Sylvia und die weiße Fahne
Altes und Neues von Leberecht Gottlieb (15)

Was bisher geschah, das ist hier abzulesen. Demzufolge musste der Student Leberecht das Bett hüten – etwa vier Tage lang war er wirklich richtiggehend krank. Eine Gehirnerschütterung. Um den argen Kopf hatte er ein weißes Tuch gewunden. So zollte er den Schmerzen Tribut, – sowohl den physischen als auch den psychischen. Erst viel, viel später dämmerte ihm, dass das weiße Tuch wohl der Anfang seiner Kapitulationserklärung gewesen sein musste. Hängen nicht auch die Bewohner belagerter Städte weiße Fahnen zu den Fenstern ihrer Burgtürme hinaus, um den bösen Feind zum Einlenken zu bewegen und sich selbst vor dem sichern Tode zu bewahren? Ja, das hatten die Besiegten schon immer in dieser einfachen Weise getan. Zumindest stand es in den Geschichtsbüchern ähnlich verzeichnet. Ob es dann aber wirklich geholfen hat?

Am nächsten Freitag ging der Student Leberecht Gottlieb erneut in die Vorlesung des Herrn Professor Schleiffringk. Dieser redete im Hörsaal A5 vor etwa vierzehn jungen Leuten über den ontologischen Gottesbeweis als destruktive Denkstruktur und ließ überhaupt kein einzig goldenes Haar an der ganzen Sache. „Goldenes Haar“ sagte er tatsächlich. „Goldenes Haar“ war auch das, was Leberecht in sein frisch besorgtes Collegheft notierte. Nicht mehr - und nicht weniger. Dem jungen Mann war im Übrigen so, als ob der alte Herr Professor gerade immer nur ihn, Leberecht Gottlieb, am meisten anschaute und es schien ihm manchmal geradewegs, als ob der ihm sogar sehr dreist zuzwinkerte, – in einer Weise, als hätten sie gemeinsam ein nicht ganz öffentliches Geheimnis. Aber hätten beide dieses Geheimnis zugleich nur deswegen, um es nicht zu verbergen. Zusätzlich erschwerend kam hinzu, dass mit Leberecht eine seltsame Veränderung vor sich gegangen war. Sei es, dass der Sturz auf den Kopf denselben als Heimstätte der Gedanken erschüttert oder jene enorme Putzfrau es gewesen war, die ihm nicht mehr aus den Gedanken weichen wollte. Gleichviel - konnte sich der Student früher viele Stunden hintereinander konzentrieren, um etwa ein anspruchsvolles Fachbuch zu studieren und gleich danach eigene Sentenzen niederzuschreiben – etwa einen Satz wie diesen: „Der Satz vom hinreichenden Grund wird angesichts der realen Grundlosigkeit aller apperzeptiven Begründungen gründlichst bestritten werden müssen“, oder aber, dass er lange - sehr lange - in uralten Lexika nachschlug, um etwas zu suchen, von dem er gar nicht annehmen konnte, dass es das Gesuchte überhaupt gab, und zu diesem Zwecke bis zur grauen Unendlichkeit in Lesesälen, Zeitschriftenmagazinen und Katalogräumen zubrachte, – all dieses begann irgendwie seinen Reiz zu verlieren.

Etwas anderes, etwas gefährlich Fremdes, war in seinen Geist eingedrungen. Und dieses Fremde hatte, der Brandfackel gleich, welche in einen alten Heuschober geworfen worden war, nun dessen nach Regen und Feuer (ganz gleich was von beidem) dürstend harrendes mürbe ältliches von irgendwelchen Feldern stammendes Schnittgut binnen Sekunden in einen Aschehaufen verwandelte; dieses Fremde hatte (um im eben gemalten Bilde zu bleiben) Leberechts Denken einfach mir nichts dir nichts - davongebrannt.

