Sakralzeichen oder Lifestylephänomen?
DAS TATTOO

- ... die überwundene Dornenkrone (Tattoo-Entwurf)
- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
Tätowierungen – Hautschrift, Sakralzeichen und das Mysterium der Fünf Wunden Christi
1. Ursprünge der tätowierten Haut – Die Haut als erstes Textblatt der Kulturgeschichte.
Die Haut ist nicht nur das größte Organ des Menschen, sondern die ursprüngliche Bühne der Offenbarung. Sie ist der Ort, an dem das Ich und die Welt in Kontakt treten. Schon die ersten Tätowierungen der Frühzeit – Kohlespuren unter der Epidermis, eingerieben in kleine Schnitte – waren mehr als Körperkunst: Sie waren Opfer, Zeichen und Sakrament in einem. Die Haut wird hier nicht dekoriert, sondern zu einem Text, in den sich das Leben einschreibt. Bevor der Mensch seine Geschichte in Stein ritzte oder auf Pergament schrieb, begann er damit, seine Haut als Ur-Medium der Kultur zu verwenden. Tätowierungen gehören zu den ältesten Ausdrucksformen des Menschengeschlechts, weit älter als Schrift oder Architektur. Sie sind eine Art „Ur-Handschrift des Körpers auf sich selbst“, eine Symbiose aus Verletzung und Bedeutung, aus Schmerz und ins Transzendente weisendem Zeichen.
Die ältesten archäologischen Spuren solcher Zeichen auf Körperteilen stammen aus dem Neolitikum und wurden als Jägerkreuze auf den Unterkieferknochen im Kampf besiegter Großraubtiere gefunden. Die ältesten Zeichen auf Menschenhaut finden wir bei der Gletschermumie Ötzi (ca. 3300 v. Chr.), deren Körper über 60 Tätowierungen trägt. Diese Markierungen waren keine ästhetischen Dekorationen, sondern vermutlich magische oder medizinische Heilzeichen, die an Gelenken und entlang der Wirbelsäule angebracht wurden – fast wie ein archaisches System von Energiepunkten. Man kann diese Zeichen auch als Bildrüstung oder einfacher und etwas salopp formuliert als Ritterrüstung aus Bildern verstehen. Die Technik war einfach, aber wirkmächtig: Man schnitt oder stach in die Haut und rieb Holzkohle oder Asche in die Wunden. Die Haut selbst wurde zur heiligen Tafel, zur ersten „Schriftfläche“ des Menschen.
Hier zeigt sich der theoretische Kern dieser frühen Anthropotechnik: Die Tätowierung ist eine rituelle Selbstaneignung des Leibes, ein Akt, durch den der Mensch sagt: „Dieser Körper ist nicht bloß Natur, er ist Träger von Sinn.“ Zugleich als Übereignungspraktik und Hingabe an ein Höheres, das vom jeweiligen Bild gemeint ist. Bewusste Selbstkultivierung durch Schmerz, Symbol und Ritual.
2. Tätowierung als Sakralzeichen – Polynesien, Ägypten und das alte Europa
In Polynesien trug das tatau eine kosmologische und sakrale Bedeutung. Der Körper wurde zu einem Codex, in dem jede Linie, jeder Punkt Abstammung, Mut und Rang sichtbar machte. Hier zeigt sich das anthropotechnische Prinzip besonders deutlich: Der Körper wird in ein „zweites Ich“ verwandelt, in ein Höheres, eine durch Schmerz und Muster „geschriebene Identität.“
Im alten Ägypten dienten Tattoos oft als Fruchtbarkeitssymbole oder magische Schutzzeichen. In der keltischen Welt wiederum wurden blaue Tätowierungen mit Waidfarben genutzt, um Krieger zu lebenden Amuletten zu machen – sichtbare Zeichen von Mut und Todesfurchtüberwindung.
