Reklame

die Haupttexte des Reformationstages
Deuteronomium 6,4-9

„Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein. Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft. Diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst. Und du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein, und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore.“

Dieses Wort – „Höre, Israel“ – steht am Anfang des jüdischen Glaubensbekenntnisses. Es ist kein lauter Befehl in irgendeinem anderen Lärm, sondern der Ruf hinab in die eigene leise Tiefe. „Höre“ heißt: Öffne dich. Nicht rede, nicht handle, nicht fühle zuerst – sondern höre. Denn alles Glauben beginnt mit dem Lauschen. Und was folgt, ist das Herzstück der Offenbarung: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben – von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft. Hier begegnet uns eine Bewegung, die von außen nach innen geht – und von innen nach außen wiederkehrt. Der Text entfaltet das Geheimnis der Gotteserkenntnis in einer doppelten Dynamik. Zuerst wird das Herz genannt. Das Herz – nicht als bloßes Organ der Empfindung, sondern als Mitte des Menschen. Im biblischen Denken ist das Herz kein Gegenspieler des Verstandes, sondern seine Wurzel. Es ist der Ort, an dem Denken und Fühlen, Wollen und Glauben eins werden. Wenn der Mensch von Herzen liebt, dann denkt er nicht weniger, sondern tiefer. Dann folgt die Seele – das ist der Atem, die Lebenskraft, das, was uns mit Gott verbindet. Und schließlich: mit all deiner Kraft. Damit ist das Tun gemeint, das Wirken in der Welt, die Hand, die schafft, die Stimme, die bezeugt, der Schritt, der hinausgeht.
Diese Dreifaltigkeit von Herz, Seele und Kraft ist eine Schule der Ganzheit. Gott will nicht ein Stück des Menschen, sondern seine Ganzform: das fühlende Herz, den atmenden Geist, die handelnde Kraft.
Und darum sagt der Text weiter: Diese Worte sollst du zu Herzen nehmen. Das heißt: Du sollst sie nicht nur wissen, sondern in dich einlassen, so dass sie in dir einen Körper gewinnen - tatsächlich in dir, so dass sie atmen in deinem Denken und handeln in deinen Händen.

Dann beginnt die zweite Bewegung – von innen nach außen. Schreibe sie an die Pfosten deines Hauses und an die Tore. Was im Herzen geboren ist, soll hinaus an die Schwellen des Lebens. Der Glaube, der nur innen bleibt, vertrocknet. Die Worte müssen hinaus in die Stadt, an die Tore, dorthin, wo der Mensch dem Fremden begegnet, wo Handel und Streit, Freude und Begegnung geschehen. So ist der Weg des Glaubens wie ein Atem: Eingezogen in das Herz – ausgeatmet in die Welt. Das Herz ist der Ort, an dem Gott uns verwandelt. Aber die Tore sind der Ort, an dem diese Verwandlung sichtbar wird. Wenn das Wort an die Pfosten unseres Hauses geschrieben ist, dann bedeutet das: Wir wohnen im Angesicht Gottes. Wenn es an den Toren steht, bedeutet es: Wir begegnen der Welt im Namen Gottes.

Die Reformation hat versucht, diesen Kreislauf wieder neu zu entdecken: das Wort Gottes nicht als äußerliches Gesetz, sondern als lebendige Bewegung zwischen Hören und Tun, zwischen Herz und Welt. Diese große tatsächlich von Martin Luther im 16. Jahrhundert inaugurierte Bewegung hat das Wort aus den Mauern der Kirche an die Tore der Städte getragen, und sie hat zugleich gefordert, dass es wieder ins Herz zurückkehrt – nicht als Gefühl, sondern als geistige Liebe, als Kraft, die Denken und Handeln durchdringt. Das Herz, sagt Augustinus, ist der Ort, an dem Gott größer ist als unser Begreifen. Darum darf das Herz im Glauben nicht übergangen werden. Es ist das Resonanzorgan der Wahrheit. Wenn das Denken die Form des Glaubens ist, dann ist das Herz seine Temperatur. So lehrt uns dieser Text, dass der Glaube kein Besitz, sondern ein Puls ist: ein Kommen und Gehen, ein Einatmen und Ausatmen Gottes im Menschen.
Von den Toren zur Stirn, von der Stirn zum Herzen, vom Herzen wieder zu den Toren – so bewegt sich der göttliche Atem durch die Geschichte. Und wer dieses Wort im Herzen trägt, der wird es auch an seinen Toren sichtbar machen – in der Weise, wie er lebt, spricht, liebt und denkt und mit anderen Menschen kommuniziert Denn Gott will nicht nur in der Schrift und in einem Buch wohnen, sondern in letzter Konsequenz im Menschen, der hört, liebt und handelt. Und in jedem, der dieses Wort aufnimmt, wiederholt sich leise der erste Satz des Glaubens: Höre, Israel – der Herr ist unser Gott, der Herr allein.

