Svenny 1
Altes und Neues von Leberecht Gottlieb (41)

Für Leberecht Gottlieb - der Leser wird es längst schon geahnt haben - vermischen sich Wirklichkeit und Traum nicht selten. Bei hochbetagten Leuten ist das zuweilen der Fall und rührt daher, dass beides auch nie ganz getrennt gewesen ist. Traum und Wirklichkeit verhalten sich zueinander etwa so, wie schöpferisches Wort und  durch dieses Wort geschaffenes Ding. Das erste Kapitel der Bibel beschreibt es sehr eindrücklich, dass Gott spricht und auf den Spruch hin das Ausgesprochene entstehen muss. Ist solches geschehen, schaut Gott das Geschöpf an und spricht über ihm sein segnendes „Es ist gut” aus, was im Hebräischen zugleich auch bedeutet, es sei schön. Es gab in diesen ersten Tagen noch keine Unterscheidung zwischen gut, schön und wahr. Alles war eins. In den ersten Jahren seines pfarramtlichen Wirkens hatte Leberecht Gottlieb sich dazu verstiegen, seinen Konfirmanden von den Wundern der hebräischen Sprache etwas mitgeben zu wollen. Und hatte sie alle Kalligraphiefedern kaufen lassen, um die semitischen Schriftzeichen auf blütenweißes Papier aufzuzeichnen und ihre Charaktere kennen- und lieben zu lernen. Er war damit nicht bei allen angekommen - besonders nicht bei den Eltern. Denn diese wollten, dass die Bengel Moral lernen und Werte. Aber einer seiner Schüler hatte Feuer gefangen und das war Sven. Von ihm soll jetzt die Rede sein.

Sven war auf seine Bude gegangen und hatte lange darüber nachgedacht. Folgende Wortpaare entstanden unter seiner Feder. Aufgeschrieben standen sie da in alle Ewigkeit: „Nirgendwo / nie. Überall / immer. Hier / jetzt.” Drei Paare von Raumzeitangaben, oder Zeitraumangaben. Verbunden jeweils mit einem Querstrich. Vergleichbar dem Wörtchen UND, das zugleich einen wichtigen logischen Operator darstellt. Dieses UND schien für Sven Schlüssel zu allen denkbaren Fragen samt ihren Antworten zu sein. Einfach UND. Was ist UND? Aus einem UND kann alles werden.
Sven hatte von seinem Pfarrer Leberecht Gottlieb gelernt, wie bei den Hebräern das UND nur ein einzelner Buchstabe in Gestalt eines Hakens ist, der zugleich wie eines Menschen Gestalt ausieht. Man begann diesen Verbindungshaken von oben her nach unten hin zu zeichnen. Und der Zahlenwert dieser hochspeziellen Glyphe betrug sechs, – auch stand er symbolisch für einen Stab und außerdem tatsächlich noch für den Menschen an sich. Darüber hinaus war dieser Buchstabe die Mitte der zweiten Hälfte des Tetragramms, – also jenes heiligen Namens, den man - Gott bewahre - nie ausspricht. An diesem Haken, an diesem UND hing alles. Nicht nur, dass er selbst, Svenny, davon überzeugt war. Nein, – auch dieser seltsame Goldmann schrieb darüber an seinen an die Zeit oder in der Zeit verschollenen Freund Uschmann. Die beiden hatten sich irgendwann im 18. Jahrhundert dieses geistige UND als hölzerne Wanderstäbe nachgebaut und in diese Stäbe hinein die Struktur von Raum und Zeit graviert. Ein so entstandene Stab war vermittels dieser Manipulation und Schnitzerei und durch zusätzlich ganz bestimmte Art und Weise seines Gebrauchs mit der Ewigkeit und ihrer Zeitlosigkeit verbunden worden.

