Wir müssen raus in die normale Welt

Johann Schneider im Luthergarten in Wittenberg, einem Lieblingsplatz – im Hintergrund der Turm der Schlosskirche | Foto: Thomas Klitzsch
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  • Johann Schneider im Luthergarten in Wittenberg, einem Lieblingsplatz – im Hintergrund der Turm der Schlosskirche
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Reformationssommer in Mitteldeutschland: Über enttäuschte Erwartungen, Christsein in einer konfessionsfreien Welt, die Lust am Streit und das schwierige Gefühl der Heimat sprach Propst Johann Schneider, Regionalbischof von Halle-Wittenberg, mit Katja Schmidtke.

Wir treffen uns nicht in Halle, wo Ihr Büro ist, sondern in Wittenberg, wo in diesem Jahr die Musik spielt. Sie spielt ziemlich laut, aber vor weniger Publikum als erwartet.
Schneider:
Auf den ersten Blick stimmt das, aber wir müssen genau hinsehen. Die Gottesdienste in der Stadtkirche und in der Schlosskirche sind sehr gut besucht. Die Herausforderung, die ich sehe: Die Gruppen, die die Stadt besuchen, haben in der Regel ihr eigenes Programm und für zusätzliche Aktivitäten kaum Zeit. Einige Veranstaltungen sind gut besucht, einige werden kaum wahrgenommen.
Wir werden mit den enttäuschten Erwartungen klarkommen müssen, gerade bei Menschen, die von weither kommen, sich ehrenamtlich beteiligen oder ihren Urlaub einbringen. Da bleibt eine Spannung. Ein gutes Beispiel: Ich war auf einer nicht gut besuchten Veranstaltung, der Wind wehte, und eine Teilnehmerin schlug vor, nach drinnen zu gehen. Das ist eine typische Reaktion in der Kirche.

Wie meinen Sie das?
Schneider:
Wir ziehen uns in geschützte Räume zurück. Natürlich verlieren sich 15 Menschen auf einer Bühne mit 250 Plätzen. Aber all diese Formate auf der Weltausstellung sind doch eine gute Übung. Wir müssen als Kirche raus aus den Kirchenräumen auf die Marktplätze. Das ist auch die Quintessenz der Kirchentage auf dem Weg – bei aller Kritik. Dieses Hinausgehen in die normale Welt ist die zentrale Handlung.

Hinaus in die normale Welt – wir und die anderen? Woher kommt diese Trennung?
Schneider:
Was ich in fünf Jahren als Propst gelernt habe: Die konfessionslose Kultur bestimmt das Denken und tabuisiert subtil den Glauben. Glauben spielt einfach keine Rolle, er ist vollkommen irrelevant. Menschen verhalten sich wie religiöse Analphabeten. Wer glaubt, zieht sich in die Kirche zurück, weil er dort Menschen trifft, die ähnlich denken. Es erfordert einen Kraftakt, hinauszugehen.
So wie in Tröglitz: Nach dem Brandanschlag auf die geplante Flüchtlingsunterkunft bat mich ein Gemeindekirchenrat, zum Friedensgebet zu kommen, die Stimmung war wie gelähmt. Ich legte den Bibelvers aus, dass Gott uns nicht einen Geist der Furcht, sondern der Kraft, Zuversicht, Hoffnung gegeben hat und wollte den Gottesdienst mit einem Vaterunser, einer Segensbitte vor dem ausgebrannten Haus abschließen. Das war ganz schwer durchzusetzen. »Was sollen wir da machen?«, lautete die Gegenfrage. Einfach gehen, sich als Christ zeigen, singen und beten. Wir taten es und die Leute aus der Schrebergartensiedlung gegenüber standen am Zaun und guckten uns zu. Eine typische Situation.

Es ist ungewöhnlich, wenn Christen öffentlich zusammenkommen?
Schneider:
Es ist in dieser konfessionsfreien Welt seltsam, sich öffentlich zu treffen und etwas gemeinsam zu tun. Nach 1990 haben wir einen Schub von Individualisierung und Vereinzelung erlebt, in Ost wie West, sodass Gemeinschaftliches erst einmal verdächtig ist. Aber wir wollen die Botschaft, an die wir glauben, teilen. Und das gelingt aus meiner Sicht nur, wenn Menschen sich begegnen.

