die Rückfahrt am Freitag, den 6. September 2024
Leberecht Gottlieb (64)

64. Kapitel, das uns nach Jerusalem führt, um uns sehen zu lassen, wie Leberecht Gottlieb unbedingt selber auch einen Heroldsstab besitzen möchte. Wie er plant, von Jerusalem aus in südliche Richtung zum imaginären Kloster der Rambertimönche aufzubrechen, vorher aber noch eine Predigt halten wird ...

Sanft wird Leberecht Gottlieb in dem alten grauen Mercedes des Onkels von Badyia Badavi zurück nach Kairo geschaukelt. Der alte Geistliche liest die sieben Stunden Fahrt über in dem ihm von Beritha Kronmann überlassenen Original des Lapis-Buches. Langsam kommt er dahinter, was dieses Buch beinhaltet, von dem er damals im Studium und dann in Dresden nur einige stümperhafte Teilabschriften kennen gelernt hatte. Dieses Buch hatte es wahrhaftig in sich. Nichts weniger als eine sehr genaue Beschreibung darüber, wie man sich mit sehr einfachen Mitteln einen  Meta-Sextanten herstellen konnte. Ein solches Navigations-Gerät - der Leser verzeihe uns an dieser Stelle das technische Wort Meta-Sextant - besteht aus einem bloßen Holzstecken, der ungefähr die Körperlänge seines Besitzers haben soll und auf dem in bestimmten Abständen sieben Kerben eingeschnitten werden. Der fertige Stecken wird zur Peilung hinaus in die Landschaft benutzt, um da draußen Pfade zu finden und zu gehen, welche fast immer abseits der bereits vorhandenen Straßen und Wege bestehen. Der Stab dient weiterhin dazu, Ortspunkte anzupeilen, welche dann aufgesucht werden können und müssen, wenn die Ereignisdichte von Geschehnissen ausfindig zu machen ist, welches einem dann dabei helfen wird, jene Dinge und Zusammenhänge zu ergründen, an denen sich das gegenwärtige Thema des Fragenden und Suchenden in Form von Ereignissen löst. Sozusagen ist dieser Stab eine Wünschelrute nicht nur für Wasseradern, sondern für Sinnadern und deren Deutung. Dieser Stab, über den einem gewissen Uschmann von Samuel Amadeus Dankreither in verschiedenen Briefen mitgeteilt wird, ist so etwas wie ein tragbares Orakel. Man braucht also keine Höhle mehr, keine Erdspalte, aus der berauschende Dämpfe aufsteigen. Sondern so, wie der Seefahrer mit dem Sextanten auf dem Meer Orientierung findet, so entdeckt der Besitzer des Heroldsstabes Orientierung in den überzeitlichen Feldern des Sinns, welcher sich in jeweiligen Ereignissen zeigt. Ein mantischer Sextant also - oder so ähnlich.

Während der Mercedes Abdullahs über die Wüstenpiste schlingert und aus dem alten Kurzwellensender des verlässlichen Diesel-Automobils die üblichen Gesänge des orientalischen Freitagsgebets mal stärker mal schwächer mit kosmischem Pfeifen untermalt erklingen, dringt Leberecht immer tiefer ein in die Beschreibung der hohen Wissenschaft vom provozierten Sinn und seiner dinglichen Entäußerung - und ist davon fasziniert. So einen Stab will er unbedingt auch besitzen. Und deshalb prägt er sich genau ein, wie ein solches Instrument zu konstruieren wäre. Erstens braucht man also einen Stab. Aber - noch mehr erst einmal das neue SmartPhone mit einer App, die die Planeten berechnen kann. Und zwar deren Stand im Tierkreis bis hinunter auf dreitausend Jahre vor der Zeit - und hinauf zu fünftausend nach Christi Geburt. Die US-NASA-Ephemeride ist Gott sei Dank in allen besseren Berechnungsprogrammen seit Jahrzehnten implementiert. Da macht Leberecht sich keine Sorgen. Vorher muss der Geistliche jedoch noch Kontakt zu seinem Bankkonto bei der Dresdner Sparkasse aufnehmen. Man ist zwar noch nicht einmal ganz vierzehn Tage von zu Hause weg, aber es scheint dem Emeritus so, als ob seit seinem Abflug in Leipzig und dem heutigen Datum bereits Monate vergangen wären. „Relativität der Zeit eben”, denkt er. Und fährt mit seiner interessanten Lektüre fort

