DAS VOLKSFEST
EIN VERDACHT

- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
„Er hatte nie den Atem”, sagten die einen, und „er hatte auch nie den Mut”, sagten die anderen, und noch ganz andere sagten wieder, er habe „nur nie die Geduld gehabt, ein Leben lang denselben Irrsinn zu studieren, der einem aufoktroyiert wird, wenn man Theologie studiert”, im Übrigen sei er von vornherein nicht geeignet gewesen, ein Theologe zu werden, nicht einmal ein ordinierter Vorabmensch, sondern nur ein armseliger Student der Theologie blieb er, der nichts gelernt habe außer, dass die Menschen verdorben sind, verdorben bis ins letzte ihrer Nerven, ihrer Knochen, ihrer Eingeweide, und dass das, was man Glaube nennt, längst nur noch eine groteske Maske ist, die auf den verunstalteten Gesichtern hängt wie ein billiges Karnevalsutensil. Sagten die Leute.
Was war geschehen? Eines Abends in Thüringen, irgendwo in der Rhön, wie er von der Bibliothek nach Hause wollte, sei er durch Zufall in diese Kirchweihfeier geraten, diese sogenannte Kirchweih, die längst nichts mehr mit Kirche, nichts mehr mit Weih zu tun habe, sondern mit dem äußersten Abgrund der Volksunterhaltung, und er habe gesehen, wie die Würstchen verbrannt wurden, ganze Stapel, und das Fett sei auf die heißen Kohlen gespritzt, und die Leute hätten sich mit gierigen, glühenden Augen auf dieses giftige Zeug gestürzt, das man ihnen darbot wie den Leib Christi höchstselbst, und er habe den billigen Wein gesehen, den sie in sich hineingeschüttet hätten, als wäre er ein Sakrament, und er habe die Ströme von Bier gesehen, die Menschen, die deformiert waren von Geburt an und noch mehr deformiert von der Zeit und von der Arbeit und vom Alkohol und von dem IchWeißNichtWas, und er habe ihre Gesichter gesehen, wie sie verzerrt waren von einer Sehnsucht, die sie selbst nicht verstanden, und er habe sich gedacht: sie wollen das Heil, sie wollen das Heil, aber sie bekommen den Schießbudenmann, sie bekommen den Losbudenbesitzer, sie bekommen die Zuckerwatte und das Karussell, sie bekommen den Betrug, und dieser Betrug sei ihr einziges Evangelium.
Von dieser Nacht an sei er nicht mehr fähig gewesen, weiter zu studieren, weil er nicht mehr die Lügen lernen wollte, die man in den Seminaren auswendig lernt, und weil er nicht mehr den Zynismus ertragen konnte, mit dem die Professoren den Glauben zersetzt hätten mit Hilfe der billig-ätzenden Säuren, die man aus der Kritik der Kritik der Kritik gewinnen kann, wenn man nur lange genug daran herum köchelt, und weil er nicht mehr die Gleichgültigkeit seiner Mitstudenten ertragen konnte, die sich an diesen Zersetzungen weideten, als wäre das die eigentliche Theologie, und so sei er in die Depression gestürzt, die ihn in die Psychiatrie brachte, und dort sei er wieder herausgekommen, zwar nicht gesund, aber entschlossen, und er habe gesagt: Ich schreibe ein Buch, ein einziges Buch, und dieses Buch wird alles sagen, was gesagt werden muss, über das Schöne, das Gute, das Wahre, über die Kirche, die nicht deswegen stirbt, weil die Leute etwa nicht glauben, sondern weil sie etwas glauben wollen und es ihnen nicht gegeben wird, sie dafür aber mit Jahrmarktsbetrug abgespeist werden, bis sie am Erbrochenen dieses Eigenbetrugs ersticken.
