DE PROBATIONE MUNDI
Zwei neue Erprobungsräume

- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
I. Die Welt als Bühne der Erprobung
In den stillen Stunden der Dämmerung, wenn das Licht der untergehenden Sonne die Welt in goldenes Glühen taucht, offenbart sich die Schöpfung in voller Pracht. Die Wälder flüstern alte Geschichten, die Meere singen ihre Lieder der Tiefe, und der Himmel spannt sich wie ein gewaltiges Zelt über das irdische Treiben. In diesem grandiosen Theater der Natur spielt sich das Drama des menschlichen Daseins ab – ein Schauspiel, das von Erprobung, Erkenntnis und Transformation handelt.
Die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland (EKM) hat mit ihren sogenannten Erprobungsräumen Orte geschaffen, an denen neue Formen des kirchlichen Lebens sollen erprobt werden dürfen. Diese Räume sind nicht an physische Grenzen gebunden, sondern entstehen dort, wo Menschen gemeinsam neue Glaubenswege erfinden. Die sind geprägt von Offenheit, Kreativität und dem Mut, traditionelle Strukturen zu hinterfragen.
Was, wenn wir diesen Gedanken weiterdenken? Was, wenn wir die gesamte Schöpfung als einen solchen Erprobungsraum verstünden – ein Ort, an dem der Schöpfer selbst experimentiert, beobachtet, begleitet - und verwirft?
II. Der Kosmos als göttliches Laboratorium
Stellen wir uns vor, der Schöpfer betrachtet seine Schöpfung nicht als ein abgeschlossenes Werk, sondern als ein fortwährendes Experiment. Jeder Mensch, jedes Tier, jede Pflanze ist Teil dieses grandiosen Versuchsaufbaus. Die Naturgesetze sind die Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich das Leben entfaltet, doch der Ausgang ist offen, unvorhersehbar - oder spannend, wie es heute heißt.
In diesem kosmischen Laboratorium ist der Mensch sowohl Objekt als auch Subjekt der Erprobung. Er wird geprüft in seinem Umgang mit Freiheit, Verantwortung und Mitgefühl. Seine Entscheidungen, seine Handlungen, seine Beziehungen – all dies sind Datenpunkte in einem göttlichen Experiment (womöglich zeitlich sogar begrenzt), dessen Ziel nicht Kontrolle, sondern Erkenntnis ist.
III. Der Erprobungsraum der Stille
Inmitten des Lärms der Welt, der Hektik des Alltags und der Flut der Informationen sehnen sich viele Menschen nach einem Ort der Ruhe, der Besinnung, der inneren Einkehr. Hier setzt die Idee eines ersten neuen, experimentellen Erprobungsraums an: der Erprobungsraum der Stille.
Dieser Raum sei kein physischer Ort, sondern ein Zustand des Seins. Er entstünde dort, wo Menschen bewusst innehalten, schweigen, lauschen. In der Stille begegnen sie sich selbst, ihren Vermutungen - auch Ängsten, ihren Hoffnungen. Und dem, was sie "ihren Glauben" nennen. Es wäre ein Raum der Selbstprüfung, der Selbsterkenntnis, der spirituellen Vertiefung.
Die Gestaltung dieses Erprobungsraums ist einfach und genial zugleich: Es bedarf keiner aufwendigen Infrastruktur, keiner speziellen Programme, keiner großen Organisation. Alles, was es braucht, ist die Bereitschaft, sich auf die Stille einzulassen und ihr Raum zu geben. Meinetwegen auch ein Logo, das man sich mit einem Sticker anheften kann, wenn der Erprobungsraum der Stille betreten wird - hier ein erster Entwurf.
IV. Die transformative Kraft der Stille
Die Erfahrungen in diesem Erprobungsraum können tiefgreifend sein. In der Stille offenbart sich die Stimme des Gewissens, die Weisheit des Herzens, die Gegenwart des Göttlichen. Menschen berichten von innerem Frieden, von Klarheit, von einer neuen Ausrichtung ihres Lebens.
Die so beschriebene Transformation bleibt nicht auf das Individuum beschränkt. Sie wirkt sich aus auf Beziehungen, auf Gemeinschaften, auf die Gesellschaft. Die Stille wird zur Quelle von Empathie, von Verständnis, von Mitmenschlichkeit. Sie fördert eine Kultur des Zuhörens, des Respekts, der Achtsamkeit.
