Bericht aus dem Nikodemusevangelium
31. August - Tag des Nikodemus

Ja - es gibt tatsächlich auch noch ein sogenanntes Nikodemus-Evangelium (NE), das in seiner ältesten Gestalt aus dem vierten Jahrhundert stammen soll, und Traditionen sammelt, die in dieser Zeit wohl allgemein in Umlauf waren. Das NE enthält also auch einen ausführlichen Bericht von der descensus ad inferos, der „Höllenfahrt Christi“.

Dieses sonderbare Evangelium, das dem in Joh 3,1-21 genannten Nikodemus – einem Anhänger Jesu – zugeschrieben wird, gehört nicht zu den verbindlich gewordenen Schriften der Bibel, sein Stoff allerdings fand weite Verbreitung in der mittelalterlichen Volksfrömmigkeit, in Liturgie und Ikonographie.

Die Kapitel XVII bis XXVII beschreiben die Höllenfahrt Christi und enthalten eine theologische Intuition von eigentümlicher Kraft. Christus nämlich steigt höchstselbst in die Unterwelt hinab als der Herr, der drunten die verschlossenen Tore aufsprengt, Satan bindet und die Ureltern hinaus in die Freiheit führt. Der Tod ist seitdem nicht mehr der Verschließer, sondern Ort eines besonderen, wohl finalen, aber letztlich nicht gefährlichen Durchgangs. Und die Hölle ist entmächtigt, damit die Geschichte der Menschheit neu beginnen kann:

„Man muß es sich so vorstellen, sage ich, so muß man es sich vorstellen, daß in dieser schwarzen Finsternis, die sie Hades nennen, plötzlich ein Riß aufging, ein Licht, ein irrsinniges, ein unerträgliches, als ob tausend Sonnen gleichzeitig explodierten, und alle, die dort eingekerkert lagen, Adam, Jesaja, die Propheten, die Räuber, sie standen auf, sie blickten auf, sie waren geblendet und doch von Freude durchbohrt, und Satan, der alte Wicht, der alte Einflüsterer, redete noch, schrie noch, tobte noch, während er schon verurteilt war, schon in Ketten, schon im Maul des Hades, der selber begriff, daß er ausgespielt hatte, der Bauchgrimmen bekam, wie ein Vieh, dem die Därme zerreißen, weil der König, der wirkliche König, herabstieg, nicht wie ein Schatten, sondern wie ein Körper, wie ein Mensch, und mit dem Körper das Licht, und mit dem Licht die Zerschlagung aller Riegel und Schlösser.Und dann, das ist das eigentlich Unerhörte, packt dieser Christus den Satan wie einen räudigen Hund am Kopf, schleudert ihn in die Finsternis zurück, übergibt ihn den Engeln, die ihn fesseln, Hand, Fuß, Hals, Mund, fesseln, daß er nur noch winseln kann, winseln, winseln, und Hades, der Riesenrachen, der alles verschlungen hat, muß selber aussprechen: ‚wir sind besiegt, wir sind besiegt, wir sind erledigt, wir sind der Lächerlichkeit preisgegeben‘, und während er das schreit, reißt Christus den Adam hoch, reißt ihn hoch aus der Grube, richtet ihn auf, richtet mit ihm die ganze Menschheit auf, zieht sie heraus, eine Prozession der Toten, die nun Lebende sind, heraus aus dem Unterleib der Erde, hinauf ins Paradies, wo schon Enoch und schon Elias stehen, die nie gestorben sind, und der rechte Schächer, der Räuber, der mit Jesus am Kreuz hing und bittend bekannte, dem der Herr sagte: ‚Heute noch wirst du im Paradiese sein!‘ der also mit dem Kreuz auf der Schulter daherkommt, wie ein Lump, und doch als erster, als allererster in den Garten geführt wird, dieser Lump als Triumphator, als Beglaubigung der Gnade. Das ist der Sieg, das ist der Irrsinn, das ist das Unfaßbare, sage ich, daß ausgerechnet die Hölle selber, dieses Schlundwesen, die Kathedrale der Verdammnis, gestehen muß, geschlagen, leer, beraubt zu sein, daß ihr Bestand ausgelöscht ist, daß die eherne Konstruktion in sich zusammenkracht, daß ihr einziger Schmuck, ihre Gefangenen, ihr Reservoir, abgezogen ist, weg, entrissen, daß nichts bleibt als Satan in Ketten und Hades mit scheußlichem Bauchweh, und daß Christus, der Erniedrigte, der Gekreuzigte, der ans Kreuz Genagelte, dieser Hingerichtete, der von Essig Getränkte, in Wahrheit der Sieger ist, der König, der Höllenzertrümmerer, der, den niemand aufhalten konnte, der die Tore sprengt, die Schlösser zerreißt, die Dunkelheit vernichtet, der Licht bringt, ein für allemal, sage ich, und dieses Licht ist nicht mehr zu ertragen für die Finsternis, dieses Licht ist das Ende der Finsternis. Genauso muß man es sich vorstellen, sage ich, so, und nichts anderes.“

