noch mehr von dem einen Punkt
Leberecht Gottlieb (62)

62. Kapitel - wir schreiben den 3. September 2024 und erfahren mehr von dem einen gedachten Punkt im Universum der Zeit, an dem sich das spezielle Ereignis aus der Summe des Möglichen ablöst. In Sonderheit beginnen wir damit, Leberechts Gedanken zu folgen, welche er sich im Zusammenhang mit dem sächsischen Wahlergebnis macht ...

Uschmanno, dem Freund im trüben Teutonia!
Lieber Bruder, wie herrlich die Sonne heute scheint! Ich musste am Morgen an Dich denken, besonders an die finsteren Zimmer Deiner Superintendentur hinter der Kirche, welche nie aufhörte, mit düsternen Schatten nach uns zu langen, wenn wir in Deiner Bibliothek Elementa spekulierten. Ich nun aber sitze hier in meiner Laube nahe dem Ölberge und schaue hinaus in die goldene Landschaft des gelobten Landes Israel. Was dagegen magst Du gerade treiben?

Die Rufe und Schreie der Maultiere dringen bis zu mir herauf und ein bunter Vogel hüpft immerzu um meinen Tisch, sich Brosamen erhoffend, die ich ihm auch gern spende – Fladenbrot und getrocknete Tomaten, von denen ich hier täglich genug habe. Vor mir steht eine Karaffe jenes frischen Quellwassers, das mir von meinen Gastgebern täglich kredenzt wird. Das Dintenfass funkelt kobaltfarben in der Sonne, die hellen Bogen Papiers leuchten und ein Zirkel, den ich mir von einem arabischen Händler unten am Basar erhandelt habe, glänzt wie der lichte Tag.

Wenn es nämlich um den Heroldstab gehen wird (ich suche immer noch nach einem besseren Begriff für dieses wunderbare Instrument), geht es eigentlich immer auch um Kreise und Bögen, wie Du ja gestern schon von mir unterwiesen worden bist. Eben kommt mir in den Sinn, dass ich das herrliche Instrument, das ich Dir beschreiben werde, auch “Zweig” nennen könnte. Heroldszweig … Was meinst Du? Asta mercurialis! Aber nein, – ich bleibe lieber bei dem ursprünglichen Worte, denn ich habe es in Gedanken schon so lange hin und her bewegt. Und dieser begriff Heroldsstab scheint mir am geeignetsten dafür zu sein, diese außerordentlich bedeutsame Sache (Du wirst es bald selber zugeben!) zu benennen.

Neulich bekam ich die Gelegenheit, hier oben ein paar Landvermessern zuzuschauen, als diese mit dem Schreitzirkel Wege und Feldraine in ihren Längen und Maßen abnahmen. So ein Zirkle ist eine ganz einfache Vorrichtung – und ähnlich ist es auch mit dem Heroldsstab. Nur, dass man nicht Raum und Zeit misst, sondern den Sinn. Der Sinn ist, wie Du weißt (oft haben wir darüber gesprochen), der Zusammenhang von Allem mit Allem, - wie er sich als Zusammenhang im und am Detail zeigen will und uns von dorther untrügliche wenn auch oft erst im Nachhinein deutbare Zeichen zuwirft.

Verzeih mir im Übrigen meine belehrende Art. Das ist wohl auch der Preis des Altwerdens in unserem Beruf und Stand, dass man nämlich denkt, man hätte immerdar nur Idioten vor sich, denen es etwas zu erklären gilt, wovon sie noch nie das Mindeste gehört haben. Und so wird man selber zu einem solchen Idioten, - nicht weil die Anderen unbedingt auch welche wären, sondern weil man zu oft denkt, sie wären welche! Ich habe bemerkt, dass ich, je älter ich werde, diesem Laster (ja, es ist ein rechtes Laster!) leider immer mehr mich zuzuneigen scheine, also dass ich denke, die Leute wären allesamt Idioten. Absolve me, carissime!