Was für ein Zufall, dass gerade er, Svenny, die infrage kommenden Konstruktionsschriften dazu auffinden durfte. Natürlich hatte er den wertvollen Fund wieder abgegeben. Die Kiste mit den alten Foliobänden wurden der kleinen Kirchengemeinde in Plötnitz treulich übereignet. Aber vorher hielt Svenny sein iPhone drauf. Seite für Seite. Das war vor etwa dreißig Jahren geschehen. Und Svenny kannte jede Seite, jede Doppeldeutigkeit hatte er inzwischen für sich erklärt. Egal, ob die Autoren damals es wörtlich genauso meinen wollten oder ob nicht. Darauf kam es gar nicht an. „Es kommt immer nur darauf an, dass du für dich selber was draus machst, Sven” hatte die Mutter oft gesagt und dabei mit dem Zeigefinger der rechten Hand nach oben gewiesen.

Wie hasste Sven den Namen Sven. “Svenny, nennt mich Svenny, wenn ihr mir einen Gefallen tun wollt” pflegte er zu sagen, wenn er nach seinem Namen gefragt wurde. Nicht alle taten ihm diesen Gefallen. Svenny-Sven war eine Art sonderbarer Philosoph. Zumindest verorteten seine Freunde in in diese Richtung. Freunde? Es waren zumeist junge Männer aus bildungsfernen Schichten mit Hang entweder zum extrem rechten Milieu oder zum extrem Linken. Svenny las viel, las alles - hatte als Schulabbrecher noch nie etwas Rechtes gearbeitet und wohnte in Plötnitz hinter dem Friedhof in dem kleinen ihm von der Mutter hinterlassenen Häuschen – einer Bruchbude, wie die Leute sagten. Svenny war nicht in der Lage, an der Lage dieses Hauses etwas zu verändern, denn es fehlte ihm stets an nötigem Geld. Er war nach Abschluss seiner Jungmännerzeit seit Jahren auf Harz IV angewiesen und jeder übrige Cent floss entweder in psychotrope Substanzen bzw. in die Flatrate seines iPhones. Svenny war eine Art Original und hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, „er lernte von der Welt und lehrte die Welt”, so drückte er es aus, wenn er nach seinem Beruf gefragt wurde. So sagte er es, ohne dass jemand so recht verstand, was er damit meinte.

Svennys Wortschatz wirkte im Laufe der Zeit durch die Lektüre schlechter esoterischer Bücher irgendwie verquast. Vielleicht auch deshalb, weil das, was er zu sagen wusste, auf unreflektierte Art und Weise stets irgendwie kirchenfeindlich oder zumindest kirchenkritisch eingefärbt war. Die Hexenverbrennungen und Kreuzzüge im Hochmittelalter waren zwei der Generalvorwürfe, die Svenny vorzubringen pflegte, wenn er in Stimmung war. Er war es meistens, denn er steckte voller Hass auf irgendetwas Undefinierbares, das er mit dem etablieren System und allen denen, die sich darin eingerichtet hatten, identifizierte. Hier bekam er mal fünfzig, dort mal nur zwanzig zugesteckt - dafür mähte er Rasen, blies Laub, räumte Schutt weg oder ging irgendwo irgendwann irgendwem irgendwie zur Hand. Das ist Sven. Pardon, – Svenny. Aber - Sven war zwei Jahre bei Leberecht Gottlieb ein emsiger Besucher der Konfirmandenstunden gewesen und hatte diese Zeit auch mit der heiligen Feier seiner taufe abgeschlossen. Dann war die Mutter gestorben, dann war er in ein Heim gekommen. Dann wieder zurück - und so nahm die Sache ihren Lauf. Svenny war Privatier ohne das, was den klassischen Privatier sein sorgenfreies leben ermöglicht. Ein mehr oder minder umfangreiches Vermögen. Wir fühlen mit ihm …

Im Alter von etwa fünfundvierzig Jahren las Svenny ein Buch über Hirnforschung. Dort stand geschrieben, wie nur etwa vier Prozent von dem, was der einzelnen Person sekündlich geschieht, quasi von außen käme. Alles andere, das sind immerhin 96 Prozent, stamme angeblich aus der Innenwelt der Person. Und war deshalb ein Konglomerat aus Erinnerungen und Wiederholungen, Erwartungen und Befürchtungen – kurzum, war irgendeine Variation von schon einmal Dagewesenem. Ähnliches hatte Svenny übrigens schon immer vermutet, besonders nachdem er einmal Fliegenpilze gegessen und mehrere Tage sonderbarste Eindrücke erlebt, sie alle aufgezeichnet und hinterher verwundert betrachtet hatte. Auch mit Tollkirschen hatte er experimentiert, mit den Nachtschattengewächsen sowieso, mit dem Stramonium aus Engelstrompeten ganz besonders.

