Das Christentum
Was es ist und sein könnte

DAS CHRISTLICHE ALS CHANCE ÜBER DAS CHAOS

Es gehört zu den eigentümlichen Kunststücken der Gattung homo sapiens, dass sie sich niemals nur in der gegebenen Wirklichkeit einrichtet, sondern stets nach der verborgenen Gesamtstruktur fragt. Der Mensch, so klein er inmitten der Galaxien steht, tastet sich mit Gedanken und Worten an etwas heran, das sowohl das Allgemeine als auch das Persönliche in einer einzigen Form zu fassen vermag. Dieser tastende Akt ist älter als jede Dogmatik: Er beginnt im Staunen, setzt sich fort im Erzählen, mündet ins Fragen – und verlangt nach einem Ordnungsraum, in dem Antworten nicht nur zufällig, sondern notwendig erscheinen.

Das Christentum ist eine der großen Komplettdarstellungen dessen, was wir Welt nennen. Nicht bloß eine unter vielen mythischen Erzählungen, sondern eine synthetische, alles umspannende Architektur, die Himmel und Erde, Anfang und Ende, Schöpfung und Vollendung in einem Sinnzusammenhang hält. Sein innerer Raum ist kein enges Gewölbe, sondern eine Kuppel, unter der sich die kosmische Weite und die intimste personale Begegnung deckungsgleich begegnen.

Die Religionen der Menschheit – von den Ahnenkulten bis zu den subtilsten mystischen Philosophien – bieten dem Menschen Orientierung. Aber das Christliche tritt mit einer eigentümlichen Behauptung auf: Es sei nicht nur ein Angebot, sondern die eigentliche Deutung des Ganzen, diejenige, in der das Absolute nicht im Nebel verbleibt, sondern in der Gestalt einer Person ansprechbar wird. In dieser Verdichtung – der Gott, der ruft, der antwortet, der leidet, der aufersteht – liegt der Unterschied zu jenen Systemen, die bloß kosmologische Landkarten liefern. Das Christliche liefert nicht nur die Karte, es führt den Wanderer selbst.

Und hier beginnt seine innere Dynamik: Der Einzelne, der zunächst wie jedes Lebewesen den Druck der Triebe, die Schwerkraft der Selbsterhaltung, die Lärmflut des Chaos erfährt, erhält mit dem Evangelium eine Leiter ins Offene. Diese Leiter ist kein billiges Ausstiegsvehikel, kein „spiritueller Aufzug ins Jenseits“, sondern ein Werkzeug der Erkenntnis. Sie besteht aus Grundgedanken – so einfach wie unerschütterlich –, an denen sich der Mensch festhalten kann, bis er nicht mehr nur Überlebender, sondern Mitwirkender an der eigenen Verwandlung ist.

Dass diese Grundgedanken nicht beliebig sind, sondern aus der Gestalt Jesu Christi selbst abgeleitet werden, macht sie zu Fixpunkten inmitten des Fluiden. Sie zwingen zur Entscheidung: Will man im Sumpf der tierischen Selbstbezogenheit verharren, oder will man das Wagnis des Aufstiegs eingehen? Wer sich an ihnen festklammert, beginnt, das Niedere zu überwinden – nicht aus moralischer Eitelkeit, sondern weil das Höhere unwiderstehlich wird, wenn man es einmal erkannt hat.

Das Christliche versteht diesen Aufstieg nicht als Selbstoptimierung im modischen Sinn, sondern als Einordnung in das Maß, das dem Menschen als imago Dei zukommt. Man kann und soll darauf stolz sein – nicht im Sinne einer geistlichen Selbstbeweihräucherung, sondern wie jemand stolz auf einen gepflegten Garten ist, den er aus einer verwilderten Brache geschaffen hat. Man pflegt diesen Weg wie man die eigene Frisur pflegt, die Fingernägel ordnet, die Ernährung überdenkt: nicht aus bloßer Äußerlichkeit, sondern weil das Äußere den inneren Entschluss spiegelt.

Das Christentum ist in dieser Perspektive nicht nur eine Religion, sondern eine Schule des Werdens. Es lädt ein, die tägliche Kulturarbeit am Selbst ernst zu nehmen, nicht um sich im Selbst zu verlieren, sondern um über es hinauszuwachsen. Wer diesen Weg geht, zeigt – unaufdringlich, aber unübersehbar –, dass der Mensch nicht nichts bleiben muss. Er kann etwas werden, das den Blick hebt, die Welt als ganze deutet und das Chaos nicht leugnet, sondern ihm eine Form entgegensetzt, die Bestand hat.

Das Christliche ist darum – vielleicht wie kein anderes System – der Ort, an dem der Mensch das Chaos nicht nur überlebt, sondern es übersteigt. Und dieser Überstieg ist kein Luxus, sondern das eigentliche Maß seiner Würde.

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer

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