Das Christentum begegnete dieser Praxis ambivalent. Während es bei frühchristlichen Märtyrern vereinzelt Kreuzzeichen oder Glaubenssymbole auf der Haut gab, wurde die Tätowierung später als „heidnisch“ zurückgewiesen – als eine zu eigenmächtige Bearbeitung des Leibes, der doch Gottes Schöpfung ist. Der Mensch, der sich selbst signiert, stünde in gewisser Gefahr, das stille Siegel des Schöpfers zu missachten und überschreiben zu wollen.
3. Die Fünf Wunden Christi – Das Ur-Tattoo des Menschen
Um das Tattoo-Wesen im Kern als eine eigenständige christliche Sonderform verstehen zu können, lohnte sich seit jeher der Blick auf das Geheimnis der Fünf Wunden Christi – Hände, Füße und Seite. Auch die Dornenkrone wäre zu nennen, die am Haupt des Gottessohnes Wunden und Zeichen hinterlassen hat. Diese Male alle stellen sozusagen ein Ur-Tattoo dar, die göttliche Hautschrift, die nicht durch Mode und Bildvariabilität gekennzeichnet wäre, sondern - in Anlehnung an den Leidensweg Jesu - durch Opfer und Hingabe geprägt.
Der auferstandene Christus trägt diese Wunden nicht als Defekt, sondern als rot glühende Siegel der Erlösung. Er zeigt Thomas die Zeichen an Händen und an seiner Seite – „Lege deine Hand daran und sei nicht ungläubig, sondern gläubig“ (Joh 20,27). Hier sind die Wunden zu einer theologischen Hautschrift geworden, zu Zeichen, die die Verbindung von vergangenem Schmerz, jetziger Identität und zukünftigem Heil sichtbar machen. Die Zahl 5 hat dabei tiefe symbolische Bedeutung:
a) Sie steht für die Menschwerdung (5 Sinne, 5 Finger, 5 Zehen).
b) Sie verbindet die 4 Himmelsrichtungen (das Irdische) mit der 1 Gottes – der Quintessenz als Zentrum des Kreuzes.
c) Sie ist das Symbol des Durchgangs durch Leid zur Vollkommenheit.
Das Christentum kennt also auch so etwas wie ein Tattoo. Ein einziges Muster - als Eintrittsbillett in die erlöste Welt. „Tattoo der Gnade.“ Dieses jedoch wurde nicht durch menschliche Mode, sondern durch göttliche Selbsthingabe gesetzt. Die Fünf Wunden Christi. Hände, Füße und die geöffnete Seite wären als ewige Schrift der Erlösung zu betrachten, eingegraben in das Fleisch des Erlösers. Und der Auferstandene löscht diese Wunden auch nicht aus – sie bleiben archetypische Zeichen der Liebe. In gewisser Weise könnte man sagen, dass jede Tätowierung – bewusst oder unbewusst – diese Sehnsucht nach unvergänglicher Spur, nach einem Zeichen, das über die bloße Haut hinaus Bedeutung trägt, wiederholt und im Anschauen feiert.
4. Technik und Handwerk – Vom Nadelritual zur Maschine
Die alte Technik war - wie oben schon angedeutet - brutal einfach: Man stach mit Knochen, Dornen oder Bambusnadeln, rieb Farbstoffe wie Asche, Holzkohle oder Pflanzensäfte ein. In Japan entwickelte sich daraus die hochpräzise Kunst des Tebori, bei der ganze Bildlandschaften mit feinstem Nadeldruck gestochen wurden – eine Arbeit von Stunden, Tagen, oft schmerzvollen Monaten.
Mit der Erfindung der elektrischen Tätowiermaschine (Samuel O’Reilly, 1891) begann die industrielle Verfügbarkeit. Damit konnte das, was zuvor ein Ritus der Initiation gewesen war, nun zur urbanen Dekoration depraviert werden. Der Körper als „Medium“ wurde von der sakralen Bühne in die Konsumkultur überführt.
5. Anthropotechnische Bedeutung – Das irreversibel Gezeichnete
Jede Tätowierung ist ein Training in Irreversibilität. Sie lehrt den Menschen, dass der Körper nicht nur Oberfläche, sondern eine lebendige Chronik ist.
