Heilsgeschichten (Teil 1)
Friedrich und Rüdiger

- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
BILDUNGSBÜRGER UND ALT-68ER
Und so saßen sie wieder einmal beisammen – auf der Terrasse eines Cafés, das sich, wie so viele Orte dieser Art, in den letzten Jahrzehnten kaum verändert hatte, obwohl sich die Zeit immer rascher in Falten zu werfen schien, schrumpfte und zugleich blähte, wie ein lebendiges Wesen, das sich müde um seine eigene Geschichte drehte.
Zwei alte Männer, so verschieden, wie es die Schichtung deutscher Wirklichkeit erlaubte: Friedrich von Hohental, ein Mann aus gutem Haus und alter Schule, Liebhaber einer Philosophie, die sich aus Platon, Augustinus und alter Rechtschreibung ableitete. Und Rüdiger Pankraz, genannt Rüdi, dem die Geschichte nie Bildung gewesen war, sondern Auftrag, Verpflichtung und revolutionärer Schlachtruf. Er war keiner, der gelernt hatte, um zu veredeln. Er hatte gelernt, um zu kämpfen.
Sie sprachen, wie sie immer sprachen, wenn sie einander trafen – was selten genug geschah, denn zu sehr hatte sich das Land der Schicksale zwischen ihnen ausgedehnt. Und doch waren sie – wie das manchmal geschieht mit Antipoden – auf merkwürdige Weise aufeinander bezogen, wie zwei Pole eines Stroms, der nicht aufhört zu fließen.
Diesmal war der Gegenstand ihres Gesprächs nicht nur der Sinn der Geschichte, sondern – auf Anregung Friedrichs, der es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, mit schwerem Eröffnungen zu brillieren – die Frage nach dem Sinn der christlichen Heilsgeschichte.
Friedrich hatte das Thema mit einer gewissen Feierlichkeit vorgebracht, als öffne er eine heilige Lade. Er sprach von der Inkarnation als dem Zentrum der Zeit, zitierte Hegel, den er “unseren eigentlichen Kirchenvater” nannte, sprach vom Durchgang Gottes durch die Geschichte, von der Negativität als Träger der Wahrheit, von der Dialektik der Weltzeit, die sich, trotz allem, zur Versöhnung neige. Und dass die Passion Christi, in ihrer Überzeitlichkeit, dennoch konkret sei für ihn, Friedrich, und für Rüdiger, ja, auch für Rüdiger – selbst wenn dieser davon nichts wissen wollte.
Rüdiger, der anfangs still gelauscht hatte, als ob er sich unter einem plötzlichen Regenschauer duckte, wurde dann doch heftig. Er sprach von der Gegenwart, von dem, was jetzt geschähe. Von Umtrieben rechter Netzwerke, vom Anstieg der Polizeiübergriffe, von Schweigemärschen durch ostdeutsche Innenstädte. Von der Notwendigkeit, Farbe zu bekennen. Dass „Metaphysik“ kein Argument sei, wenn Menschen angegriffen würden. Dass Jesus – wenn er denn je gelebt habe – heute wohl schwarz gekleidet hinter einem Transparent im schwarzen Block der ANTIFA marschieren würde, aber gewiss nicht mit Hegel-Bänden in der Hand.
Friedrich hatte daraufhin gelächelt – ein Lächeln, das zugleich mild, überlegen und unnahbar war, wie das Antlitz eines frühchristlichen Mosaiks. Und hatte gesagt, dass der Logos nicht marschiere. Dass er komme – epiphanein – nicht lärmend, sondern in Klarheit. Dass die Passion nicht Protest sei, sondern Durchgang. Und dass es ein Unterschied sei, ob man die Welt anklagt, oder ob man sie verstehe.
Das Gespräch schob sich dahin, wie ein alter, träger Fluss, der aber seine dunkle Tiefe hat. Und es geschah gerade in einem jener Augenblicke, da der eine neue Wendung finden wollte, dass etwas geschah.
Etwas – oder besser: jemand – trat in's Blickfeld. Eine Frau. Die Figur - von unerwarteter, fast mythischer Präsenz. Blond, ja – das war das Äußerliche. Aber das war es nicht. Sie hatte einen Gang, der keine Eile kannte, und eine Erscheinung, die sich nicht in Worten fassen ließ. Sie war nicht schön im konventionellen Sinne – oder war sie das doch? – sondern wirkte, als sei sie einem alten Kultbilde entstiegen. Nicht Aphrodite – eher eine Magna Mater, eine Demeter in Sommerkleidern. Ihre Augen ruhten, ohne zu blicken. Und doch schienen sie alles zu sehen.
Sie trat an den Tisch. Sie kannte Rüdiger. Sagte nichts weiter als seinen Namen.
„Rüdi.“
Und in ihm geschah etwas. Etwas stürzte ein, etwas anderes trat hervor. Er stand auf, nicht hastig, sondern andächtig, fast devot. Seine Hände zitterten nicht – aber sie wussten nicht mehr, wohin. Er verneigte sich nicht – und war doch gebeugt. Nicht aus Trieb, sondern aus Ahnung. Nicht aus Gier, sondern aus einem alten Gedächtnis, das in ihm erwachte. Als sei dieses Weib ihm Mutter und Herrin zugleich. Und als sei er ein Kind, welches aufgerufen wird zu dienen.
„Ich… ich muss gehen“, sagte er, ohne Friedrich anzublicken. Und ging. Ohne Hast, aber ohne Umkehr. Friedrich blieb sitzen. Er hatte alles gesehen. Und er dachte. Lange. Er rührte sich nicht. Seine Augen ruhten in jener Richtung, wohin die beiden gegangen waren. Dann senkte er den Blick auf seine Tasse. Der Kaffee war inzwischen kalt geworden. Und auch das war nicht bedeutungslos.
Friedrich lächelte. Nicht spöttisch. Nicht triumphierend. Sondern auf eine Weise, wie nur der lächelt, der um das tiefe Glück des anderen weiß und auch weiß, dass es in gewisser Weise Unglück ist – und darüber kein Richter sein will. Er dachte an Rüdiger. Und er dachte: „Auch ihm wird vergeben werden müssen.“
Dann wandte er sich dem Neckar zu. Die Sonne stand tief. Die Kirchenglocken schlugen die sechste Stunde. Der Tag war alt geworden. Aber noch nicht vorbei ...
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