70. Todestag von Thomas Mann
GLADIUS DEI - DIE FORTSETZUNG

- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
Wer kennt sie nicht - die kleine Novelle von Thomas Mann, der heute, am 12. August, seinen 70. Todestag betrachtet? Ich meine die Sache namens GLADIUS DEI (Das Schwert Gottes). Das Ganze spielt im München der Jahrhundertwende. Hauptfigur ist ein gewisser Hieronymus als asketisch wirkender, streng religiöser Mann, der das sinnlich-weltliche Treiben der Kulturmetropole nur noch mit Abscheu wahrnehmen kann. Er ist davon überzeugt, dass Kunst und Religion entweiht werden, wenn sie lasziver Schönheit aber nicht mehr Gott dienen. Unüberbietbar vorgelesen von Gert Westphal - und sehr zur Lektüre hiermit empfohlen.
Als also Hieronymus durch die Straßen Münchens geht, entdeckt er in einem kunstgewerblichen Geschäft ein Marienbild, das nach seiner Meinung zu einer frivolen, geschmacklich verfehlten Schaufensterdekoration entwürdigt wird. Empört betritt er den Laden, spricht den Besitzer Herrn Blütenzweig, an und fordert ihn auf, das Bild zu entfernen. Doch seine leidenschaftliche Rede wirkt auf Blütenzweig eher befremdlich als überzeugend. Hieronymus steigert sich in eine immer heftigere Anklage gegen „falsche Kunst“ und „schlechte Frömmigkeit“, bis der Geschäftsinhaber ihn schließlich hinauswerfen lässt. Die Novelle endet mit Hieronymus’ Rückzug – aber sein Fanatismus bleibt unverändert, und der Leser ahnt, dass seine innere Erregung noch nicht zu Ende ist. Soweit - sogut.
Als Zugabe für die, die von Thomas Mann nicht genug kriegen konnten, ein Versuch darüber, wie die Geschichte hätte weitergehen können - wenn der Dichter es nur gewollt und sein Leben an jenem 12. August nicht geendet hätte. Und - vielleicht schreibt ja jemand unsere Geschichten im Himmel fort, wo doch dort - einem Wort des Meisters Jesus gemäß - bereits alle unsere Namen aufgeschrieben stehen. Hier die Fortsetzung von GLADIUS DEI:
Die Fortsetzung - oder, was sonst noch geschah ...
Am darauffolgenden Sonntag, einem jener Vormittage, da die Glocken Münchens im prangenden Übermut ihrer bronzenen Stimmen das Himmelsgewölbe erschütterten ließen und die frommen Bürger, von der Glorie ihrer Vibration erfasst, in der Vorstellung, dem Ewigen näher zu sein, aus ihren Haustoren traten, erschien Hieronymus wiederum in der Theatinerstraße, an jenem Orte also, wo das Geschäft jenes Herrn Blütenzweig liegt, der, wie Hieronymus wusste, die göttliche Reinheit in den Schmutz des Ästhetizismus zu ziehen sich erkühnt hatte.
Diesmal jedoch trug Hieronymus unter dem Arm nicht, wie bei seinem ersten Besuch, erloschen wortlosen Eifer, sondern, in der Rechten, aufrecht und fest gefasst, einen Knüppel aus schwerem, altgedunkeltem Eichenholz, dessen Maserung, vom langen Schlaf im Wald gehärtet, in ihrer groben Würde wohl einem Streitkolben aus den Tagen der Kreuzzüge zur Ehre gereicht hätte.
Er blieb, als er den Ort erreicht hatte, einen Atemzug lang vor der Schaufensterscheibe stehen, deren Inneres, mit derselben leichtfertigen Grazie arrangiert wie ehedem, ihm entgegen strahlte: silberne Fadengeflechte, Tüchlein in frevelhaftem Blau, und – inmitten dieser weichen Verführungen – das Bildnis der fast nackten Madonna, deren Blick nicht auf den Gläubigen gerichtet war, sondern, lasziv entrückt, in die phantasierte Ferne eines säkularisiert halbseidenen Schönheitsideals.
