Nietzsches Geburtstag
181

- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
„Ach, wenn das doch Gott noch hätte miterleben können!” – meinte Homer Simpson, der ebenfalls pünktlich angelangt war. Und traf damit - wie so oft unbeabsichtigt - ins Zentrum der Wahrheit. Was war geschehen? Friedrich Nietzsche, der im Wettbewerb, Totengräber Gottes zu sein, bis heute als Gewinner gilt und immer noch die Goldmedaille hält, feiert am 15.Oktober 2025 seinen 181. Geburtstag. Viele Geister der Moderne waren deswegen zusammengekommen, um auf jenen Mann anzustoßen, welcher unser Denken einst befreite - wenn ihm in der Konsequenz auch das eigene Hirn als Vergeltung dann den Dienst aufkündigte. Ja - einen hohen Preis hat Bruder Fritz damals gezahlt …
Sie kommen von überall her, die Geburtstagsgäste: halb Philosophen, halb Influencer, manche mit einem leicht verzweifelten Lächeln, das oft bei jenen zu beobachten ist, die ihre Überzeugungen mehrfach umgetopft haben; sie alle müssen heute so tun, als ob sie den Autor des Zarathustra schon immer verstanden hätten – haben sie aber nicht. Denn hätten sie ihn verstanden, hätten sie zu kommen sich gar nicht getraut. Man serviert Rotkäppchen-Sekt aus dem Unstruttal, jener Weinregion, wo Fritz Nietzsche aufwuchs und schon als Kind gelernt hatte, dass Gärung der eigentliche Sinn des Lebens sei. Nach dem zweiten Glas werden sich alle darüber einig, dass man den heutigen Tag am besten auch symbolisch krönt – mit der Zahl 181, aber die 8 soll liegen – als Glyphe der Unendlichkeit, die uns unheimlich anschaut - flankiert von zwei aufrecht stehenden Einsen. 1 ∞ 1. Ja - einhunderteinundachtzig! So einfach kann Theologie sein: Die Ewigkeit im Mittelteil, flankiert von zwei Egos, die standhaft bleiben wollen. Und alle Geburtstagsgäste schauen einmal spaßig durch die beiden Löcher der Unendlich und lachen dabei. Selfies werden gemacht … Friedrich Wilhelm Nietzsche wird durch ein begabtes Medium via Seance gebeten, noch einmal das Wesentliche seiner Philosophie in einem Vortrag zum Besten zu geben. Und diesmal mit Blick auf das aktuelle Elend. Das ist der Clou. Der Vortrag wird auf dem Wege endoplasmatischer Faximilation sofort geliefert und das Los, den Text nun auch vorzulesen, fiel auf Hendrik M. Broder. Es hätte keinen besseren treffen können. Hier ist der Text:
Der alte Gott und seine neuen Henker
Es gibt kaum ein Volk, das seine geistigen Fundamente mit so viel Inbrunst demontiert wie die Deutschen. Man nennt das dann „kritisches Denken“, meint aber: die Freude am Zersägen des eigenen Astes. Und der dickste Ast war schon immer das Religiöse.
Seit Jahren wird alles, was nach Kirche, Glauben oder Transzendenz riecht, unter das Mikroskop der Verdächtigung gelegt. Freud erklärt Religion zur Zwangsneurose, Marx zum Opium, Dawkins zum Virus. Und in den Talkshows strampeln dann vornehm die Epigonen der Epigonen dieser Denker – Leute, die von Religion ungefähr so viel verstehen wie ein Goldfisch vom Fahrrad –, und dozieren, warum man heute „Glauben nicht mehr braucht“. Das ist ungefähr so klug wie zu sagen: Man braucht keine Wirbelsäule, solange man sich auf den Boden legt.
Man glaubt übrigens trotzdem weiter – nur an anderes: ans Klima, an die Gendergerechtigkeit, an die Wissenschaft (der man immer „folgen soll“), an die eigene moralische Überlegenheit. Der Mensch bleibt religiös, er hat nur den Himmel gegen die eigene Klickrate getauscht. Früher betete man, jetzt postet man. Früher bekannte man Sünden, jetzt teilt man Empörung. Und die Buße heißt heute „Shitstorm“.
Die selbsternannte „progressive Intelligenzija“ – zu zwei Dritteln weiblich, zu drei Vierteln noch grün, zu hundert Prozent überzeugt – hat den religiösen Instinkt der Gesellschaft erfolgreich in den Müllkübel geschoben. Alles, was nicht in ihr säkulares Weltbild passt, wird als „rechts“, „reaktionär“ oder „fundamentalistisch“ etikettiert. So verteidigt man angeblich die Vielfalt – indem man alles ausschließt, was anders ist, als man selbst sein zu müssen glaubt.
