nichts. Denn er denkt erdbezogen und hatte immer Angst vor dem Tode. Wir Dwertatschilier aber sind Himmeklskinder und unsterblich. Wenn ein Stück von uns übrig gelassen wird, wird daraus wieder das Ganze. Wenn Euer Luther das gewusst hätte, sähen seine Bekenntnisschriften ganz anders aus - und Ihr würdet nicht danach trachten, wie man einen gnädigen Gott kriegt, sondern wie man es schafft, Regenwurm zu werden und auch zu bleiben.

Ich weiß - Ihr glaubt mir nicht. Ihr denkt, wir seien einfache Würmer und Ihr die Krone der Schöpfung. Es ist keine große Leistung zu erkennen, dass Ihr mit dieser seit Alters her verfestigten Ansicht das armselige Schicksal der Sterblichkeit, dem Ihr unterliegt, Euch schön denkt, schön redet, schön singt, schön betet und schön feiert. Ihr begnadigt Euch damit sozusagen selbst. Herzlichen Glückwunsch. Es gibt übrigens eine kleine wahre Geschichte von einem Dwertatschilibegleiter (Regenwurm) und dem Reformator:

Eines Tages ging Luther auf der Collegienstraße in Wittenberg in Gedanken spazieren. Es war nach einem ausgiebigen Regen im Monat Mai. Da kroch einer der Unsrigen aus der Kanalisation hervor (die es damals freilich nur als Rinnstein am Rande der Straße gab) - um die allgemeine Lage zu peilen. Luther entdeckte diesen Vertreter unserer ehrbaren Zunft und beschloss, bei dem in wenigen Minuten ins Haus stehenden Gottesdienst diese Begegnung zum Thema zu machen. Denn er hatte nichts anderes vorbereitet, was damals übrigens nichts Besonderes gewesen ist, denn es klingelten ständig irgendwelche Glocken, um irgendeinem Heiligen sein entsprechendes Loblied zu singen. Und also predigte Luther Folgendes:

Lieben Brueder vnd Schwestern - sintemal ich kam eben an deren Gosse vorbei, wo die Schmvtzwasser sich hinvnter zvm Elbestrom stverzen vnd dachte darbei an gar nichts Böses. vnd siehe - ich sahe einen Wvrm avfdringen avs dem Kot vnd Schlamm der Gasse. Ohn Avgen, wie Ihr. Ohn Manieren wie Ihr. Ohn alle Sprache - wie Ihr vnd ohne Arm vnd Bein wie die Schlange, die Evan bezwang, weswegen wir in Sünden leben allhier. Geliebte in dem Herrn! Einst werden wir erloeset sein von dieser abschroecklichen Gestalt des Wvrmes, der sich in sich selbst verkrvemmt vnd dadvrch nicht den Himmel sehen kann - sondern nvr sein eigen schwarz vnd vnflaetig Ende, avs dem heravs eitel Erde koemmet, woravs wir gemacht sind vom ersten Tag an. Haben wir jedoch itzt den echten Glavben koennen wir die Selbstverkrvemmvng avfgeben vnd das Havpt in den Himmel strecken, daher kommen wird der Erloeser mit seinen Engeln, wie Ioannes in seiner Apokalypsis vns anzeigt. Solang wir noch sind ohn Ohr vnd Avge, ohn Verstand vnd Arm vnd Bein, da wollen wir mit vnserem Mvnd bekennen vnd flehen, dass vnsere Gestalt verwandelt wird zvr Herrlichkeit der wahren Kinder Gottes. Amen.

Es waren damals noch viele Menschen in der Stadtkirche und haben Ohren, Nasen und Mäuler aufgesperrt und dem Manne geglaubet. Wenn ich sagen würde, dass ich kein Regenwurm, sondern der Seelenbegleiter der Dwertatschili von fernem Stern wäre, würden die mich wohl gleich kreuzigen oder am Pfahle rösten. Das sei ferne … Deshalb verbrennet diesen Brief schnell und vollständiglich.

Dwertatschili - angeblich nur Wurm

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Autor:

Matthias Schollmeyer

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