Da ließ Hieronymus, als bräche in ihm ein Damm, den Knüppel mit solcher Wucht gegen das Glas fahren, dass dieses in tausend blitzenden Splittern wie ein Regen apokalyptischen Lichts in den Auslagenraum stürzte. Unser Mann schritt, die Scherben unter den Sohlen knirschend, hinein, und während er mit dem Eichenholz das Madonnenbild von seinem Sockel schlug, rief er mit heiserem, unaufhaltsamem Atem lateinische Worte, deren Sinn – eine Mischung aus liturgischem Bannspruch und alttestamentlicher Verwünschung – den kleinen Raum zu füllen schien wie ein unsichtbar magisches Feuer.
Er zerfetzte Tücher, zerschlug Vasen, riss Rahmen von den Wänden, wobei er, in einer Art heiligem Rausch, den Knüppel wie eine geweihte Waffe führte. Die wenigen Passanten draußen wichen, zwischen Neugier und Furcht, von der zertrümmerten Front zurück; schon hallten hastige Schritte von der Straßenecke her, und die metallenen Knöpfe mit silbernem Blitzen und ernster Gleichschritt zweier Polizisten kündigten sich an.
„Halt!“, rief der eine – doch Hieronymus, in seiner Ekstase, hörte es nicht, oder hörte es nur wie aus einer sehr großen Ferne. Erst als die Hand des Gesetzes ihn an der Schulter packte, ließ er den Knüppel sinken, atmete schwer, schloss die Augen und ergab sich, fast sanft.
Da führten sie ihn nun hinaus, zwischen den Glocken, die noch immer läuteten, und dem mikroskopisch schwebendem Scherbenstaub, der in der Sonne wie geweihter Rauch noch zu stehen schien. Im Polizeiwagen saß Hieronymus still, die Hände gefaltet, die Stirn feucht, und ein dankbarer Blick, der nach innen gerichtet war, ließ seine Züge leuchten.
Und nun sitzt er in der engen Zelle des Gefängnisses, auf dem schmalen Brett, das sein Lager ist, die Knie einander zugewandt, die Hände im inständigen Gebet gefaltet. Seine Augen glühen, das Herz bebt, und mit jenem Ausdruck, den nur solche haben, die in ihrem eigenen Martyrium eine Erfüllung wittern, schaut er zum vergitterten Fenster hinauf – als sähe er durch das Mauerwerk hindurch in eine Sonne, die nicht von dieser Welt ist.
Münchener Neueste Nachrichten
Montag, 17. Oktober 1910
Bildersturm in der Theatinerstraße – Ein Prozess von seltener Erbauung
Unter nicht geringem Zulauf fand am gestrigen Sonntagvormittag ein Zwischenfall statt, der selbst in unserer an Kuriosa nicht armen Stadt München Aufsehen erregte. In der Theatinerstraße, dort, wo der Antiquitäten- und Kunsthandel des Herrn Blütenzweig seine eleganten Schaufenster unterhält, trat kurz nach zehn Uhr ein gewisser Hieronymus K., seines Zeichens Privatmann unbestimmter Erwerbsquelle, an die Auslage heran, in der wie üblich allerlei kostbare Gegenstände kunstgerechter Schichtung feilgeboten wurden.
Mit sich führte er, zu ebener Hand und von beträchtlicher Solidität, einen Knüppel aus dunklem Eichenholz, dessen martialische Anmutung schon vor der eigentlichen Tat Anlass zu besorgtem Stirnrunzeln gegeben hätte, wäre sie nur rechtzeitig bemerkt worden. Ohne Zögern, und – wie Augenzeugen berichten – unter Ausruf lateinischer Worte, deren kirchliche oder schulische Herkunft die Meinungen spaltete, ließ er das Werkzeug auf die Glasscheibe niederfahren. Diese gab dem Angriff sofort nach und zersprang in einer Art kristallinen Regens, der nicht ohne malerischen Reiz auf die Straße niederging.
Daraufhin drang der Täter in den Verkaufsraum ein, griff zunächst das in der Mitte der Dekoration platzierte Bildnis der Gottesmutter an, das – in geschmackvoller Rahmung – von Seidenstoffen und Silberfäden umgeben war, und beförderte es mit einem weiteren Schlag zu Boden. Sodann zerstörte er mehrere Vasen, Statuetten und Stoffe, während er, noch immer in lateinischer Redeweise, den Sinn seiner Handlung – soweit sich dieser erschloss – in den Kategorien eines selbst empfundenen „heiligen Zorns“ umschrieb.