Extrem konservativ gedeutet könnte das Tattoo als eine Verletzung des „Tempels des Heiligen Geistes“ gelesen werden – ein Ausdruck der Moderne, die den Körper als bloßes Projekt der Selbstinszenierung behandelt.
Aber mit etwas mehr Nachdenklichkeit und Bereitschaft zu theologischen Großmut gedeutet ist das Tattoo eine Selbst-Autorschaft und die bewusst gesetzte Hautschrift eines „Ich bekenne mich zu mir selbst als einem Bildträger.“ Auf das eigene Tattoo angesprochen könnte man nun nämlich Auskunft geben - etwa auch "über die Hoffnung, die in einem ist" (1.Petrus 3,15) - oder über Frust bzw. Verzweiflung ... Und pastoral gedeutet ist das Tattoo immer auch ein bestandener Schmerzritus, eine Art miniaturisiertes Kreuztragen, das den Träger prägt, weil er es nicht mehr loswerden kann.
6. Moderne Rezeption – Vom Randständigen zum Lifestyle
Im 20. Jahrhundert erlebte die Tätowierung eine Doppelbewegung. Sie war ursprünglich eher ein bewusst gewähltes Stigma der Randständigen, der Seeleute, von Kriminellen und Erkennungszeichen von Angehörigen verschiedenster Subkulturen. Dass Brandzeichen zur Kennzeichnung von Eigentum und Besitz (auch Tiere und Sklaven) genutzt wurden - ist noch ein anderes Problem, das hier nicht besprochen werden muss. Aber zugleich wurden Tätowierungen im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert zu einem Massenphänomen. Heute sind Tattoos nicht selten ästhetische Lifestyle-Statements, die ihre sakrale Tiefe u.U. deshalb zu verlieren drohen. Die einstigen Hautschriften der Kriegers, Schamanen oder Märtyrer schweben in der Gefahr, zu oberflächlichen Designobjekten zu werden. In gewisser Weise wird man auf eine drohende „Verflachung des Mysteriums“ hinweisen müssen.
7. Zahlentheorie und die Haut
Die Zahl 5, das Sinnbild der Wunden Christi, verbindet sich mit der Geometrie der Pentagramme und mit der Menschengestalt (Leonardo da Vincis Vitruvianischer Mensch). Die Tätowierung kann als Versuch verstanden werden, diese göttlich-menschliche Geometrie bewusst zu gestalten – ein Spiel zwischen kosmischer Zahl und persönlichem Schicksal. So ist jede Tätowierung, ob klein oder groß, ein „fünffaches Zeugnis“ der Sinne: Sie berührt Sehen, Tasten, Schmerzempfinden, Erinnern und Erkennen - zumindest kann der Romantiker es, ohne damit ganz und gar zu irren - so betrachten.
8. Ausblick – Hautschrift der Zukunft
Es wäre auf jeden Fall zu kurz gegriffen, Tattoos auf „Pseudoästhetik“ zu reduzieren. Gerade in einer Zeit, in der der Körper mehr und mehr von digitaler Entkörperlichung verdrängt zu werden scheint, kann die Tätowierung eine Widerstandsmarke sein – ein Erinnern daran, dass wir Menschen fleischliche Wesen sind. In einer Welt der belanglosen Virtualität könnte die Tätowierung eine Rückkehr des Realen bedeuten: Ein Körper, der durch Zeichen zu verstehen geben will, dass er mehr ist als ein beliebiger Avatar.
Die Zukunft der Tätowierungen freilich kennt niemand. Sie könnten u.U. sogar zur Rückkehr einer Tiefe bedeuten: Tattoos als bewusste Haut-Ikonen, als Symbole einer Lebensgeschichte, die nicht beliebig, sondern existentiell ist. Vielleicht wird man das Tattoo eines Tages wieder lesen wollen wie eine fast heilige Schrift, wie die Fortsetzung der fünf Wunden Christi – als Zeichen, dass Leid und Liebe sich in der Haut einprägen dürfen, weil die haup eben nicht nur Oberfläche ist.
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