Lieber Uschmann,
heute schreiben wir den 15.August, das ist bei den Papisten immer noch das Hochfest der Aufnahme unserer lieben Frau in die Himmel. Was für ein schöner Feiertag, den wir Protestanten im Geheimen noch immer feiern, auch wenn die Herren Superintendenti dazu strenge gucken. Ich scherze, lieber Freund, der Du selber ja auch dieses schwere Aufseheramt versiehst. Oder - bist Du inzwischen frei gekommen von der Verpflichtung zur Kontrolle der Amtsbrüder in Sachen rechter Lehre?

Der Bote gestern brachte allerdings einigermaßen betrübliche Nachricht. Denn auch unser Freund Hahnemann ist nun (am zweiten Juli) ins “Land der höheren Potenzen” aufgestiegen. Da die Brüder in der Rambertibibliothek um meine Zuneigung ihm gegenüber wissen, haben sie, gleich als die Meldung bekannt geworden, mir dieselbe vermittelt. Weil wir beide den selben Vornamen Samuel tragen und ich als abtrünnig gewordener ehemaliger Sohn des aus dem Nilwasser Gezogenen immer schon vermutet hatte, auch Christian Friedrich Samuel könnte unter Umständen mit mir die abrahamitische Vergangenheit teilen, und ich zu behaupten nie einen Hehl daraus mache, das Christentum sei nur deshalb so erfolgreich geworden, weil es stets mit unseren Waffen focht (und siegte!), neckt man mich häufig gutmütig mit meinen eigenen Bonmots. Um so betroffener waren die Brüder als sie nun diese Nachricht empfingen und mir weiter sagen mussten. Das Jahr 1843, das wir gegenwärtig schreiben, ist schon ein sonderbares. Ob dieses Jahr einmal in die Annalen der Geschichte eingehen wird als dasjenige der Zeitreisenentdeckung?

Mein Lieber, – obwohl ich nicht weiß, in welchem Jahrhundert (oder gar Jahrtausend) Du Dich eben herumtreibst und meine Briefe auf irgendeine geheime Weise wahrnimmst, – es täte mich schon sehr interessieren, wie und auf welche Weise Du ihren Inhalt erfährst. Ich jedenfalls, das sei hiermit ins Nichts des unendlichen Weltalls ausgerufen, lege die an Dich gerichteten fertigen Blätter nach Vollendung meines Textes in das gen Norden ausgerichtete Fenster meiner Klause auf die 282-Gradmarke, denn dort steht mein Heroldpunkt, von dessen genauer Ermittlung ich Dir nun Kunde geben will. Manchmal habe ich den Eindruck, dass der Ereignis-Inhalt auf dieser Marke recht schnell abgelesen wird, gerade in den letzten Wochen verstärkt sich dieser Verdacht deutlich. Hahnemann und Du, – Ihr seid Euch sicher unbekannt geblieben. Schade, mit Deinem Talent, kleine Ideen groß zu machen und armen verkannten Genies ihren verdienten Ruhm zu verhelfen, hättest Du meinem Freunde aus Meissen die Jahrzehnte seiner Missachtung als Nachfahre des Theophrast von Hohenheim und Homöopath verkürzen geholfen.

Zurück zum Heroldpunkt und zu dem Stab, den ich als Reiseinstrument, Erkenntnisvehikel und neues aber ganz passables Sinnesorgan postuliere und seine Beschreibung vermittels meiner Briefe an Dich langsam aber sicher in die geistigen Welten hauche! Du kennst ja sicher den Effekt, der entsteht, wenn man in Gegenwart eines feinen Glaskelches einen Ton mit dem eigenen Munde singt oder auf einem Instrumente intoniert? Richtig - das Glas hebt unter Umständen an zu singen und zu klingen. Triff Du nur das Zauberwort!

Man muss nun, um das Folgende zu verstehen, unbedingt beherzigen, dass jedes Zeitintervall als eine kurze Melodie angesehen werden kann. Das haben auch schon die Alten gemeint, wenn sie sagten, im Himmel wäre allenthalben eitel Musik und die Engel gingen mit ihren Instrumenten durch die Sphären, stiegen die Leitern herauf und wieder hiernieder, wobei sie ohne Unterlass sängen und spielten. Manche haben sich darüber lustig gemacht und uns dumm verlästert, – meinend, sie wollten dann nicht an jenem Ort sein müssen, weil das Singen langweilig macht. Hornochsen! Freilich, wer nicht singen kann oder nicht will … das ist dann eben die Hölle, in die sie stürzen!