V. Ein Aufruf zur Erprobung
Die Idee eines solchen Erprobungsraums für Stille lädt uns ein, neue Wege des Glaubens, der Spiritualität, des Miteinanders zu erkunden. Sie fordert uns heraus, gewohnte Muster zu hinterfragen und uns auf das Wagnis der inneren Einkehr einzulassen. Aber das ist schon wieder viel zu laut und kommt fast marktschreierisch und unangenehm ideologisch daher - ein Beweis dafür, dass dieser Erprobungsraum wichtig sein könnte ...
In einer Welt, die von Lärm und Ablenkung geprägt ist, kann die Stille zu einem revolutionären Akt werden – zu einem Zeichen der Hoffnung, der Erneuerung, der göttlichen Präsenz.
VI. Der zweite Erprobungsraum: Das Haus mit dem schrägen Tisch
In einer mitteldeutschen Kleinstadt, deren Name nicht genannt zu werden braucht – denn jede Stadt, jedes Dorf könnte es sein –, ward ein Haus errichtet. Es ist äußerlich unscheinbar wie eine Kirche - aber im Innern birgt dieses Haus eine Idee, die die Besucher unmerklich verändert. Es ist ein Haus, das den zweiten Erprobungsraum enthält. Das Haus mit dem schrägen Tisch.
Was ist das Besondere an diesem Tisch?
Der Tisch ist, wie gesagt, schräg (vgl.Bild oben). Nicht metaphorisch schräg – das wäre leicht gewesen und hätte in die gängigen Allegorien einer sich neigenden Welt, eines Kippens der Werte oder der verschobenen Gleichgewichte gepasst. Nein, er ist physisch schräg, mit einem Neigungswinkel von exakt 8,7 Grad zur Horizontalen. Gerade genug, dass alles, was man auf ihm ablegt – Bücher, Teller, Karten, Hände – langsam zur Seite rutscht, wenn man nicht aufmerksam bleibt.
Die Menschen kommen nun in dieses Haus, setzten sich an den Tisch, um zu reden, zu schweigen, zu denken, zu spielen, zu essen oder einfach um da zu sein. Und bald merkten sie, dass sie sich anders verhalten. Sie halten die Dinge mit Bedacht. Sie blicken einander wacher ins Gesicht. Gespräche daueren länger. Entscheidungen werden nicht vorschnell getroffen. Denn nichts bleibt, wie es war. Die Welt neigt sich leise, mit einer listigen Beständigkeit.
Und aus der Rückschau auf dieses Experiment? Einige lachten bald darüber, andere wurden unruhig, wieder andere begannen zu meditieren. Kinder fanden es großartig. Philosophiestudenten wollten bleiben. Theologen wurden endlich still. Denn dieser schiefe Tisch war eine Schule der Achtsamkeit, eine winzige Neigung zur Wahrheit.
VII. Der Schöpfer als Lehrer des Gleichgewichts
So entstand dieser zweite Erprobungsraum – aus Holz, aus Geduld, aus Ironie. Und doch war er eine Allegorie, auch wenn er sich selbst dagegen zu sträuben schien: Er spiegelte das Leben selbst, das selten eben verläuft. Jeder Versuch, etwas festzuhalten, musste mit einem feinen Spürsinn geschehen. Wer an diesem Tisch leben wollte, musste wach sein, balancieren, innehalten – wie in der Schöpfung, die selbst ein geneigter Raum ist, kein Parkett, sondern ein Hang, auf dem man lernt zu gehen.
Hier nun treffen sich der Glaube und die Stille, die Tiefe und die Komik. Der Tisch, wie ein Gleichnis aus der Werkstatt Gottes, lehrt uns, dass der Mensch zur Achtsamkeit geschaffen ist. Und dass das, was wir „Gnade“ nennen, nicht in der Horizontale geschieht, sondern im Widerstand gegen das unmerkliche Rutschen.
VIII. Epilog: Auf der Kante
So liegen zwei Erprobungsräume vor uns:
A. Der eine unsichtbar, aber innerlich kraftvoll – die Stille.
B. Der andere sichtbar, aber leise wirkend – der schiefe Tisch.
Beide sind einfach. Beide sind genial. Beide offenbaren das Wesen Gottes als des großen Lehrers, der uns nicht zwingt, sondern uns einlädt, in die Balance zu finden.
Die EKM hat mit ihren Erprobungsräumen so etwas wie ein kirchliches Feldlabor eröffnet. Der Schöpfer aber, möchte man sagen, hat der Menschheit mit der ganzen Erde unter den Himmeln ein Labor bereitet. Wer dort bewusst eintritt, steht mitten drin. Und wer das erkennt, merkt: Auch die schiefe Welt ist ein Werk göttlicher Pädagogik.
Da stehen wir nun da – auf der Kante. Und lernen zu leben.


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