Und der Weg, von dem wir eben sprechen – von den Toren zum Herzen und vom Herzen wieder zu den Toren – hat im Neuen Testament seine vollkommene Gestalt in den Worten Jesu auf dem Berg gefunden: in den Seligpreisungen. Denn diese Seligpreisungen sind keine poetischen Segensworte, sondern geistliche Wegbeschreibungen. Man könnte fast sagen: es sind Rezepte des Heils, Anweisungen dafür, wie man die göttliche Bewegung in sich wiederfinden kann – vom Äußeren ins Innere, vom Lärm zur Stille, von der Tat zur Gesinnung und von der Gesinnung wieder zur Tat.

„Selig sind die, die arm sind im Geiste“ – das ist der erste Schritt. Es heißt: Entleere dich von dem, was du für dein Eigentum hältst – auch von deinen Gedanken, von deiner eigenen Rechthaberei. Die Tore der Stadt müssen sich öffnen, damit das Herz wieder atmen kann.
Dann folgen jene Seligpreisungen, die das Innere reinigen: die Sanftmütigen, die Barmherzigen, die Friedfertigen. Es sind Formen der Herzensarbeit. Sie verwandeln den Menschen nicht durch äußeren Zwang, sondern durch eine stille Schulung des Denkens und Fühlens. Und hier liegt das, was wir heute allzu leicht vergessen haben: Denken ist keine kalte Tätigkeit des Gehirns, sondern eine geistig-intellektuelle Diakonie. Das Denken, das sich selbst wahrnimmt, wird zum Dienst an der Wahrheit. Es ist wie das Waschen der Hände, bevor man Brot bricht.
Darum hat die Kirche – wenn sie ihrer Aufgabe treu bleibt – immer auch eine denkende Aufgabe. Sie ist nicht nur Hüterin des Glaubens, sondern Lehrerin des rechten Denkens. In einer Zeit, in der das Denken sich selbst verloren hat, muss sie wieder lernen, das Denken zu lehren: dass man merkt, wie man denkt, dass man erkennt, woher man denkt, und dass man sich dabei selber auf die Schliche kommt. Denn jede Umkehr beginnt im Denken – „metanoia“, sagt das Evangelium. Das heißt wörtlich: ein neues Denken. Und das neue Denken ist nichts anderes als die Öffnung des Herzens für Gott.

So führen die Seligpreisungen uns Stufe um Stufe tiefer in die Wahrheit Israels hinein. Sie lehren uns, dass die Liebe zu Gott mit dem Herzen beginnt, im Denken Gestalt annimmt und in der Kraft des Handelns hinauswirkt.
„Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.“ Rein ist das Herz nicht, wenn es nichts fühlt, sondern wenn es fühlt, ohne sich selbst zu täuschen. Rein ist das Denken nicht, wenn es alles versteht, sondern wenn es sich selbst durchschaut.
Und schließlich kommt jene letzte Seligpreisung, die wie eine befreiende Entlastung klingt: Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen verfolgen … Freut euch und hüpft!“ So übersetzt Lukas: Hüpft wie die Spatzen auf der Straße.

Das ist das Paradox des Glaubens: Wer den Weg von außen nach innen wirklich gegangen ist, der wird nicht mehr von außen zerstört. Wer Gott im Herzen trägt, kann ausgelacht werden – aber er zerbricht nicht. Denn dieser Weg – von den Toren zum Herzen und vom Herzen wieder hinaus zu den Toren – ist kein einmaliger Vorgang. Es ist die tägliche Bewegung des Glaubenden, die ständige Umkehr, das ständige Neu-Denken. Darum sind die Seligpreisungen wie ein Herzschlag. Sie lehren uns zu atmen im Geist, zu denken im Licht, zu handeln in Liebe. Und sie erinnern uns daran, dass der Friede, den Gott schenkt, nicht das Ende irgendeiner Mühe ist, sondern ihre Verwandlung in Freude.

Wenn ihr also verfolgt werdet – hüpft. Denn das ist das Zeichen, dass das Herz lebendig ist und das Denken vom Geist berührt wurde. So lehrt uns Christus selbst die göttliche Bewegung: vom Tor zum Herzen – und vom Herzen wieder zum Tor. Und wer diesen Weg geht, der steht nicht mehr zwischen Himmel und Erde – er steht in der Mitte, dort, wo Gott wohnt.

Autor:

Matthias Schollmeyer

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