Es ist notwendig, noch ein wenig mehr von Svenny zu erzählen, denn er muss aus dem negativen Milieu heraus geholt werden, in dem er bei den Lesern diesen Seiten wahrscheinlich längst schon gelandet sein dürfte. In eine andere Familie gebettet wäre Svenny wahrscheinlich heute das, was man früher Genie nannte. Denn er ist hochmusikalisch, freundlich und zuvorkommend, aber seiner schlechten Zähne und heruntergekommener Klamotten wegen – chancenlos. Svenny hat nichts zu verlieren, aber alles zu gewinnen – Letzteres zumindest in seiner eigenen Phantasie. Ihr fragt, ob es Svenny überhaupt gibt? Ob er so wahr sei wie Goldmann, Schumann und Uschmann, von denen bald gesprochen werden wird, und wie der Herr Joytishi etwa auch? Von denen allen wird weiter hinten noch viel berichtet werden. Oder - fragt Ihr Euch, ob dieser Svenny nur eine ausgedachte Person Leberecht Gottliebs vorstellt?

Nun die Antwort ist einfach und zugleich auch nicht. Svenny ist genauso wahr wie alles, was wirklich ist. Denn wirklich ist das, was wirkt und das, was Wirklichkeit schafft. Und Ihr merkt ja bereits, welche Wirkung von Svenny ausgeht. Er hat nämlich unsere uneingeschränkte Sympathie und unser gespanntes Interesse.

Svenny bekam also eines Tages von Leberecht Gottlieb den Auftrag, für ein paar Euro unter dem Altar der Kirche zu Plötnitz den im Laufe der Zeit zusammengekommenen Krempel zu entsorgen. Und diese Sache hat Svenny zuverlässig erledigt. Allerdings dabei auch jene Akten gefunden, aus denen er ein Buch entstehen lassen wollte. Die Akten gab der Finder der Eigentümerin Kirche zu Plötnitz zurück. „Sie seien Ihnen hiermit wieder überantwortet”, drückte sich Svenny aus, als er Leberecht Gottlieb die Kiste ins Pfarrhaus trug. Vorher aber hat er jede einzelne Seite in sein iPhone geknipst. Das sagten wir schon. Nun lag Svenny zu Hause auf der Ausziehcouch und liest, und liest, und liest. Und deutet, und denkt, und baut, und experimentiert. Über seiner Liegestatt hängt im Format A3 ein Plakat. Selbst gemalt. Das Plakat zeigt einen Satz, den Goldmann an Uschmann geschrieben hat: „Frage: Wie kann man mit einem endlichen Maßstab im Unendlichen die Unendlichkeit messen? Antwort: Man muss an der richtigen Stelle in die Unendlichkeit eintreten!”

Wer aber nun sind die Herren Gold- bzw. Uschmann? Bevor wir von diesen beiden Näheres berichten können, müssen wir erst noch Weiteres über jenen jungen Mann Svenny erzählen, welchen etwa dreihundert Jahre Abstand vom Barockzeitalter trennen, in dem die zwei genannten Freunde Goldmann und Uschmann beheimatet waren. Dreihundert Jahre Zwischenraum. Was Svenny schon immer am meisten beschäftigt hatte, war das Zeitreisenthema. Wer sich mit den Phänomenen der Reisen in der Zeit befasst, der ist für den Rest seines Lebens beschäftigt. Dem in dieser Richtung forschenden Geist wird die Ewigkeit zum Augenblick und umgekehrt. Als etwa die Bienen bei den Grufthäusern schwärmten, war Svenny nicht untätig geblieben, sondern hatte auf den Zeitpunkt gewartet, dass sie eine Traube gebildet und er sie in eine frische Beute einschlagen konnte. Dann hatte er auf diesen Zeitpunkt das Radix der Sternenkonstellation berechnet, nach Goldmannscher Manier den Heroldspunkt ermittelt, an dessen besonderen Stelle den Kreisbogen des Zodiak aufgetrennt und sich einen entsprechenden Stab angefertigt, der genauso groß geworden war, wie Svenny an Körpergröße maß. Mit diesem Stab ging er nun überall umher und betrachtete die Proportionen seiner Lebenswelt mit Hilfe dieses Stabes, der auf diese Weise zu einem künstlichen Sinneorgan wurde.