Als Regionalbischof begegnen Sie den Menschen. Wir haben das Gefühl, gerade bei heißen Themen klaffen die Meinungen zwischen Kirchenvolk und Kirchenleitung auseinander.
Schneider:
Ich denke an den Trägerverein des Schlosses Mansfeld, der in die Kritik geraten war. Der Verein hatte der Stadt die Vermietung eines Raumes im Schloss, das die Stadt Mansfeld als Standesamt nutzte, gekündigt. Es gab Streit um die Eintragung einer Lebenspartnerschaft und die anschließende Feier auf Schloss Mansfeld. Wir dürfen bei unserem Urteil nicht außer Acht lassen: Das sind alles engagierte Ehrenamtliche, sie legen die Grundlage unseres Glaubens, die Bibel, in einer gewissen Weise aus, und diese Auslegung entspricht manchmal nicht den Trends der theologischen Forschung. Es ist eine traditionelle Auslegung, besonders bei heißen Themen wie Homosexualität, Familie, Ehe.
Wir Theologen müssen uns prüfen, wie schnell wir mit unserer Position anderen sagen wollen, was geht und was nicht. Mir ist bei der Moderation in Mansfeld aufgefallen, dass auch ich schnell ein Korrektiv im Kopf habe, »nein, so kann man das nicht auslegen«. Aber wir sind gemeinsam Hörer des Wortes. Wir ringen um die Wahrheit, sie ist nichts Statisches.

Wie ging es in Mansfeld weiter?
Schneider:
Die Mitgliederversammlung hat die Kündigung zurückgenommen, aber man muss da sehr genau hinschauen. Der Vorstand hat nicht unverantwortlich gehandelt, die Mitgliederversammlung hat ihm weiterhin ihr Vertrauen geschenkt. Ergebnis des Gesprächs: Das Standesamt kann dort wieder Eintragungen gleichgeschlechtlicher Paare vornehmen. Ich bin dankbar für eine friedliche, zivilisierte Auseinandersetzung mit dem Standesamt und auch im Verein.

Wir streiten viel, aber oft unsachlich. Ich denke an all die Debatten um die AfD, an Tröglitz und Schnellroda.
Schneider:
Uns fehlen hier die öffentlichen Räume. Wo treffen wir andere Menschen, Menschen außerhalb unserer Kreise? Außerdem ist ein Verlust an zivilisierter Gesprächskultur festzustellen. Es gehört ein Maß an Zuhörenwollen und Ertragen, dass der andere eine andere Meinung hat, dazu. Wir sind als Kirche – und da nehme ich mich nicht aus – sehr schnell bei einem Urteil. Gerade in politischen Fragen formulieren wir schnell einen moralischen Anspruch.
Ich bin kein Freund von Appellen. Ich mag nicht moralisieren. Wenn Sie in einem sozialistischen Schulsystem aufwachsen, haben Sie genug Appelle gehört. Das wunderbarste Geschenk ist doch, dass wir frei denken und frei reden können.
Zu Schnellroda: Ich bin sehr dankbar, dass die Pfarrerin zuversichtlich und fröhlich ihren Dienst tut. Sie ist eine unbefangene Christin, kommt aus einem völlig säkularen Elternhaus, sie ist so normal, sie passt ganz genau da hin. Und sie hat die Gabe, mit allen zu reden, die ihr zuhören wollen.
Sie trafen während Ihrer Studienzeit in Erlangen auf Fairy von Lilienfeld, eine Theologin des Katechetischen Oberseminars Naumburg, die die DDR verlassen durfte und in Bayern die erste Theologin und ordinierte Pfarrerin war. Was haben Sie von ihr gelernt?
Schneider: Ich habe bei ihr viel gelernt. Menschlich und inhaltlich. Menschlich verdanke ich ihr zum Beispiel den Impuls, als junger Vater und an der Endstation meiner Promotionsarbeit den Fernseher abzuschaffen. Und im ökumenischen Gespräch, dass es hilft, die Position des Gesprächspartners sehr gut zu kennen. Fairy kannte die theologischen Grundlagen der Orthodoxie oft besser als die orthodoxen Theologen.