Das Ergebnis: ein kulturelles Vakuum, in dem niemand mehr weiß, warum man überhaupt anständig sein sollte. Denn Moral ohne Transzendenz ist wie ein Stromkabel ohne Steckdose. Man kann sich daran aufhängen, aber es leuchtet nichts. Und der Staat? Er taumelt bei alledem mehr als je. Denn die geistige Statik Europas beruhte über Jahrhunderte auf genau dem, was man jetzt als „mittelalterlich“ verlacht - ruhte auf einem gemeinsamen sechszackigen Symbolsystem, einem Gefühl für das Heilige, einem Minimum an metaphysischer Demut. Wenn das verschwindet, bleibt nur noch Politik – und das ist, mit Verlaub, die ärmste Religion von allen. Aber das wird man ja wohl noch sagen dürfen?
Die neuen Heiligen der Empörung haben die alten Götter entmachtet – und neue installiert. Sie heißen heute: Klima, Diversität, Antirassismus, Gesundheit, Inklusion, Gender. Jede dieser Religionen hat ihre Dogmen entwickelt, ihre Beichtväter, ihre Ketzer und ihre Sakramente. Die Taufe heißt nun „Awareness-Schulung“. Die Kommunion: „Teilen auf Social Media“. Und die Exkommunikation erfolgt per Shitstorm.
Es ist faszinierend: Die gleichen Leute, die Religion immer für gefährlich hielten, haben in Rekordzeit eine eigene erfunden – nur ohne Humor, ohne Gnade und ohne Gott. Und das Schöne an dieser neuen Religion ist: Sie erträgt keine Häresie. Ein falsches Pronomen, ein falscher Witz, ein falscher Gedanke – und schon steht man am digitalen Pranger, umringt von den selbsternannten Tugendwächter*innen der reinen Lehre. Kein Mittelalter war je so zensurfreudig wie diese angeblich freie Moderne. Man nennt es „progressiv“. Aber in Wahrheit ist es infantile Regression mit WLAN-Anschluss. Denn wenn alles Politische zum Moralischen und alles Moralische zur Religion wird, bleibt kein Raum mehr für das, was früher einmal Denken gewesen ist. Nur noch für Beten – allerdings unter neuen Vorzeichen. Das Klima ist die neue Apokalypse. Das CO₂ das neue Böse. Die Gendersternchen sind die neuen Psalmen, die jeden Satz segnen sollen. Und wehe, man spricht sie nicht mit – schon steht man auf der Seite Satans.
Die Aufklärung, so scheint es, hat einen eigenen neuen Klerus hervorgebracht – und der wird aus Steuergeldern und Zwangsgebühren bezahlt. Ihre Bibel ist Twitter, ihre Messen finden in TalkShows statt, und ihre Kanzeln sind taz und die Alpenprawda. Wenn man dort vom „rechten Rand“ redet, dann ist das das neue „Fegefeuer“: Und jede(r) soll Angst haben, hineinzurutschen.
Das Tragische daran ist nicht einmal die Lächerlichkeit. Das Tragische ist, dass diese Dauererregung die letzten Reste gemeinsamer Realität zerstört. Der Mensch kann nicht ohne einen Sinnhorizont leben. Wenn er ihn verliert, erfindet er einen. Nur dass dieser neue Sinn – im Gegensatz zum alten – keine Vergebung kennt. Nur Schuld. Nur Verdacht. Nur endlose Buße. So hat sich die Religionskritik der Moderne selbst vollendet: Sie hat Gott entthront – und das eigene Ich auf den Altar gelegt. Man betet jetzt zu sich selbst, im Namen der Vielfalt, versteht sich. Und während der westliche Mensch sich moralisch selbst umarmt, bröckelt die Zivilisation, die ihm den Luxus dieser Pose überhaupt erst ermöglicht hat. Das ist die wahre Obsoleszenz:
Nicht des Religiösen, sondern der Vernunft, die glaubte, ohne das Religiöse auszukommen. Ich habe es selber erlebt - aber meine Erkenntnis kam zu spät.
Nachdem der Nietzsche-Vortrag geendet war, sahen sich alle - wie so oft nach großen Worten - relativ bedeutsam an. Dann wandelte man Arm in Arm noch ein wenig durch die Weinberge Naumburgs. Manchem kam dabei bruchstückhaft jenes Gedicht Rilkes in den Sinn, das Lou so geliebt hatte. Das war die Frau, die gleich nach dem Tod des verehrten Geburtstgskindes Fritz ihm die erste böse Biographie anzuverfassen sich nicht zu entbrechen gewusst hatte: „Herr, es ist Zeit, der Sommer war sehr groß … Und jage die letzte Süße in den schweren Wein” . Mancher erwarb sich ein paar Flaschen davon und reiste am Abend des 15. Oktobers nachdenklich - straks vor sich hin - wieder heim.
Autor:Matthias Schollmeyer |
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