Wozu denn das? Wird man sicher fragen. Wir weisen darauf hin, dass Svenny seit seinem vierzehnten Lebensjahr einer geheimen Neigung nachging; es ist die Leidenschaft der Sternguckerei und im Besonderen der Sterndeuterei. Als Svenny die Aktenkisten unter dem Plötnitzer Altar gefunden, sie zu lesen begonnen und entdeckt hatte, wie der thematische Inhalt dieser Kisten seine Lieblingsbeschäftigung und die Sternenwelt betraf, war er fast in Ohnmacht gefallen. Wie alle diejenigen, welche Dinge und Umstände nur und viel zu sehr auf sich selbst beziehen, meinte Svenny, das Schicksal - was auch immer das sein mochte - habe ihm solchen Fund nicht umsonst in die Hände gespielt. Die Herren Goldmann und Uschmann, deren Briefwechsel er da wie zufällig auf einmal in eigenen Händen hielt, wurden für Svenny so etwas wie geheime Fratres Illuminati. Denen fühlte er sich sonderbar verwandt - und sich selbst damit nicht mehr allein. Seit den Tagen des Aktenfundes schritt er mit wissender Miene durch das Städtchen Plötnitz. Fühlte sich erwählt, beschenkt und beglückt.

Bei der Lektüre war im Laufe der Zeit bei Svenny unter Zuhilfenahme von viel Phantasie ein gedankliches System entstanden, mit dessen systematischer Vervollständigung er jede freie Stunde ausfüllte. Im Besonderen ging es Svenny darum, zum rechten Augenblick an der richtigen Stelle auf rechte Weise etwas zu tun, dass ihn in die Unendlichkeit eintreten ließe, ohne dass die Unendlichkeit selbst diesen Eintritt allzu schnell bemerkte und den Eindringling wieder zurück in die Zeit versetzte. Svenny wollte sich tatsächlich in der Ewigkeit umschauen. Und wollte von dort wissend wieder zurückkehren. Ja, er wollte zurückkehren.

Wir müssen noch anfügen, dass Svenny die Zeidlerei betrieb. Er war Imker. Und so hatte er also den Zeitpunkt des Bienschwärmens vermittels auf seinen Wanderstab übertragen. Diesen Stab nahm er überall mit hin. Und er hörte nun mit den Ohren der Bienen, sah mit ihren Augen und stand mit ihnen in systemisch-struktureller Verbindung. Auch als sie längst in den Winterschlaf gegangen waren. Auf diese Weise hatte Svenny Dinge erlebt, die er keinem anderen mehr mitteilen konnte, es sei denn um den Preis, für solche Mitteilungen hinfort sogar von den linken Gothics und rechten Runenheinis, wie er die bei sich selbst zu nennen begonnen hatte, als Wahnsinniger gemieden zu werden.

Der Schulabbrecher und Dauersozialhilfeempfänger Svenny Richter hatte für sich selbst Erkenntnisse über die höheren Dinge gewonnen. Er stand mit der Intelligenz eines Bienenschwarms in Verbindung, und die Bienen brachten ihm bei, die Dinge anderes zu sehen, als die Augen sie sehen mussten. Diese andere Sichtweise führte den Kirchenhasser auf Umwegen in die Bereiche der frühchristlichen Theologie, altägyptisch magischer Texte und des entwickelten Geisttums der Geheimgesellschaften um die Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert. Von dort aus führte ihn der Weg zurück in die Kirche Jesu Christi. Und zwar zu den Griechischen Orthodoxen. Genug für heute. Den Lesern darf nicht zuviel zugemutet werden. Erstmal setzen - und setzen lassen …

Autor:

Matthias Schollmeyer

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