Vorausblick auf ...
... den Israelsonntag

Es gibt Ideen, die scheinen so alt zu sein, als hätte die Welt sie nicht selber erfunden, sondern irgendwie geerbt – aus einer urgrauen Vorzeit, in welcher die Mythen als amtliche Verlautbarungen Gottes kursierten. Eine dieser Ideen ist die Vorstellung, dass das eigene Volk „erwählt“ sei. Der psychologische Nutzen dieser Idee ist offensichtlich - er dient der inneren Thermoregulation der eigenen Gemeinschaft. Man wärmt sich an der Gewissheit auf, etwas Besonderes zu sein, und kühlt zugleich die Zweifel herunter, durch welche jede Nation heimgesucht wird, wenn sie sich mit ihren Nachbarn vergleicht. Der Erwählungsgedanke gleicht einer tragbaren Energiequelle, die sich in Zeiten von Bedrohung, Exil oder Vernichtung aus der Tasche ziehen lässt: „Wer von Gott auserwählt wurde, kann nicht endgültig verloren sein.”
Freilich ist die Vorstellung, Gott habe eine bevorzugte Volksliste im Sinne gehabt, fragwürdig. Wer schon wollte sich in die Privatkorrespondenz des HERRN einhacken? Dass Menschen solche Dokumente gern selbst formulieren und mit göttlichem Briefkopf versehen, hat die Geschichte oft gezeigt.

Am kommenden Israelsonntag (24.8.2025) steht die Frage im Raum: Kann man den Staat Israel kritisieren, ohne damit in die Falle des Antijudaismus zu tappen? Jede Bemerkung zum Thema steht ja zugleich im Licht des gegenwärtig extrem verschärften Nahostkonflikts und auch immer im Schatten der bekannten Verbrechen des 20. Jahrhunderts. Kritik wird also zu einer Art Spagat zwischen vorsichtigem Verstummen und rabiatem Tabubruch. Israel ist so mit das einzige Land, dessen Existenzrecht zugleich sakralisiert und politisiert wird. Sakralisiert durch die lange und kulturbildende biblische Legitimationslinie, politisiert durch die harten Realitäten, in der jede moderne Staatsführung zwangsweise geopolitisch eingespannt bleibt. Die Kunst läge also darin, Israel die volle erwachsene Anerkennung zu geben – aber dazu gehört auch, den Staat wie jeden anderen Staat kritisieren zu dürfen, wo das angemessen ist. Hier könnte der kommende Sonntag eine besondere Aufgabe haben - genau diesen Unterscheidungsgeist zu üben. Historie samt ihren literarischen Phantasien über angeblich geschehende Urgeschichten bleiben natürlich immer besonders reizvolle Lektionen, aber der gleichzeitige Mut zur präzisen Gegenwartsanalyse darf sich nicht in Schweigen verwandeln.

„‚Wen hätte ich je erwählt, dass er sich brüsten solle? Habe ich nicht Himmel und Erde geschaffen, und alle, die darauf wohnen, sind mir Kinder? Warum rühmt ihr euch, als hättet ihr eine Geheimbotschaft von meinem Thron? Wahrlich - ich habe keine Lieblinge unter den Völkern. Ich habe Augen, die die Gerechten erkennen – und Ohren, die das Schreien der Unschuldigen hören. Wer erwählt sein will, der sei erwählt zum Dienen, nicht zum Herrschen‘ spricht der HERR.”

So etwa klänge die Stimme Gottes, wenn man den alten Erwählungsgedanken aus dem Bereich religiöser Autoimmunisierung in den Bereich politischer Verantwortung verschöbe. Eine Zumutung … Vielleicht aber läge in dieser Zumutung ein Weg, den gesamten vorderen Orient irgendwann doch zu befrieden. Denn wer gelernt hat, über Jahrtausende unter Druck nicht nur zu überleben, sondern zu schaffen wie das jüdische Volk, der könnte – nicht durch phantasierten göttlichen Alleinauftrag, aber durch erwiesen historische Kompetenz – das gesamte dortige Konfliktgebiet auf ein Niveau heben, das weder Panzer noch Prophetenworte je haben erreichen können.

Autor:

Matthias Schollmeyer

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