Nun aber zurück zu jenem Punkte, den ich den Heroldspunkt nenne, und der den nach ihm benannten Stab an seinen beiden Enden begrenzt. Über die philosophischen Tücken des Begriffes GRENZE will ich nicht zusätzlich zu dem berichten, was uns seit dem Königsberger Kant an Altbekanntem bereits berichtet worden ist, - erneut würde ich nur belehrend wirken. Der Heroldspunkt ist also jener Punkt im 360 Grad messenden Himmelskreis des Zodiakus, an welchem dieser Kreis mit Hilfe eines besonderen Gedankenexperiments sozusagen "aufgeschnitten" wird. Erschrick nicht, mein guter Confrater - nur in Gedanken, denn der Himmel um uns herum bleibt gekrümmt und unzerstörbar. Wegen des gedanklich erfolgten Einschnitts im Sternenkreis wird aber dieser eine Punkt des Einschnitts nun zu zwei Punkten. Denn der Kreisring verwandelt sich durch sein Aufgeschnittenwerden in eine Strecke oder Linie, welche wie alle Strecken und Linien einen Anfangspunkt und einen Endpunkt hat. Zwei Punkte sind also aus dem einen Ursprungspunkt geworden, stupor mundi! Und das nenne ich den Heroldspunkt. Im Kreis ist er nur einer und zugleich bildet er die beiden Begrenzungspunkte des entstandenen Heroldsstabes als begrenzte mathematische Strecke. Aber nun wirst Du alsbald folgende Frage stellen, – an welcher Stelle man den Zodiakus zerschneiden soll? Ja, – genau das ist tatsächlich die Frage.

Auch ich habe darüber Jahre lang nachgesonnen, bis eines Tages mir im Traum ein Bild erschien. Es wird Dich interessieren erneut zu hören, dass im Tierkreis, der meistens in Teile eingeordnet worden ist, von diesen Teilen allen das östlichste und zwölfte Element das Wichtigste zu sein scheint. Ja, mein Lieber, eben dieses von den alten Astrologen viel beargwöhnte zwölfte Haus ist das eigentliche Mysterium. Warum? Wohlan, – stelle Dir einmal die uns sichtbare Laufbahn der Sonne vor. Sie beginnt morgens im Osten und endet am Abend im Westen. Und von der ganzen Bahn aus schaut der sie Bereisende die Welt, – von seinem Wagen herab blickt Helios von Osten bis Westen auf den halben Erdkreis. Am Morgen ist noch alles offen. Was wird geschehen, was wird sich ereignen? Er, der Wagenlenker, kann noch nichts davon wissen. Er eilt in seinem Gefährt, von schnaubenden Rossen gezogen, die Bahn dahin. Erst am Abend - aber dann wirklich und tatsächlich - kennt und weiß er alles, was als Geschehnis sich gezeigt hat. Das, was er gesehen hat, das hat sich wirklich ereignet. Jedes einzelne Bild liegt nun vollendet vor ihm. Deshalb auch darf der Sonnenwagen hinter dem Horizont auch untergehen. Er hat seiner Pflicht Genüge getan.

Wenn es einmal in späteren Zeiten vielleicht einen Apparat geben wird, der jene Bilder, welche wir fortwährend sehen, wird aufzeichnen können, so dass wir dieselben uns in der Rückschau noch einmal betrachten dürfen, - dann sähen wir, wie alles das, was im östlichen zwölften Haus am Morgen noch ganz unentschieden war, abends im siebenten Haus realiter entschieden worden ist. Dort zuerst noch ganz unfertig und alles mit allem verbunden – hier aber dann endlich vollendet und ein jegliches Einzelne für sich selbst auskristallisiert.

Wie soll ich es Dir erklären, lieber Freund? Ich will es versuchen: Unmittelbar hinter den Startklötzen der Rennbahn in diesem zwölften Hause sind beispielsweise der Freund und der Feind paradoxerweise ein und dieselbe Person, da sie beide dem Ziel noch unendlich fern. Im eilften Hause bereits werden sie zu Konkurrenten – sind zu diesem oder jenem geworden. Im zehnten gar sehen wir, wie einer zurück bleiben musste und in das zwölfte zurückzukehren hat – jetzo nur noch der andere gewinnen soll und Vorteile hat, derentwegen er im neunten Haus von seinen Betrachtern angefeuert und mit Bravorufen belohnt wird, noch lange bevor sein Sieg überhaupt erfolgt und er die Ziellinie überschritt. Im achten Hause schließlich lässt das Los alle weiteren Mitbewerber auf die Aschenbahn stürzen und uns schaudert vor dem Verhängnisse, welches den einen siegen lassen wird, die anderen aber zu Verlierern stempelt. Im siebenten Hause schlussendlich steigt der strahlende Gewinner auf die Ehrenstufe des Podests der Podeste - und winkt uns und der Menge mit dem Lorbeerkranze von dort aus jubelnd zu.

Deshalb also ist das noch unentschiedene zwölfte Haus der eigentlicher Favorit innerhalb der astrologischen Häuser. Hier ist noch alles offen. Und der Herrscherplanet dieses zwölften Hauses wäre mehr zu ehren als der Herr des Ascendentenzeichens. Ob Du mir wohl Glauben schenken wirst, mein Lieber? Wo steht der Herrscher Deines zwölften Hauses, mon cher? Jawohl, … ich kann mich erinnern. Im neunten Hause. Deshalb bist Du unser aller Anführer in Glaubensdingen geworden. Und empfängst Deine Macht aus diesem heimlichen (oder unheimlichen!) Bereich.