Die herbeigerufene Polizei beendete das Schauspiel in angemessener Kürze. Herr Hieronymus X. ließ sich widerstandslos festnehmen, wobei er den Knüppel in einer Art ablegte, wie der Priester das Weihrauchfass.
Zurzeit befindet sich der Beschuldigte in Untersuchungshaft. Der Prozess, der in den kommenden Wochen vor dem Landgericht I zur Verhandlung gelangen wird, verspricht von besonderem Interesse zu sein, da sich der Angeklagte nach eigener Aussage in der „direkten und göttlich gebotenen Pflicht“ wähnt, „das Werk der Reinigung“ zu vollziehen.
Man darf gespannt sein, wie das hohe Gericht diesen eigenwilligen Versuch, mittelalterlichen Bildersturm ins Herz der unserer aufgeklärten Zeit zu verpflanzen, rechtlich und sittlich zu würdigen gedenkt. Unsere Zeitung wird über die weitere Entwicklung des Falles berichten.
Münchener Neueste Nachrichten
Freitag, 4. November 1910
Der Fall Hieronymus X. – „Göttlicher Auftrag“ vor weltlichem Gericht
Im großen Schwurgerichtssaal des Landgerichts I fand gestern die Verhandlung gegen den aus einem nicht näher bezeichneten süddeutschen Ort gebürtigen Hieronymus K., 34 Jahre alt, statt, der sich am 9. Oktober d. J. in der Theatinerstraße des Einbruchs, der Sachbeschädigung und der Störung der öffentlichen Ordnung schuldig gemacht haben soll. Der Saal war ungewöhnlich gut besucht, und man sah neben den üblichen Prozessauditoren auch Damen von entschieden kultiviertem Äußeren, die sich vermutlich von einer „interessanten Persönlichkeit“ in der Anklagebank unterhalten zu lassen gedachten.
Das Gericht betrat pünktlich um neun Uhr den Saal. Der Vorsitzende, Landgerichtsrat Dr. Beiner, ein Mann mit der Neigung zu leicht ironisch gekräuselten Mundwinkeln, nahm Platz, die Beisitzer ordneten ihre Akten, der Protokollführer schärfte den Griffel.
Der Angeklagte wurde vorgeführt. Hieronymus K. trug einen schlichten, etwas abgetragenen Anzug, in dessen Brusttasche ein Rosenkranz steckte. Sein Blick war aufrecht, beinahe verklärt; er faltete die Hände, als die Personalien festgestellt wurden.
Der Ankläger, Staatsanwalt Oberregierungsrat Meinunger, verlas die Anklageschrift mit der Nüchternheit eines Mannes, dem es nicht obliegt, metaphysische Begründungen zu würdigen: Zerstörung einer Schaufensterscheibe, Vernichtung mehrerer im Gesamtwert von 480 Mark taxierter Ausstellungsgegenstände, tätlicher Angriff auf ein Bildnis der Gottesmutter – dies letztere mit der bemerkenswerten Bemerkung, dass das Heilige Bild nach Aussage des Täters „befreit“ und nicht „zerstört“ worden sei.
Die Einlassung des Angeklagten
Auf die Frage des Vorsitzenden, ob er die Taten einräume, antwortete Hieronymus, er räume nicht „ein“, er „bekenne“. Er habe im Gebet den klaren Auftrag erhalten, „den Greuel aus dem Hause sogenannter Schönheiten zu entfernen“. Die Schaufensterdekoration sei „verwerfliche Kunstvertaubung“, das Madonnenbild „in die Gefangenschaft fleischlicher Farben gezwungen“ gewesen. Sein Werkzeug, der Knüppel aus Eichenholz, sei „eine geweihte Waffe“, die ihm „vom Wald selbst, in der Nacht vor dem Angriff, anvertraut“ worden sei.
Zwischenrufe und Heiterkeit
An dieser Stelle konnte sich der Vorsitzende ein kurzes Hüsteln nicht verkneifen, worauf im Publikum ein unterdrücktes Lachen lief. Der Staatsanwalt wies kühl darauf hin, dass der Wald in Bayern seit der letzten Forstreform nicht als rechtmäßiger Waffenhändler gelten könne.
