das Einhorn
Geburtstagsgabe (18)

Nun tritt das Einhorn aus dem Schatten aller Unmöglichkeiten ins grelle Licht der Realität. Was für ein Wunder ... Lest hier den Brief dieses fabelhaften und liebenswürdigen Wesens:

Hallo - Ihr Lieben alle! Ich war damals nicht mit auf Noahs Arche, bin aber trotzdem noch da. Weil -  das kam so. Gott der HERR - hochgelobt sei sein Name - hatte vor der gegenwärtig noch laufenden Schöpfung, in der wir jetzt alle leben, noch mehrere andere Welten hervorgehen lassen. Das waren aber sozusagen nur Probeläufe. Aus einer dieser Schöpfungen - genauer gesagt der dreiundzwanzigsten - stamme ich, das Einhorn. Gott schleppte mich durch alle weiteren 333 Probeschöpfungen, die dann noch erfolgten, mit durch und stampfte mich nie ein, weil er mich schön und sympathisch fand. Er ließ mich immer mitgehen -von Schöpfung zu Schöpfung und das rechne ich ihm hoch an. Wir Einhörner müssen nicht sterben und uns auch nicht fortpflanzen wie Ihr, bedauernswerte Brüder und Schwestern, die Ihr unter das Joch der Zweigeschlechtlichkeit getan seid und dadurch eben auch vielfache Leiden zugemutet bekommt. Wir waren eingeschlechtlich und sind es immer noch. Gott sei Dank!

Als nun der Herr - hochgelobt sei er - unsere gegenwärtige Erde der Euch aus der Bibel hoffentlich bekannten großen Flut unterzog (Genesis 6ff berichtet davon), als er nur den Noah mit seiner Familie und von jedem Tier je ein Männchen und ein Weibchen erretten zu lassen gedachte, war für mich guter Rat teuer. Erstens geriet Noah kurz vor dem tatsächlichen Anbruch der Sintflut enorm unter Stress. Die viele, viele Arbeit!!! Zweitens hatte er überall nur Tierpärchen! gesucht und in den Kasten geführt. Mich als Solitär aber irgendwie völlig außer Acht gelassen. Der an ihn ergangene göttlicher Auftrag sah die Errettung meiner Wenigkeit seiner Meinung nach schlechterdings nicht vor ... Dann begann es zu regnen und alle stiegen in die Arche. Ich jedoch war meilenweit entfernt von der Werft - nämlich an den Grenzen des Paradieses, in dem ein- und auszugehen der Cherub mit dem rollenden Schwert mir erlauben durfte und auch erlaubte. Ich war also nicht mit in der Arche, als die Flut kam.

Da wurde es sehr eng für mich - denn meine Schwimmkünste sind auch  bis heute überschaubar geblieben. Ich zum HERRN in meiner Not und ER erhörte mein Flehen und riss mich heraus. Es gab da nämlich einen einsamen hohen Berg jenseits von Eden, dessen Spitze die wilden Wasser nichts anhaben konnten. Dahinauf hieß der HERR - hochgelobt sei er - mich zu retten und zeigte mir den geheimen Pfad dahinaus. So habe ich überleben dürfen. Früher hatten wir übrigens nicht dieses eine Horn auf dem Kopfe, das wirklich verstörend und auf manche befremdlich wirkt. Dieses Horn hat sich während jener vierzig Fluttage und Nächte gebildet und ich habe nicht ablegen wollen, sondern es als Erinnerung an jenen Gipfel behalten, auf welchen ich mich hatte retten dürfen.

Als ich nach Beendigung der verheerenden Katastrophe, die alles Leben auf der Erde ausgelöscht und nur Noah und die Seinigen mit den jeweiligen Tierpaaren übrig gelassen hatte, als ich also vom Gipfel herab stieg, da malte eine der begabteren Töchter Noahs mein Konterfei mit einem Stück Holzkohle an die Felswand des Berges Ararat. Die Tochter hieß Utanapischta und heiratete später den Utnapischtin, den Ihr aus dem Gilgameschepos kennt. Genau dieses Kleine-Mädchen-Bild aber wurde in der Nachzeit irgendwann von einem emsigen Höhlenforscher gefunden - und in Kopie dem Kreis der Humanisten um Melanchthon bei Wittenberg zugespielt. Die Kopie langte dort zwar erst nach langer Irrfahrt an - man munkelt über arabische Buchmaler, Habsburger Geheimräte und andere Wirrungen der Gegenreformationszeit. Die Wittenberger freuten sich unbändig und zeigten das Bild ihrem Chef Martin Luther, der sich ebenfalls sehr begeisterte und den Drucker Hans Luft sofort anwies, mich bei der Bebilderung der Schöpfungsgeschichte auf jeden Fall mit aufzunehmen und die Bibel mit mir als Fabeltier auszugestalten, zu verfeinern und sichtbar einzubeziehen. Was dann natürlich auch geschah. Denn niemand getraute sich damals, Luthern auch nur mit einem einzigen Worte zu widersprechen. Dieser Mann hatte noch echte Führungsqualitäten, wie man heute bei Euch sagt - und hat politisch  eine Menge durchgestellt, wie es heute nur noch in der ehemaligen Sowjetunion oder Nordkorea möglich wäre. Das dazu.

Manche fragen höhnisch, wie wir Einhörner uns fortpflanzen würden? Gerne gebe ich die Antwort. Wie schon? Wie immer! Mit und in Bildern. Es gibt nur ein einziges Einhorn und das bin ich - sozusagen als das Einhornhafte, das Ureinhorn, die platonische Idee meines Wesens. Um das zu verstehen müsstet Ihr alle ein wenig philosophischer werden und Phantasie haben. Ich weiß - ein Großteil der Phantasie geht heute den Leuten im Laufe der Alltäglichkeiten leider verloren. Ich bedaure das. Und was noch schlimmer ist, manche halten Phantasie selber für etwas Schlimmes. Also - es bleibt dabei. Wir pflanzen uns durch Bilder fort, wie Ihr alle begreifen müsst, weil Ihr es ja auch deutlich sehen könnt. Deshalb sind wir auch mächtiger als Ihr, die ihr fressen müsst und das Gegenteil von Fressen macht. Um Weibchen habt Ihr zu kämpfen und schließlich jämmerlich den Geist auszuhauchen. Jedoch wir - das heißt ich als Einhornidee - sind bzw. bin von diesen Nöten suspendiert.

Wenn nun Martin Luther die Zeichnung des kleinen Noahmädchens n i c h t  in die Bilderbibel aufzunehmen befohlen hätte, dann mangelte Eurer Welt Wesentliches. Deshalb danke ich diesem großen Mann und gratuliere ihm zum Geburtstag - wenn auch verspätet. Ihr könnt es mir nachtun. Denn - er hatte Phantasie. Das steht fest.

Utnapischta - Einhorn

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andere Tierbriefe hier

Autor:

Matthias Schollmeyer

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