Ausgangskarte Nr. 816 der NVA zur Musik
Mein Weg zur Regler-Singschar

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Mein Weg zur Regler-Singschar -oder -
Ausgangskarte Nr. 816 der NVA und der „Klassenfeind“
Es begann in Erfurt. Doch der Reihe nach. Den Grund legte meine Schwester Dorothea, spätere Kirchenmusikerin in Greiz. Mit 5 Jahren nahm sie mich an die Hand. Danke Dorothea! Wir gingen gemeinsam zum Kinderchor. In Apolda. Meiner Geburtsstadt. 62 Jahre ist das her. Trotzdem unvergessen. Im Advent bekam ich ein grünes Quempasheft in die Hand gedrückt. Ich konnte noch nicht mal lesen. An die Bilder erinnere ich mich. Der Kreis der Engel über dem Stall von Bethlehem. Die Hirten, Könige und Engel als Illustrationen im Quempasheft.
Ohne Lesekenntnisse hieß es hören und auswendig singen. Bei Fräulein Herold. Meiner späteren Klavierlehrerin und Katechetin. Oh - sie hatte es schwer mit mir. Weniger im Kinderchor, eher am Klavier. Das Üben war mir fremd.
Zu Seniorenweihnachtsfeiern sangen wir in kleiner Kinderschar im Gemeindehaus. Und im Carolinenheim. Bis heute eine Senioreneinrichtung der Diakonie. Ich entsinne mich an manche Schlafsäle - 12 Betten und ein deutlich wahrnehmbarer Geruch. Über allem der Herrnhuter Stern. Am Eingang. Die Buntglasfenster im großen Kirchsaal. Am Ende gab es Weihnachtsplätzchen und einen langen Weg nach Hause. Dazu das Singen im Krippenspiel der Apoldaer Lutherkirche. Das war mein Einstieg in die „Laufbahn als Sänger“. Gern wäre ich nach Dresden oder Leipzig gegangen in einen der dortigen Kirchenknabenchöre. Dem standen meine Eltern kritisch entgegen. Die Kirchenmusik war meiner Schwester zugedacht. Später sang ich dann in Ostthüringen, Greizer Stadtkantorei, Ostthüringer Motettenchor und dem Ökumenischen Kantatenchor in Greiz. Dann Jenaer Stadtkantorei unter Eike Reuter. Einzelnes Vorsingen gab es noch. Später in der Apoldaer Kantorei, Dorfkirchenchören und der Hildburghäuser Stadtkantorei. Die Kantoren, alles Männer, es waren mindest ein Dutzend. Sehr unterschiedlich.
Doch nicht so schnell.
Mitte der 70er Jahre führte mich mein Weg unfreiwillig nach Erfurt. Das waren turbulente Zeiten. Vorher saß ich kurz in Untersuchungshaft in Gera nach einer von mir initiierten Unterschriftenaktion für aus der DDR ausgewiesene Bürgerrechtler. Die Antwort des sozialistischen Staates und des MfS kam prompt und war ein Einberufungsbefehl zur Nationalen Volksarmee. Die Einberufung war schneller da, als ich gedacht hatte. Und kam mit Macht. Meine Zukunftspläne waren zunichte. Meine neue Anschrift lautete: „Erfurt, Am Tannenwäldchen 44, MSR 24, Postfach 22474/0 “. MSR steht für Motorisiertes Schützenregiment. Neben dem Erfurter Lutherpark im Steiger, den ich später im Erfurter Parochialverband mitverwalten sollte. Dort, wo ich später mit den Konfirmanden aus dem Apoldaer und meiner Familie Freizeiten verbringen durfte.
Was so idyllisch als Anschrift „Am Tannenwäldchen“ klingt, erwies sich für mich als ernsthafte Herausforderung. Grundwehrdienst bei der Nationalen Volksarmee. Stillgestanden war noch einer der humaneren Befehle. Wehrdienst erst im Motschützenregiment später in einer Panzereinheit. Als Panzermonteur in einer I-Kompanie, Instandsetzungskompanie. Panzer wurden „Eisenschweine“ genannt. Die Werkzeuge waren über allen Maßen groß und die Vorschlaghämmer, genannt „Peitschen“, gewaltig. Eine Schinderei. Getriebe-, Motoren-, oder Kettenwechsel erwiesen sich als Herkulesaufgabe. Und mit dem nicht enden wollenden Tieflader rollte ich nachts mit Panzer im Huckepack über die neu errichtete Schmidtstedter Kreuzung. Verladung am Nordbahnhof. Dort gab es eine Panzerrampe. Noch heute heißt die Straße vom Erfurter Steiger herab im Volksmund Panzerstraße. Dort herabzufahren, gehörte zu den Kunststückchen.
