Schafe ohne Hirten
für den 20. Juli 2025

- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
„Es jammerte ihn, denn sie waren wie Schafe ohne einen Hirten.” Es gehört zu den paradoxen Großartigkeiten des Christentums, dass es sich solcher einfachen Jesusbilder lange Zeit nicht schämte. Ja, diese Bilder sind archaisch. Und deshalb überleben sie. Das Bild vom guten Hirten stammt nicht aus der Philosophie, sondern von den Weiden schutzbedürftiger Kreaturen. Der Hirte selber ist nicht eins von den Schafen. Er denkt nicht wie sie. Er schläft nicht in ihrer Herde, auch wenn er bei ihnen wacht. Er ist außerhalb – und deshalb ist er für sie da.
So, wie der Hirte zur Herde gehört, aber nicht ihr Teil ist, so gehört die Kirche zur Gesellschaft – aber geht nicht aus ihr hervor. Eine Kirche, die sich nur aus der Gesellschaft speist, die sich beugt unter dem Gewicht des Zeitgeistes, die mitschwimmt, statt zu führen, ist nicht die des guten Hirten. Die Gesellschaft braucht etwas, das nicht sie selbst ist. Etwas, von dem sie überschritten wird, und dieses Überschritten-Werden bleibt maßgeblich. Wie der Hirte, der vom Rand her kommt – von draußen – um das Innere der Herde zu schützen. Der Hirte ist nicht gleichartig mit den Schafen. Er ist das Ganz-Andere, das nötig ist, damit es Ordnung gibt.
Was wären Hirten ohne Hunde? Deren leuchtende Augen. Ihre blitzenden Gebisse. Schnell umrunden sie die Herde mit Bewegungen, die wenig Widerspruch dulden, wenn die Herde ausbricht. Die Hunde des Herrn und die Hirten – das ist nicht nur Biologie. Das ist Lehrstruktur. Der alte Katechismus, das kluge Dogma, die harten Kanten kirchlicher Lehre, an die sich heute niemand erinnern lassen will. Die Hütehunde bellen - aber sie beißen nicht. Sie scheuchen auf. Sie lassen keinen aus den Augen - doch niemanden allein. Und lassen keinen einfach machen, was er will. Denn die Kirche – wenn sie Kirche war, musste beides sein: Hirte und Hund. Sie muss lieben – und sie muss sagen, wo’s langgeht. Nicht aus sinnloser Lust an Ordnung, sondern aus Verantwortung für das Ganze. Wer liebt, führt seine Leute. Wer nicht führen will, liebt noch nicht einmal sich selbst.
Nun aber sah Jesus eines Tages die Menschenmenge. Und, so heißt es im Predigttext des morgigen Sonntags - es zerriss ihm das Herz. Im griechischen Evangelium steht wörtlich: „Es drehten sich ihm die Eingeweide um.” Nicht vor Ekel, sondern aus Erbarmen! Denn sie waren wie Schafe ohne Hirten. Schafe ohne Hirten – das heißt: Gesellschaft ohne geistige Mitte. Völker ohne Ziel. Mächte ohne Maß. Sie treiben zwar die Herden – aber nicht zur Weide, sondern ins Schlachthaus. Nicht zur Quelle, sondern zur Verwertung. Die Kirche, wenn sie bei sich war, stand außerhalb der Gesellschaft und war deshalb bei allen. Kennt sie heute wirklich die Wölfe? Sie kennt das Wort Jesu: „Ich bin der gute Hirte. Ich gebe mein Leben für die Schafe.“ Das bedeutet: Ich gehöre nicht zu euch – aber ich bin für euch da. Das ist der Anspruch – und die Zumutung des Bildes vom Guten Hirten. Nicht weniger, nicht mehr. Immer tat die Kirche gut daran, wenn sie sich darauf besann …
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.