Denn es verhielt sich so: Nie mehr ging aus seinem Sinn fort jener Anblick des beim Ankleiden im Maximum überraschten Putzweibes, dessen Namen Leberecht Gottlieb sehr gern gleich in Erfahrung gebracht hätte. Aber ihren Namen wusste er zuerst lange nicht. Und wollte ihn auch noch gar nicht wissen, wenn er ehrlich war. „Denn auch das Göttliche hat ja keinen wirklichen Namen und ist über alle Namen und Bezeichnungen hoch erhaben“ hörte er eben den Professor tönen. Dann war die Vorlesung aus.

Unmittelbar nach dieser zweiten Vorlesung am 15. September erfuhr Leberecht von einem jener dreizehn anderen „Beweishörer“, dass das denkwürdige Colleg vom 8. September nicht etwa ausgefallen oder Leberecht Objekt eines albernen Scherzes geworden war. Nein, – der Professor hatte seiner alten und schnurrigen Laune wegen die Studenten am Beginn des Semesters zu sich nach Hause eingeladen. Und das wäre auf einem anderen (freilich sehr kleinen) Schild, als Nachricht in krakeliger Handschrift des Ordinarius höchstselbst verfasst, mit einer alten rostigen Reißzwecke angepinnt deutlich zu lesen gewesen. Leberecht aber hatte den Zettel in seiner leidenschaftlichen Gottes-Aufregung wohl übersehen ...

Im Hause des Professors reichte dessen Gattin leckere Häppchen zu duftendem Tee. Und zwei oder drei ihrer molligen Töchter, blondbezopft, niedlich und artig, gingen auf und ab im Raume. Und hätten auf Flöten Lieder geblasen, auch Violoncello und eine Gambe erklingen lassen. Dann aber waren sie wie kindlichen Elfenwesen bald wieder kichernd in den Nebenräumen der sehr großen Wohnung in der Georg Cantorstraße verschwunden – wahrscheinlich zu ihren Hausaufgaben. Der Professor Schleiffringk jedoch hätte währenddessen vom Kriege erzählt und von den Verwundungen am linken Knie, auch von Kant und seinem lieben Hauspropheten Oswald Spengler. Schließlich sei man gegen 19.00 Uhr wieder auf die Straße entlassen worden. Er, also Leberecht Gottlieb, hätte überhaupt nichts verpasst.

Heute nun ist der Student von ehedem selber ein alter Mann geworden. Er erinnerte sich noch oft an die enorme Putzfrau von ehedem. In ein altes Abbruchhaus war man mit einigen Kommilitonen gezogen und hatte jene Sylvia - denn so lautete ihr Name - trotz des durchaus bestehenden Standesunterschieds mit aufgenommen. Übrigens sehr zum Verdrusse einiger Eltern der Mitbewohner. Nicht selten dann, wenn Leberecht jenen heimatlos sehnsuchtsvollen Stierblick bekam, immer wenn ihn dieses transzendente Glotzen ins Unendliche anfiel, setze sich Sylvia auf die Knie des Studenten, wandte sich ihm dabei ganz zu und sagte ganz langsam die einfachen Worte: „Der Beweis bin ich!“

Leberecht versäumte in den Jahren seines Studiums manche Vorlesung und war demzufolge sowohl in Christlicher als auch Kirchlicher Dogmatik eher schwach. Die Freitage von 14 bis 15.30 Uhr gehörten nun nicht mehr nur dem Herrn Professor Schleiffringk. Sondern manche Stunde ward mit Sylvian verträumt. Und in einer dieser Stunden - irgendwo ganz weit draußen vor der Stadt beim Galgenberg nahe der Saalefelsen schoss Leberecht irgendwann um die Mittagsstunde folgender Gedanke durch den Kopf: Das göttliche „Ich bin, was ich bin“ aus dem Buche Exodus im Kapitel drei kann man nicht  einfach so lesen. Nein, das muss man selber durchgemacht haben. Und Leberecht Gottlieb nahm sich von diesem Tage an vor, einen geheimnisvollen Gottesbeweis gerade aus der Nichtbeweisbarkeit Gottes abzuleiten und die betreffenden Überlegungen unwiderruflich auf Papier zu bannen.  In Form von "netten Geschichten" - wie er er es zu nennen gedachte. Und genau davon soll im Folgenden weiter die Rede sein …

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mehr von Leberecht Gottlieb hier

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer
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