Wer über das apokryphe Evangelium des Nikodemus so oder so ähnlich gepredigt haben könne, würde kein Geringerer als Friedrich Christoph Oetinger gewesen sein – vielleicht sogar in einer seiner Geisterpredigten an der berühmten Sulzbacher Eiche . Die oben stehend nachphantasierte Handschrift trüge etwa die Titelei: „Sulzbacher Eiche, Sommerpredigt 1762. Oetingers Rede über den descensus ad inferos Nikodemi.“ (Archivsignatur: PfA Sulzbach, Hs. VII, fol. 34r–37v).

Diese schnell hingeworfene Nachschrift im Telegrammstil verrät in ihrer gedrängten, fast stenographisch wirkenden Diktion nicht die Hand eines gelehrten Redaktors, sondern die hastige Notation einer – sagen wir es einmal so, wie es sein könnte - begeisterten Hörerin. Im Milieu des schwäbischen Pietismus waren es nicht selten Frauen, die mit gespitztem Griffel die Predigten ihrer Seelsorger mitschrieben, um sie in den Erbauungskreisen weiterzugeben. Namen wie Christiana Mariana von Ziegler oder die Töchterkreise um Oetinger selbst zeigen, wie hoch das theologische Interesse und die Schreibfähigkeit pietistischer Frauen lagen. Man dürfte also eine solche Mitschrift mit gewisser Wahrscheinlichkeit einer Pfarrerstochter oder Hausmutter zuschreiben, die über solide Schreibfertigkeit – womöglich auch über eine der pietistischen Kurzschriften – verfügte. Auf jeden Fall ist dieses Stück aus dem 18. Jahrhundert unterhaltsam und bildend.

Wir nun lesen heute erstaunt diesen Text – am Tage des Heiligen Nikodemus. Denn der 31. August ist der Tag dieses besonderen Mannes, der damals heimlich zur Nacht bei Jesus vorbei schaute, um sich drängende Fragen beantworten zu lassen. Nikodemus hat es sich auch nicht nehmen lassen, während der Kreuzabnahme des verstorbenen Jesus zugegen zu sein und mit einer stattlichen Auswahl von Balsamsubstanzen sich einzubringen. Ihm ging es nämlich nicht nur darum, die Sache solange zu verehren, solange sie sichtbar war. Es ging Nikodemus auch darum, diese Sache würdevoll über ihr irdisches Ziel hinaus zu begleiten, und weil es sein musste – auch zu bestatten und später zu versuchen, sie kunstvoll zu konservieren. Das hat er dann auch getan, der Herr Nikodemus. Er soll dieses Evangelium verfasst haben, von dem oben die Rede war. Und mit dem Autor dieser fabelhaften Schrift beschließt der Monat August an letztem Tage die Liste seiner Großen … 

Ob es Nikodemus historisch wirklich gegeben hat, kann keiner beweisen - aber behaupten und davon erzählen, das können wir. Denn die nach ihm benannte Evangeliumsschrift gibt es. Sie ist bekannt. Gott rettet ja auch nicht die Welt, sondern er rettet unsere Sicht auf die Welt, dabei spielen Schrift und Gedanke eine große Rolle. So ist es also zwar nicht ganz egal, ob es Nikodemus wirklich gegeben hat und ob er ein Evangelium schrieb. Je länger und mehr Zeit aber zwischen die ersten nachchristlichen Jahrhunderte und unsere Zeit tritt, desto glaubhaft angemessener wird es, auch diese Schriften zu beherzigen, sich daran zu erfreuen und in ihrem Geiste weiter kreativ zu sein. Das ist eine der wichtigen Vorstufen der sogenannten Wahrheit ...

Autor:

Matthias Schollmeyer

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