Teilten Sie mit ihr die Erfahrung, in einem anderen Land neu anzufangen?
Schneider:
Ja. Sie sagte: »Lieber Herr Schneider, es wartet hier niemand auf Sie – aber es ist trotzdem gut, dass Sie hier sind.« Das lässt sich auf heute übertragen, egal ob Sie aus einem fremden Land kommen oder in eine neue Stadt ziehen. In der Regel wartet niemand auf Sie. Sie müssen selbst auf die Menschen zugehen. Das habe ich auch den Stipendiaten geraten, mit denen ich durch meine Arbeit an der Universität und später für die EKD zu tun hatte. Deutschland ist eine geschlossene Gesellschaft, und die Kirche gleich noch einmal. Die Aufgabe ist es, selbst die Kirchentür aufzumachen.

Welche Tür haben Sie aufgestoßen, als Sie 1985 von Siebenbürgen nach Würzburg gekommen sind?
Schneider:
Ich habe es in der Kirchengemeinde versucht, das war nicht leicht. Wir waren Exoten. Ich suchte mir einen Studentenkreis, obwohl ich noch kein Student war; ich musste ja in Deutschland mein Abitur zum zweiten Mal ablegen. Das Studium war dann das Tor, um Menschen wirklich kennenzulernen. Ich habe aber auch in dieser Zeit oft gespürt, mein Leben, meine Geschichte haben für die anderen etwas Fremdes. Ich habe gelernt, wo ich etwas über mich erzählen kann und wo nicht.

Haben Sie das Gefühl, Ihre Heimat verloren zu haben?
Schneider:
Verloren – nein. Wir sind zwar schweren Herzens gegangen, aber kurioserweise haben uns die Jugendlichen aus der DDR ermutigt. Sie sagten: »Christus geht mit euch.«
Verloren – ja. Das waren die Freunde, der persönliche Umgang, die vertraute Umgebung. Aber ich bin inzwischen fast jedes Jahr in Rumänien, und so ist es mir nicht verloren gegangen. Das Gefühl der Heimat hat sich verlagert in die Sprache.
Was ist für mich Heimat? Es ist die Vielfalt der Sprachen: Siebenbürgisch-Sächsisch, Ungarisch, Rumänisch, und es ist auch das Miteinander. Sie werden es nicht glauben, aber wenn ich in Halle bettelnde Roma treffe, fühle ich mich nicht unbehaglich. Wir kommen miteinander ins Gespräch.
Die Emigration war ein ungemeiner Zuwachs an Freiheit. Frei zu sagen, was ich denke, nicht zu unterscheiden, was ich privat und öffentlich sagen kann, und zu kritisieren. Ich kann an Texten kritisieren, ich kann sogar die Kirche kritisieren – und bleibe dennoch drin. Das ist doch wunderbar!

»Reformation geht weiter«, heißt ein EKM-Slogan. Was heißt das für Sie?
Schneider:
Ich hadere etwas damit, weil der Slogan etwas Appellatives hat. Was heißt das für mich – »Reformation geht weiter«? Dass wir die Offenheit zu einem kritischen Streit innerhalb der Kirchen brauchen. Ich sehe diese Bereitschaft noch nicht, auch nicht in unserer Kirche. Unsere Synode streitet aus meiner Sicht viel zu wenig über kon­troverse Themen im Licht der Schrift.
»Reformation geht weiter« heißt für mich: Mut zu klaren Aussagen, zu einem Bekenntnis, das herausfordert, aber nicht abstößt, sondern einlädt, und dass wir das, was wir teilen, in einer freundlichen Weise mitteilen und mit der Ablehnung, die wir auch erfahren, umgehen lernen.
Aber der Slogan ist für Kirchenleute. Fragen Sie Menschen auf dem Wittenberger Markt dazu, greifen diese sich wahrscheinlich an die Stirn: Oh Gott, kommen die nächstes Jahr alle wieder? Es wird sich zeigen, welche Wirkung dieses Jubiläumsjahr über Wittenberg hinaus hat. Es wird auch kritische Fragen geben, natürlich. All der Aufwand. Aber es ist eine große Chance für die mitteldeutsche Kirche.

Johann Schneider im Luthergarten in Wittenberg, einem Lieblingsplatz – im Hintergrund der Turm der Schlosskirche | Foto: Thomas Klitzsch
Autor:

Adrienne Uebbing

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