Zeugenaussagen
Mehrere Passanten sagten aus, sie hätten den Angeklagten „wie im Rausch“ handeln sehen. Ein Herr erklärte, die lateinischen Worte seien „halbverständlich“ gewesen; er meine, etwas wie percutiam et liberabo gehört zu haben. Der Verteidiger, Rechtsanwalt Dr. Freistätter, bemerkte hier trocken, dass sein Mandant immerhin eine klassische Bildung erkennen lasse.
Das Schlusswort
Hieronymus erhob sich, faltete die Hände und erklärte, er fürchte kein Urteil. Sollte er in Gefangenschaft bleiben, so sei dies nur „die Zelle in einem himmlischen Kloster“. Er sehe sich als Werkzeug, nicht als Täter, und werde „nach Kräften fortfahren, den Auftrag zu erfüllen, sobald Gott ihn wieder auf die Straße entlasse“.
Das Urteil
Das Gericht verurteilte Hieronymus zu sechs Monaten Gefängnis, wobei die Untersuchungshaft angerechnet wird. Der Vorsitzende sprach die Hoffnung aus, dass der Angeklagte die Zeit nutzen möge, „um zu bedenken, dass auch göttliche Aufträge, so sie irdische Scherben hinterlassen, in weltlichen Bahnen zu verantworten sind“. Beim Abführen nickte Hieronymus gelassen – als habe er gerade nicht Strafe, sondern Bestätigung empfangen.
Münchner Feuilleton
Sonntag, 14. Mai 1966
Hieronymus X. – Der Bilderstürmer der Theatinerstraße
Mit dem leisen Glockenton, der an diesem Donnerstag über den Alten Südfriedhof zog, endete das irdische Dasein einer Gestalt, die zu den merkwürdigsten Auswüchsen im ohnehin nicht kargen Blumenstrauß Münchner Lokalgeschichte gerechnet werden darf. Hieronymus K., den die Älteren von uns vielleicht noch als „Bilderstürmer der Theatinerstraße“ in Erinnerung haben, verschied im Alter von 80 Jahren in einem kleinen, von den Franziskanern betriebenen Hospiz am Stadtrand.
Es war an einem Oktobersonntag des Jahres 1910, als er, ein unscheinbarer Mann mittlerer Größe, doch mit einem Blick von jener glühenden Intensität, wie man ihn sonst nur bei Straßenpredigern oder sehr eifrigen Schachspielern findet, mit einem Knüppel aus schwerer Eiche das Schaufenster des Kunst- und Antiquitätenhandels Blütenzweig zerschlug, um – wie er vor Gericht sagte – „die Madonna aus den Fesseln einer frevelhaften Dekoration zu befreien“.
Die damalige Tat, in der nüchternen Sprache der Polizei eine „Sachbeschädigung in Tateinheit mit Einbruch und grobem Unfug“, hatte das Zeug, binnen Tagen stadtbekannt zu werden. Münchner Gesellschaftsdamen tuschelten in den Salons, ob das nicht eine besonders radikale Form der Kunstkritik sei; Studenten hielten im Wirtshaus hitzige Debatten über die Grenze zwischen Frömmigkeit und Vandalismus; die Presse schrieb in jenem wohligen Ton, der Skandal und Moralpredigt zu einer gemeinsamen Sache vereint.
Der Prozess brachte Hieronymus zu sechs Monaten Gefängnis, die er – wie mehrere Wärter später bestätigten – „in stiller Freude und anhaltendem Gebet“ verbrachte. Danach lebte er zurückgezogen, stets in bescheidenen Zimmern, häufig in der Nähe einer Kirche, gelegentlich in Gesellschaft von Büchern, deren Titel er abdeckte, um „die Versuchung des bloßen Scheins“ zu meiden.
Und doch blieb er in den Chroniken unserer Stadt verzeichnet, die ihre Sonderlinge wohlwollend pflegt. Man sah ihn noch bis in die letzten Jahre, mit gefalteten Händen, die Theatinerstraße entlanggehen, als patrouilliere er in Gedanken um jenen Tatort, an dem seine Legende geboren wurde. Wer ihn kannte, berichtet von einer Sanftheit im Umgang, die im grellsten Widerspruch stand zu jener eruptiven Gewalt des Oktobermorgens 1910.
Nun ist er, wie es heißt, in einem friedlichen Schlaf hinübergegangen. Ob er am Ort seiner jetzigen Bestimmung noch einmal vor einer Madonna stehen wird – und ob er sie diesmal, statt zu befreien, einfach betrachten kann –, das liegt nicht in unserer Hand. Sicher ist nur, dass er, der seinen Knüppel „geweiht“ nannte, in den Gassen dieser Stadt einen kleinen, nicht zu verwechselnden Platz behauptet.