Dann habe er auf dem Volksfest lange, viel zu lange, vor dieser grässlichen Geisterbahn gestanden, die kein anderes Ziel gehabt habe, als die Kinder und die Erwachsenen, die noch kindischer als die Kinder seien, zu vergiften mit ihren Masken, mit ihren Teufelsfratzen, mit ihren Dämonengesichtern, mit ihren Zombieantlitzen, die man auf Holzplatten geschmiert und mit grellem Leuchtlack angestrichen habe, damit es den Leuten, die ohnedies schon verschrocken seien, noch tiefer in die Augen und ins Gehirn gefahren sei, und er habe gesehen, wie die Wägen hineingefahren waren, in denen Kinder gesessen hätten, Kinder mit offenen Mündern, schon halb bereit für diesen widerwärtigen Betrug, und als sie hinten wieder herausgekommen seien, hätten sie so ausgesehen wie die Fratzen vorne auf der Geisterbahn, hinkend seien sie herausgekommen, mit blöden, erloschenen Augen, nicht vergeistigt, sondern zu Geistern gemacht, nicht erschrocken, sondern verdorben, nicht belehrt, sondern aus dummem Spaß heraus vernichtet.
Und oben, auf einer hölzernen Galerie, die rings um die Geisterbahn führte, sei eine Gestalt auf und ab geschritten, gelangweilt, mit ausdrucksloser Routine, sie habe die Arme ausgebreitet wie zum Segen, ab und zu, in einer schwarzen Kutte, mitten in der sommerlichen Hitze, als müsste dieser Mann unter der Kutte da oben den Tod spielen, aber er habe nichts gespielt, er habe nichts getan, sein einziges Spiel sei gewesen, gar nichts zu tun, sondern nur auf- und abzuschreiten, mit einem Knochengesicht aus billigem Plastik, mit einer Sense, deren Blatt aus Gummi oder Pappmaché gewesen sei, lächerlich, erbärmlich, und gerade das sei die Krönung gewesen, das sei die vollkommene Perfidie gewesen, der Tod als Karikatur seiner selbst, lächerlich gemacht, entwertet, verkauft für ein paar Eintrittsmünzen.
Aber da sei er beileibe nicht hineingegangen, weil ihm schon sein Vater als Kind gesagt habe: In die Geisterbahn gehen wir nicht, in die Geisterbahn gehen wir niemals hinein, wir haben eine andere Botschaft zu verkünden, wir wollen den Menschen keine Angst machen, wir wollen ihnen nicht den Tod vorführen als lächerliche Attrappe, sondern wir sollen und wollen vom Wahrhaftigen berichten. Und in diesem Moment habe er gedacht, dass das, was dort gespielt werde, nichts anderes sei als die letzte Parodie der Kirche - die, weil sie selbst zur Geisterbahn geworden fast tot sei wie der Mann oben auf der Galerie.
Und das Buch? Ja - dieses Buch habe er geschrieben, fünfzig Jahre lang habe er daran geschrieben, und am Ende seien es siebenhundert Seiten gewesen, die er mit eigenen Händen habe drucken lassen, für das Geld, das er für seine Beerdigung zurückgelegt hatte, und dreitausend Exemplare habe er drucken lassen, und als sie ausgeliefert waren, sei er verhungert, gestorben am eigenen Werk, das ihn vernichtet habe, und die Bücher seien verschickt worden und sie seien zurückgekommen und sie seien in Lagern gelandet und eines Tages seien sie bei einem Ausverkauf auf einem Jahrmarkt verschleudert worden wie Tand, wie Ramsch, und ein einziger Mensch habe ein Exemplar gelesen, ein einziger, und dieser eine habe gesagt: „Der Himmel hat sich mir aufgetan!” Und die anderen zweitausendneunhundertneunundneunzig Exemplare seien auf dem Brocken bei einer Walpurgisnacht verbrannt worden, und die Hexen hätten gejauchzt und die Teufel hätten bedenkliche Gesichter gemacht, weil einige der Seiten in der heißen Luft emporgestiegen seien, und einige seien in ein kleines thüringisches Dorf geweht worden, wo sie von den Bauern und ihren Frauen gelesen worden seien, und diese Leser hätten andere Bedenklichkeiten gehabt, als man sonst in Thüringen zu haben pflegt, und aus diesen Bedenklichkeiten, so habe man gesagt, sei eines Tages, vielleicht in tausend Jahren aber erst, der Weltfrieden hervorgegangen, oder er könne hervorgehen, aber inzwischen sei nur ein Student der Theologie verhungert, an seinem eigenen Glauben, an seinem eigenen Buch, an seiner eigenen Kirchweihvision.
Und so sei es gekommen, dass das einzig Wahre, das er je gesagt habe, in Flammen aufgegangen sei, während Würstchen weiter verbrannt würden überall auf der Welt und die Menschen mit glühenden Augen an den Bierständen stünden …
Autor:Matthias Schollmeyer |
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