Prof. Dr. Norbert Müller
Im Gedächtnis geblieben
- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
Ja - es gibt die großen Gestalten, die dem Gedächtnis nicht durch Lautstärke, sondern durch stille Gravität ihrer Existenz eingeschrieben bleiben. Professor Dr. theol. habil Norbert Müller war eine solche Erscheinung – einer jener Alten, deren Lebenszeit sich wie eine aus dem Dämmerlicht geborgene Handschrift lesen lässt. Behutsam, Seite für Seite, und stets begleitet vom Hauch jahrzehntealter Wissenschaft, die nicht vom Betrieb, sondern von der Berührung des wirklichen Geistes lebt.
Wer je an einem Freitag um vierzehn Uhr den Hörsaal 8 im Löwengebäude betrat – dieser riesige Raum, in dem das Tageslicht sich am Mobiliar des unbeugsamen 19. Jahrhunderts brach –, der erinnert sich an die eigentümliche Spannung, die dort für neunzig Minuten herrschte. Müller trat nicht auf, er erschien. Er stellte sich nicht vor, er war da. Ein Ordinarius der alten Schule, mit jener Gelassenheit, die nicht aus resignativer Müdigkeit vor der unerschöpflichen Geisterwelt, sondern aus einer tiefen Kenntnis der menschlichen Schwächen, diese Welt erfassen zu können, entsprang. Er sprach langsam, aber nie schwerfällig; seine Worte hatten Gewicht, weil sie sich der Schönheit verpflichtet wussten, nicht dem Effekt - und zugleich trugen sie sich in minutiös durchdachter Ordnung und Gliederung wie von selbst vor.
Es war diese Art von Vorlesung, nach der man, wie selbstverständlich, sofort den Weg ins Antiquariat einschlug. Man tat es nicht aus Pflichtgefühl gegenüber der Literatur, sondern weil Müller in seiner unangestrengten Gelehrsamkeit das Gefühl weckte, dass zwischen der Dogmatik und der Poesie nur jene schmale Membran liege, von der Rilke dichtete AUS UNSERN BILDERN IST SIE AUFGEBAUT. Die man aber mit leichtem Fingerdruck durchbrechen konnte. Paul Claudel bestellte man dann, Rilke hatte man schon. Gomringer fand seinen Platz in der Tasche, und oft genug durften diese Bücher weiter mit und kamen wieder ins Regal, wenn bei den nötigen Umzügen andere auf der Strecke bleiben mussten. Sie aber hielten sich, wie sich Sätze halten, die in den jungen Jahren einer geistigen Erhebung entsprungen sind. Dem Professor verdanken viele eine oft beschriebene gleichsam blitzartige Erfahrung, die aus dem Schweigen-Gedicht Gomringers jeden wachen Geist an den Rand des Firmaments führen kann - nach dorthin also, wo das Denken sich in Erkenntnis verwandelt.
Nun hat Müller, der vor Kurzem hundertjährig seine irdische Frist am 21.August vollendete, in jene Hallen sich entfernen dürfen, von denen er in seinen Vorlesungen immer in einem Ton sprach, als hätte er sie irgendwo schon einmal betreten dürfen. Man stellt sich vor – und hier erlaubt die Phantasie sich einen Moment der Freiheit –, wie er nun unter Herbstlaub streuenden Pappeln wandelt, Seite an Seite mit Rainer Maria, dem sanft melancholischen Hüter aller Übergänge. Dort, im perlenden Licht einer Ewigkeit, die sogar von dem süßen Trost nichts verliert, den die Moderne ihr anzudichten versucht, buchstabiert der Vollendete jetzt die bisher uns verschlossenen Gesetze der Schönheit.
Vielleicht ist das die tiefste Pointe unseres Lebens: dass wir jene Schönheit, die wir in jeder Vorlesung wie ein kaum sichtbares Wasserzeichen über den Texten der Tradition erscheinen sehen durften, er nun unverhüllt sehen darf - und wir es wissen. Und vielleicht wandert der Professor dort im kosmischen Park einer jenseitigen Akademie, nicht gestützt von studentischen Fragen, sondern erhoben von jener Weisheit, die weder zitiert noch kommentiert werden kann und auch nicht mehr gelehrt werden muss.
Für uns bleibt das leise Gefühl eines eleusinischen Nachhalls, dass wir nämlich in Halle an der Saale in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts einem Manne begegnet sind, der das Wort „Theologie“ nicht nur als denkerische Disziplin, sondern mehr noch als königliche Kunst aufgeführt hat. Und dass ein solcher Mensch, wenn er ging, nicht verschwand, sondern auf eine sehr sublime Weise still weiter lehrt – im Flüstern der Bücher, die wir damals kauften, im Klang der Hymnen, von denen er hören ließ, im Ernst des Denkens, den er uns zumutete, und im unverwechselbaren Hauch jenes Freitagnachmittags, an dem Schönheit und Logik anderthalb Stunden lang in friedlicher Eintracht verweilten - und uns an ihrem Geheimnis Teil haben ließen. Und dafür sei an dieser Stelle der Dank ausgesprochen ...
Autor:Matthias Schollmeyer |
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