Vierter Dezember
Tag der Heiligen Barbara
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„Margareta mit dem Wurm,
Barbara mit dem Turm,
Katharina mit dem Radl –
das sind die heiligen drei Madl.“
Jeder kennt diesen Spruch. Heute, am 4. Dezember, ist ihr Tag: der Barbaratag. Die frühe Bekennerin selbstbestimmter Eigentlichkeit wurde, so berichtet die Legende zur Peinlichkeit aller Väter, von ihrem eigenen Vater in einen Turm eingeschlossen, weil sie Christus als einzigen Bräutigam erwählt hatte. Zur Entschuldigung des Vaters dürfe man zumindest annehmen, er habe die Tochter gern einem begüterten Prinzen aus heidnischer Sozialisation überantwortet – und ärgerte sich maßlos darüber, dass die holde Maid den Gottessohn vorzog und nicht irgendeinen Firlefanz-Buben aus dem Nachbarreich.
Nur: Der Turm verstärkte ihre Hinwendung zu Christus. Denn Christus, wie uns das Johannesevangelium bezeugt, durchdringt Mauern – und auch väterliche Sympathieverbote. Wo der Vater Grenzen ziehen wollte, brach die Sehnsucht nach oben auf.
Der Legendenkranz um Barbara ist bunt, psychologisch schillernd und von mittelalterlichem Blutdurst durchzogen. Wir nehmen uns hier nur die lehrreich-hellen Blüten zum Vorbild und lassen die dunklen Dornen beiseite, die einst zum literarischen Ton gehörten wie heute das moralpädagogische Grundrauschen in öffentlichen Verlautbarungen.
Barbaras Turm ist eine architektonische Parabel: Ein Vater baut, um zu fixieren – im Raum, im Denken, im Patriarchat. Doch je massiver die Brandmauer, desto poröser wird seine Herrschaft über das renitente Mädchen. Die Tochter richtet ihren Blick nach oben. Und die Kraft der Vertikale hat der Vater unterschätzt. Während er glaubt, sie vor unpassenden Bewerbern – und besonders vor der angeblichen Gottessohn-Phantasterei – abzuschirmen, hat sich der unaufhaltsame Bräutigam bereits durch die Metaphysik geschlichen: Christus, Grenzgänger durch Stein und Ideologie. Der Turm ist also – anders als bei Tellkamp – etwas Positives. Dialektisch gesehen.
Barbara erfindet das frühmittelalterliche WLAN der Transzendenz: ein Notruf, der nicht verstummt. Der Versuch, eine Tochter zu kontrollieren, produziert die Bedingung ihrer Befreiung. Wer einsperrt, wird – so die Ironie der Geschichte – zum Architekten metaphysischer Emanzipation. In die Gegenwart kehrt der Turm in neuen Gestalten zurück: als Smartphone, als Schulranking, als Sicherheitsarchitektur besorgter Eltern. Die Pubertät wirkt wie eine kleine Apokalypse: Aus Kindern werden Nomaden zwischen Welten; ihre Loyalitäten gleiten, der Blick sucht neue Zentren (Clique, Disco, digitale Götzenbilder). Eltern werden zu Turmbaumeistern, die Türen verriegeln und Zugänge kontrollieren, ohne zu bemerken, dass im Inneren längst ein eigener Server göttlicher oder – weitaus häufiger – trivialisierender Inspiration blinkt.
Die entscheidende Frage lautet: Welche innere Fluchtlinie haben wir unseren Kindern mitgegeben, falls die Außenwelt abstürzt? Wer nichts vom Geistigen empfängt, wird Mahlzeit des Marktes. Wer nichts Großes liest, wird vom Kleinen besetzt. Und dieses Kleine hat heute viele Namen: der Depp aus der Nachbardisco, die Talahons im globalisierten Street-Look, die algorithmischen Begehrensmodellierer, die in Sekunden entscheiden wollen, was ein Herz zu begehren hat.
Die heilige Barbara rät uns: Bevor die „böse Welt“ deine Tochter oder deinen Sohn umwirbt, sollte im Innern längst eine Sammlung gewachsen sein – eine Festplatte voller Orientierungspunkte, eine Bibliothek im Herzen. Dann wird die Pubertät nicht zum Bermuda-Dreieck, sondern zur Tiefseeexpedition: gefährlich genug, aber voller Weltöffnungen.
Christus „durchdringt alle Mauern“ – das heißt: die höchste Bindung geht nicht über Gehorsam, sondern über Erkenntnis. Ein Mädchen, das Dostojewski im Kopf hat, wird sich schwerlich mit einem trollhaften Provinz-Helden begnügen. Ein Junge, der Bach hört, wird im Partylärm zwar mittanzen, aber nicht untergehen.
Barbara zeigt: Befreiung beginnt im Denken. Der Turm kann Gefängnis sein – oder Aussichtsplattform. Die Familie kann Schutz sein – oder Verblendungsapparat. Eltern, die lieben, bauen keine Panikarchitektur. Sie errichten kluge Gewissenstürme mit Fenster nach oben. Sie investieren in die vertikale Kompetenz ihrer Kinder:
die Fähigkeit, nicht nur auf die Straße zu schauen, sondern ins Mögliche, ins Höhere. Denn am Ende ist jede Pubertät ein Belagerungszustand der Seele: Wer dann nur Firlefanz-Buben und Konsumprinzessinnen zur Verfügung hat, wird kapitulieren. Wer hingegen mit großen Texten, langen Gedanken und unbeirrbarer Hoffnung vertraut ist, findet einen Geländergriff auf dem Weg ins Freie.
In diesem Sinne bleibt Barbara eine Pädagogin der Zukunft. Ihr wurde der Turm zum Tempel und die Freiheit zur eigenen Entscheidung. Mauern lassen sich einreißen. Türme muss man besteigen. Der Rest ist Interpretation.
Autor:Matthias Schollmeyer |
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