Berichtet
Corona und der heilige Daumen

Schlosskirche Wittenberg: Hier legte Friedrich der Weise ab 1503 eine Reliquiensammlung an –eine der größten nörd-lich der Alpen. | Foto: epd-bild/Jens Schlüter
  • Schlosskirche Wittenberg: Hier legte Friedrich der Weise ab 1503 eine Reliquiensammlung an –eine der größten nörd-lich der Alpen.
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Es gibt Namen, die sich zu bestimmten Zeiten mit sehr unterschiedlichen Bedeutungen verbinden lassen. Unter dem lateinischen Namen Corona verbirgt sich eine eigentlich anonyme frühchristliche Märtyrerin. Der Begriff meint die Krone oder den Siegeskranz der Märtyrer. Weil die „Krone“ ihres Namens mit Geld in Verbindung gebracht werden kann, wurde die Heilige Corona in finanziellen Fragen angerufen. So versuchten Schatzgräber im 17. und 18. Jahrhundert, mithilfe von Corona-Gebeten verborgenen Schätzen näherzukommen.
2020 legte der Name der Heiligen einen Zusammenhang mit dem Corona-Virus nahe, das seine Bezeichnung der „Krone“ aus Spike-Proteinen auf seiner Oberfläche verdankt. Zahlreiche Kirchen entdeckten in der Folge ihre Skulpturen oder Reliquien der Heiligen Corona wieder.
Das Wittenberger Heiltum, die Reliquiensammlung Friedrichs des Weisen, zu Beginn des 16. Jahrhunderts eine der größten Sammlungen ihrer Art nördlich der Alpen, kann bei dieser Corona-Renaissance nicht zurückstehen. Hier befand sich nämlich der rechte Daumen der Heiligen. Der Weg dieser Reliquie nach Wittenberg lässt sich nachverfolgen: Friedrich der Weise erhielt die Reliquie 1502 als Geschenk seiner Tante Hedwig, der Äbtissin des Quedlinburger Reichsstifts. Dort waren Corona-Reliquien seit Jahrhunderten vertreten. Kaiser Otto I. hatte sie 964 dem Stift, das erst wenige Jahrzehnte zuvor als Grablege und Memorialort seines Vaters Heinrichs I. gegründet worden war, geschenkt. Der Quedlinburger Domschatz besitzt noch heute einen Corona-Schrein, der allerdings erst aus dem 15. Jahrhundert stammt.
Hedwig von Sachsen, Tochter Kurfürst Friedrichs II., war 1458 im Alter von zwölf Jahren zur Äbtissin gewählt worden. Das einst so bedeutende Reichsstift Quedlinburg befand sich zu dieser Zeit in einer Phase der Schwäche. Die Stadt Quedlinburg strebte zunehmend nach Unabhängigkeit von der Äbtissin, ihrer Stadtherrin. Die Wahl Hedwigs brachte die Familie der Wettiner ins Spiel, zunächst in Form einer Vormundschaftsregierung durch ihren Vater und nach dessen Tod durch ihre Brüder Ernst und Albrecht. Auch nach dem Ende der Vormundschaft halfen diese ihrer Schwester, die Stadt mit militärischen Mitteln zu unterwerfen. Die Herzöge wiederum gewannen dadurch Zugriff auf ihr Gebiet. Eher zögerlich verlieh Hedwig ihnen 1479 die Vogtei über das Reichsstift, die mit Gerichtsrechten und Einkünften verbunden war. Nach der Leipziger Teilung gingen diese Rechte 1485 an die albertinische Linie. Zu Spannungen kam es nach 1500, als der Albertiner Herzog Georg den Zugriff auf Quedlinburg zu intensivieren versuchte – natürlich gegen den Willen der Äbtissin Hedwig.
Zurück nach Wittenberg: Hedwigs Geschenk der Corona-Reliquie an Friedrich den Weisen fällt genau in die Zeit, als die Äbtissin sich mit wettinischen Zugriffen auf ihren Machtbereich sowohl durch Herzog Georg als auch durch den Magdeburger Erzbischof Ernst, einen Bruder Friedrichs des Weisen, konfrontiert sah. Dass sie Friedrich ein ihm sehr willkommenes Reliquiengeschenk machte und so beim Aufbau seiner Sammlung half, geschah deshalb wohl nicht uneigennützig. Hedwig versuchte anscheinend, die Verbindung zu ihrem ernestinischen Neffen Friedrich zu stärken, um ein Gegengewicht zu den Ansprüchen der anderen Wettiner zu erlangen und den Kurfürsten im Bedarfsfall auf ihrer Seite zu wissen.
Die Heilige Corona wurde dank ihres Namens im Laufe der Jahrhunderte in unterschiedlicher Weise rezipiert. Zunächst dem Namen nach eine Märtyrerin, gab es unterschiedliche Assoziationen – und unterschiedliche Vorstellungen von „Corona-Hilfen“: Ein Blick auf die Heilige und ihre Reliquien zeigt zum einen den Wunsch nach Hilfe der Heiligen in finanziellen Nöten. Zum anderen zeigt ein Blick nach Wittenberg die Corona-Reliquie als Beispiel für eine im Mittelalter sehr gebräuchliche Art von „Geschenk-Politik“. In diesem Fall war die Gabe wohl unabhängig von der konkreten Heiligen; eher dürfte die Reliquie durch ihre einstmals königliche Schenkung besonderen Wert gehabt haben. Äbtissin Hedwig von Sachsen erwartete im Gegenzug für das Geschenk von Friedrich dem Weisen Hilfe gegen politische Ansprüche und Einmischungsversuche anderer Wettiner. Eine „Corona-Hilfe“ über den Umweg der weltlichen Politik also. Wer heute die Heilige um ihre Hilfe anrufen möchte, wird in Wittenberg freilich nicht mehr fündig – das Heiltum wurde kurz nach dem Tod Friedrichs des Weisen aufgelöst.
Johanna Liedke

Die Autorin ist Doktorandin am Institut für Kirchengeschichte in Leipzig.

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