Der Mensch gewöhnt sich an Vieles. Auch an Panzer. Wie gut, dass mich mein Glaube und ein fröhliches Herz schon damals begleitet haben. Nach den ersten vier Monaten, ohne auch nur einen Tag Ausgang, fasste ich allen Mut zusammen. Und ging zu meinem Kompaniechef, Major T. stellte ich meine Frage: „Bekomme ich Ausgang zum sonntäglichen Gottesdienst?“ Und seine Antwort lautete: „Genosse Haak, Sie sind verrückt. An Gott glaubt kein Mensch. Aber machen Sie nur. Und dass Sie mir nicht besoffen zurückkommen. Dann war‘s das.“
Ausgang wurde vorerst möglich, ohne das Ausgangskontingent der Kameraden zu belasten. Trotzdem, dem „Rotkehlchen“, anderer Name für Politoffizier der Panzereinheit, gefiel das gar nicht. Er sabotierte. Ausgang gestrichen. Ich besorgte eine Kirchenmitgliedschaftsbescheinigung. Der Kompaniechef bestätigte erneut seine Erlaubnis gegenüber dem Politoffizier. Und der Regimentschef, ein grantiger Oberst wurde eingeschaltet. Die Frage stand. Ausgang für einen Soldaten zum Kirchgang? Ergebnis: Sonntags 9-12 Uhr maximal aller 14 Tage. Ausnahme war die erhöhte Gefechtsbereitschaft gegenüber dem Klassenfeind. Wenn der „Klassenfeind es zuließ“ führte mich also mein Weg regelmäßig aller 14 Tage am Sonntag Vormittag zuerst in die Barfüßerkirche (vor ihrer Abgabe an die Stadt predigte dort Pfarrer Ladwig), später dann zu Regler. Es waren einfach die nächstliegenden evangelischen Kirchen zur Straßenbahnhaltestelle am Bahnhof / Anger. Und ich erinnere genau. Die Gottesdienste führten in eine andere, mir durchaus vertraute, Welt. Der Gesang berührte. Tief im Herzen. Das war die Reglersingschar. Die wohlgeformten Harmonien und Klänge, mit denen der Gottesdienst eröffnet wurde, erwärmten meine Seele. Ich spürte, wie mir das wohltat. Trost gab. Mich stärkte. Und Dinge ausdrückte, für die ich keine Worte finden konnte. Wie gut, dass Kirche mehr ist, als unsere Welt und in andere Dimensionen führt. Nebenbei: Hört auf, diese Kirche der Welt gleichzuschalten. Es bleibt das Mysterium. Ich glaube, genau das Hören des gesungenen Wortes war die Geburtsstunde meiner Entscheidung, Theologie zu studieren. Im Gottesdienst der Reglerkirche schöpfte ich Kraft für die nächsten vierzehn Tage in meiner Panzereinheit. Es war das gesungene Wort: Orientierung, Kraftquelle und Zentrum meines Glaubens bis heute. Dazu ein Pfarrer, der mich gut kannte und liebevoll begleitete, Heinrich Behr.
Im letzten Diensthalbjahr ging ich, nun in Zivil, mit permanenter Ausgangskarte Nr. 816, nach dem Reglerkirchgang auf ein Bier in den Erfurter Hof. Dort kellnerte Andreas Eras, mein späterer Senior und Freund hier in Erfurt. Die Ausgangskarte von damals. Ich habe sie aufgehoben (siehe Foto).
Anfang der 2000er Jahre traf ich meinen alten Kompaniechef in Erfurt wieder: Ich sprach ihn an. „Herr T., Genosse Major, erinnern Sie sich noch an mich?“ Er überlegte kurz und antwortete, „ach Gefreiter Haak, ich entsinne mich. Ich habe von Ihnen schon in der Zeitung gelesen. Sie waren doch der Verrückte von damals. Sie sind jetzt in Erfurt. Der mit der Kirche.“ Gern - antwortete ich und berichtete ihm aus meinem Leben. Er nickte. Verständnisvoll und mit wirklichem Interesse.
So führte mich Ende des Jahres 2000 der Weg als neu gewählter Pfarrer der Reglergemeinde konsequent in die Singschar. Was für ein illustrer Name, ja die Herkunft ist mir bekannt. Ulrich Oelze und Michael Bätz sprachen mich an. „Sie kommen doch zur Singschar?“ Und ich kam gern. Dieser Chor hatte sich bereits in jungen Jahren in mein Herz und meine Seele gesungen. Bis heute entsinne ich mich freudig an schönes Singen und an Sänger, die wissen was und wovon sie singen. Viele von Ihnen sind schon im Himmlischen Chor. Zeitweise waren wir fast 20 Männerstimmen. Mit Gesang von den Stufen des Hochaltars. Das ist Geschichte.
Als ich aus Hildburghausen wieder nach #Erfurt zurückkehrte, war klar für mich. Das Singen geht weiter. Und es war wie ein Heimkommen in die Gemeinschaft der Singschar.
Das Singen bleibt. Soli Deo Gloria. Und wenn gesungen wird “Tobe Welt und springe”, dann ist das wie ein Labsal für die Seele. Das möchte ich singen bis zu den Chören der Engel dereinst im Lichte der Ewigkeit.
Johannes Haak Anno Domini 2025
Superintendent a.D.
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