Wenn nun also ein Zeitpunkt sozusagen “erklingt”, erklingen auch alle anderen denkbar harmonieverwandten Zeitpunkte mit, egal “wo und wann ihr Glas jeweils stand, steht oder stehen wird”. Jeder Augenblicksklaster (ich erkläre weiter unten, was ich damit meine) regt alle anderen Klaster mehr oder minder, gleich oder erst später, zum Schwingen an. Und so gibt es sowohl die synchrone als auch eine diachrone Resonanz, welche beide ihren Sinn erfahren lassen. Jene sonderbaren singulären Zeitphänomene, die wir beide noch in jenem trüben Ackerbürgerstädtchen am Südrand des Flämings seinerzeit zu provocieren begonnen hatten! Unbedingt, – sie waren „nur” Nebeneffekte der Heroldstabzusammenhänge. Wie auch der Wagen, den wir bauten und in Linz dank der financiellen Unterstützung unserer habsburgischen Gönnerinnen ausexperimentieren konnten, wobei wir dann aus diesem abenteuerlichen Gefährt in offenbar gegenläufige Zeiten geschleudert wurden, weil wir nicht genug davon bekamen, reinen „Sinn an sich” zu erfahren: Dieser unser Zeitwagen war nur ein Beifang der gesamten Heroldspunkt-Problematik, deren theoretischer Begründung und Ausforschung ich nunmehr seit Monaten hier bei den Rambertianern auf der Spur bin, wie Du sicher auch – eben nur in einem anderen Säculum, wie ich meine? Wo bist Du gerade? Und welche Zeit magst Du schreiben und in Deinem Kalender lesen?

Ja,- es ist die irgendwie geartete diachrone Resonanz des Sinns, der ich für den Rest Lebenszeit meine Forschung widmen möchte. 1800 im Juni hat uns das von uns mit übler Gelegenheit belehnte “Schicksal” getrennt. Wann und wo wird es uns wieder zusammenführen? Oder sind wir bereits „zusammen”, nur jetzt nicht mehr in Raum und Zeit als geronnenen Derivaten des Sinns, sondern durch den reinen Sinn des Sinns miteinander verbunden?

Rätsel, Rätsel, heilige Rätsel. Mysterium!!!
Lebe wohl, wo auch und wann und wie immer.
Samuel Amadeus Dankreither unter Ölbäumen im Heiligen La
nd

Leberecht Gottlieb hatte das Buch zur Seite gelegt, denn der Taxifahrer fragte irgendetwas. Die Frage lautete, ob Leberecht am kommenden Sonntag in einer kleinen orientalischen Christenkirche die Sonntagspredigt halten würde. Der Priester des kleinen Konventikels sei vor Kurzem zu seinen Vätern versammelt worden - und die Gemeinde habe ihn - Abdul Abdullah - gebeten, für die sonntägliche Feier bei Leberecht ein gutes Wort einzulegen. Die Gemeinde sei eine Splittergruppe der Syrisch-Orthodoxe Kirche von Antiochien. Leberecht schluckt. Er hat schon lange keinen Gottesdienst mehr geleitet ... Nun - der 8. September wird der 15. Sonntag nach dem Trinitatisfest sein. Da steht das Evangelium von den Lilien auf dem Felde und den Vögeln unter dem Himmelszelt. Der Meister sagt: "Sorget nicht!" Also doch nicht gleich zum Flugplatz, sondern erst einmal wieder zurück in das Gewühl der innersten Innenstadt? Leberecht sagt "Ja", sagt zu und ist gespannt, was ihn in Kairo noch alles erwarten wird. Die orientalischen alten Kirchen sind sonderbar. Die meisten haben die ersten Konzilien nicht mitgemacht und sind Monophysiten und noch mehr. Doch Jesus sagte „Sorget nicht!” Das ist ein guter Spruch. Im Leben oft bewährt, wie Leberecht weiß.

--

alles Andere von Leberecht Gottlieb hier ...

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer
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