Es ist heiß geworden, und die Sonne steht im Zenit. Ich werde mich nun hinunter zum Mittagsgebet begeben und die Mönche in Sankt Ramberti mit meiner Stimme unterstützen. Vielleicht finde ich heute Abend, wenn es wieder etwas kühler geworden sein wird, Gelegenheit, weiterzuerzählen. Denn der Herrscher vom zwölften Haus steht ja wiederum in einem Haus. Meist in einem anderen als dem zwölften! Und dessen Herrscher wieder in einem anderen. Und der wieder woanders – und so fort. Wisse, auf diese Weise entsteht ein Kreislauf, welcher irgendwo sich zu wiederholen beginnen würde. Aber genau dort, an dieser Wiederholungsstelle: Dort springt etwas aus der Bahn, wird frei – und macht frei. Es hebt ab wie der Ballon der Brüder Montgolfier vor einigen Monaten. Vollendet sich und beginnt zu leben. Genau an und mit dieser Stelle, wo es sich abhebt und befreit, zeigt sich etwas Höchstbesonderes. Bald werde ich zu erzählen fortfahren. Nachher, warte nur eine kleine Weile. Ich kehre nach dem Mittagsgebet alsbald zurück —


Bis dahin, Uschmann,
Dein Dankreither.

Leberecht legt die Brille beiseite und streckt seine Glieder. Bei etwa drei Stunden hat er ununterbrochen in der Schrift vom Lapis Aquamarinus Knossios gelesen. Die große Kanne Kräutertee ist fast geleert und die Sonne geht am westlichen Horizont der Oase Siwa unter und taucht die unendliche Sandfläche im Süden in ein magisch flimmerndes rötliches Licht. Man kann nicht hinsehen, ohne dass der gesamte Körper von diesem Flimmern erfasst wird.

Leberecht ist erschöpft. Nun erinnert er sich auch wieder an die Botschaft von der ausgegangenen Sachsenwahl in Dresden - und worüber ihm die Kronmann  Mitteilung gemacht hat. Die Alternative und seine alte Union liegen stimmengleich also bei jeweils 32 Prozent. Was nur war aus den Sozialdemokraten geworden  geworden ... Leberecht fürchtet, dass auch seine Kirche einmal (hoffentlich nicht so bald) den Untergangsweg dieser ehemals so würdigen Arbeiterpartei unter Umständen wird nehmen müssen. Wenn sie nämlich weiterhin stur die Mainstreammeinungen der woken Presse vertritt, wie sollte der Untergang nicht ausbleiben? Das alles schmerzt Leberecht Gottlieb. Schmerzt ihn sehr. Viele seiner damaligen Kommilitonen waren nach der neunundachtziger Wende in die Politik gegangen und hatten den Talar an den Nagel gehängt. Eigentlich alle waren in die SPD eingetreten. Einige hatten sie hier im Osten sogar mit neubegründet. Nur einer war in die CDU gegangen - vielleicht lag es daran, dass diese Partei zu den alten DDR-Blockflöten gehört hatte. Mehr aber lag es wohl auch daran, dass Kirchenleute ihr grundsätzliches Autoritäts- bzw. ungeklärtes Vaterproblem dadurch zu lösen meinten, wenn sie unter die Flügel einer ehemals im Prinzip ordnungsdelegitimierenden Peergroup schlüpften - um sich wohler zu fühlen.

Nun stehen nach langem Fingerhakeln die ehemalig Konservativen mit den konservativen Rechten gleichauf. „In Thüringen wird es nicht anders ausgehen“, sagt Leberecht halblaut zu sich selbst und es war ihm dabei so, als ob die Wand aus Turmalingestein, die er von seinem Sitzplatz in Aischa Endoritas Bücherecke sehen konnte, diesen Satz als Echo zurückwarf. Es schien auch so, als ob jene Stelle, von welcher aus sich vorgestern der Geist Samuels gelöst und materialisiert hatte, in Bewegung gekommen war. "Um Gottes Willen - was soll ich machen, wenn der Geist des alten Propheten erneut wieder erscheinen will?" Denkt Leberecht und ihm fröstelt, obwohl die Celsiusskala in der Hütte auf 26 Grad Celsius steht. Die Totenbeschwörerin hatte auf dem untersten Regalbrett, wo der ganze Nietzsche griffbereit auf den interessierten Leser wartet, ein uraltes Thermometer liegen. Noch mit Quecksilber eins. Der Gradschein weist auf exakt den Strich, der die  Sechsundzwanzig bedeuten sollte.

--
Mehr von Leberecht Gottlieb hier

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer
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