Freitag, vor eins ...
Unsere Seite 1 - Früher war mehr Lametta

G+H Nr. 17 vom 26. April 2020 | Foto: G+H

Heute auf den Tag vor 28 Jahren gewann Nicole mit "Ein bisschen Frieden" den Eurovision Song Contest im englischen Harrogate. Wer Schlager liebt, bei dem steht dieser Evergreen ganz sicher weit oben auf seiner „Throwback“-Playlist. Das digitale Mixtape mit den schönsten Hits von vorgestern hat Hochkonjunktur in der Corona-Krise. Retro statt Resignation. Ein Trend, der sich im Moment in unserem Alltag durchsetzt. Aber taugt die Nostalgie zur Krisenbewältigung? 

Bestandsaufnahme: Wir schreiben Tag 40 im Ausnahmezustand. 40, eine biblische Zahl. 40 Tage und 40 Nächte, zum Beispiel, dauerte die Sinflut. 40 Tage hatte die Stadt Ninive, um ihre Sünden zu bereuen. Und 40 Jahre wanderte das Volk Israel nach dem Auszug aus Ägypten durch die Wüste. Wie eine Wüstenwanderung fühlen sich auch 40 Tage Homeoffice und Homeschooling an - zumindest in manchen Momenten. Eine Durststrecke, in der liebgewonnene Sicherheiten plötzlich in Frage stehen. Zurückgeworfen auf uns selbst und die eigenen vier Wände, verfällt so mancher in einen leichten Corona-Blues. Ist ja nun keinem übel zu nehmen - nur, was hilft?

Ein bisschen Retro offensichtlich.  Die sozialen Netzwerke sind voll von der Sehnsucht nach dem vermeintlich besseren Damals. Da werden Kinderfotos auf Whatsapp gepostet und Hitlisten mit den Lieblingssongs der Jugendjahre auf Streaming-Plattformen wie Spotify erstellt. Und via Skype-Schalte finden sich Bands zum Video-Konzert zusammen, deren Mitglieder eigentlich als unversöhnlich galten. Gary Barlow und Robbie Williams zum Beispiel, die in den 1990er-Jahren mit "Take That" Stadien füllten, sammeln gerade mit ihrem hübschen, kleinen Wohnzimmer-Duett auf Instagram jede Menge Klicks . Ja, früher war eben mehr Lametta oder wie Bärbel Wachholz, Jahrgang 1938 und damit Teil einer krisenerprobten Generation, schon 1959 sang: "Damals, damals, damals war alles so schön."

Aber trägt uns der Nostalgie-Wahn tatsächlich besser durch die Corona-Zeit?  Matthias Horx, Journalist und einer der bekanntesten deutschen Zukunftsforscher meint: Nicht der verklärende Blick zurück hilft, sondern eine vorwärtsgewandte Rückwärts-Prognose. Klingt kompliziert, ist es aber nicht. Im März schon veröffentlichte er seinen Essay  "48 – Die Welt nach Corona".  Darin stellt Horx fest, dass die Welt wie wir sie kennen, sich zwar gerade in der Auflösung befände, sich jedoch im Hintergrund eine neue Wirklichkeit zusammenfüge.

Um zu erahnen, wie diese aussehen wird, bedarf es laut Horx nur einer kleinen Übung: Er stellt sich schlicht vor, wie unser Alltag in mehreren Monaten aussehen könnte, und blickt dann von der Zukunft zurück ins Heute. Das Ergebnis: In seiner Vision werden sich Kulturtechniken des Digitalen in der Praxis bewähren, physische Distanz wird mehr echte Nähe erzeugen und die Stressgesellschaft wird zu einer neuen inneren Gelassenheit finden. Eine durchweg positive, wohlwollende, fast trotzige Zukunftsimagination ist das. Nun mag man davon halten, was man will. Womit Horx aber sehr wahrscheinlich Recht behalten könnte, ist die Einschätzung, dass Corona niemals so richtig "vorbei sein wird", und alles wieder zur Normalität zurückkehrt. "Es gibt historische Momente, in denen die Zukunft ihre Richtung ändert", schreibt Horx. Das gilt wohl, so oder so.

Kinderbilder teilen, alte Lieder spielen, in Erinnerungen schwelgen oder positive Zukunftsvisionen entwerfen - warum nicht, wenn es hilft. Besser noch aber ist es, wir halten uns an Jesus. Der machte in der Bergpredigt klar, dass ein Tag nach dem anderen gelebt sein will und zu viel Sorge nicht die Lösung ist: "Darum sorgt nicht für den andern Morgen; denn der morgende Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe." (Matthäus 6,34).

In diesem Sinne viel Freude bei der Lektüre unserer aktuellen Ausgabe. 

Aktuelles

  • Digitalisierung: In der Corona-Krise nimmt die drahtlose Kommunikation stark zu. Ein Zwischenruf von Werner Thiede.
  • Parallelen: Martin Luthers Zeitgenossen beschäftigten die gleichen Fragen im Umgang mit einer Epidemie wie uns heute. Seine Antworten waren eindeutig, weiß Christopher Spehr, Professor für Kirchengeschichte in Jena.
  • Gretchenfrage: Warum braucht ein engagiertes Kirchenmitglied »Nachhilfestunden« von der Pfarrerin? Regina Englert, Öffentlichkeitsbeauftragte im Kirchenkreis Südharz, berichtet davon, wie sie einen Glaubenskurs begann – und nicht beendete.

Thema

  • Kosmopolitisch: In ihrer Erfurter Wahlheimat bringt sich Dorothea Johst seit über 50 Jahren als engagierte Christin ein. Ihr Vater kam beim Stauffenberg-Attentat ums Leben. Ein Porträt von Iris Pelny.
  • Wechmar: Ein Dorf, weit über 1200 Jahre alt - hier könnten alte Gemäuer einiges erzählen. In Zeiten von Corona hat Gothas Oberbürgermeister und Vorsitzender des Wechmarer Heimatvereins genau hingehört, was die Steine flüstern.
  • Dialekt als Heimat: In der Altmark wird Plattdeutsch gesprochen und auch besondere Mundart-Gottesdienste werden im Norden von Sachsen-Anhalt gefeiert.

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Autor:

Beatrix Heinrichs

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