Und hier nun der letzte Brief des alten Hieronymus aus dem Franziskanerhospiz an den Richter seines Prozesses von 1910 – halb Bekenntnis, halb Rechtfertigung, halb stille Selbstinszenierung.
Hospiz St. Clara, am Rande der Stadt
An den Herrn Landgerichtsrat Dr. B., München
Hochzuverehrender Herr,
es mag Sie befremden, nach so vielen Jahren eine Zeile von jenem Mann zu erhalten, der vor Ihrem Gericht stand, den Sie zu sechs Monaten Gefängnis verurteilten und von dem man, wie ich höre, heute nur noch in Randspalten alter Zeitungen liest. Ich schreibe Ihnen nicht, um Ihr Urteil anzufechten – das ist längst gesprochen und, wie alle weltlichen Urteile, dem milden Vergessen anheimgefallen.
Ich schreibe, um zu sagen, dass ich, alt und schwach, nunmehr ohne Knüppel und ohne Feindbild, nicht einen Augenblick bereue von dem, was ich an jenem Oktobermorgen tat. Sie haben damals, mit der kühlen Klarheit des Richters, gesagt, auch göttliche Aufträge seien zu verantworten, wenn sie Scherben hinterlassen. Ich weiß heute: Scherben können segensreicher sein als unversehrtes Glas, wenn in ihnen das falsche Bild zerschlagen ward.
Meine Hände sind jetzt dünn wie trockene Weidenzweige, Herr Rat. Ich kann keinen Schlag mehr führen. Doch wenn ich in der Nacht aufwache und das ferne Läuten einer Kirchenglocke höre, sehe ich noch die Splitter fliegen wie Funken aus einer unsichtbaren Esse, an der die Reinheit dessen geschmiedet wird, was wir Menschen seit unvordenklichen Zeiten Wahrheit heißen.
Ich habe seit jenem Tag viele Madonnen gesehen. Manche aus Holz, manche aus Stein, manche aus Fleisch und Blut, wenn Sie verstehen. Keine habe ich mehr angetastet. Aber alle habe ich mit dem Blick geprüft, ob sie frei sind oder gefangen in Ornament und Verbrechen dieser Welt. Und wenn sie gefangen waren, habe ich in meinem Herzen den Knüppel erhoben – und das genügte.
Ich weiß nicht, ob ich den kommenden Winter noch überlebe. Die Brüder hier sind gütig, die Suppe nicht zu dünn, das Bett hart – jedoch mein Herz ist leicht. Sollte es sein, dass auch am Jüngsten Tag ein Gerichtshof bereitsteht, so hoffe ich, dass mein Richter dort droben ein Ohr für das lateinische Murmeln eines alten Mannes hat, der stets nur eines wollte: reinigen, nicht zerstören.
Mit verbindlicher Hochachtung
Hieronymus X.
Zum Beschluss die Randnotiz des Richters – knapp, sachlich, mit jenem trockenen, leicht ironischen Unterton, der andeutet, dass hinter der Robe doch ein Mensch sitzt, der sich an den „Fall Hieronymus“ noch lebhaft erinnert.
Randbemerkung in Bleistift auf dem Umschlag des Briefes, gefunden im Nachlass von Landgerichtsrat Dr. Beiner
„Ja, ich erinnere mich an diesen Mann. Die Sache mit dem Knüppel und der Madonna – Theatinerstraße, Oktober 1910 – war der farbigste Fall meiner frühen Amtsjahre. Er war kein gewöhnlicher Rowdy. In seinem Blick lag eine Inbrunst, die man sonst eher bei Märtyrerbildern in Kirchen findet, und doch war er im Grunde ein Sonderling, der seinen persönlichen Kreuzzug gegen eine Schaufensterdekoration führte.
Der Brief rührt mich, obgleich er in der Sprache eines Mannes geschrieben ist, der die Welt weiterhin in heil und unheil teilt, ohne das Grau dazwischen zu dulden.
Ich nehme an, er ist auf seine Weise im Reinen mit sich. Das ist mehr, als man von den meisten Angeklagten sagen kann, die mir seither vorgeführt wurden.“
B.
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