Traumwelten
Altes und neues von Leberecht Gottlieb (13)

Leberecht - auf dem großen Schiff

Ein Brief aus dem Kirchenamt war gekommen. „Aus dem Konsistorium“ wie Leberecht Gottlieb zu sagen pflegte - obwohl es ein Konsistorium schon längst nicht mehr gab. Diesen Brief nun mochte er nicht öffnen. Der alte Landgeistliche hielt sich von zwielichtiger Post seit Jahren in einer klugen Weise fern. Nein, manches beachtete er einfach nicht mehr. Sicherlich stand Unwichtiges oder sogar Unliebsames in diesem Schreiben. Er legte den Brief auf den Stapel zu den anderen Sachen, denen er keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Und dann legte er sich zum Mittagsschläfchen nieder. Denn der Mittagsschlaf war und ist und bleibt heilig. Sanft schlummerte Leberecht ein …

Dass ihm aber das noch passieren musste - der HERR selbst wohl hatte ihm jene Widersacherin erstehen lassen. Eine ordinierte Gemeindepädagogin namens Heide Elisabeth Hirt-Pfüffel und am Alter von etwa 42 Jahren. Im Zuge der Stellenreform seines Kirchenkreises waren bereits mehrere Pfarrstellen zusammengelegt worden. Und nun betraf es auch Leberechts eigene mit der des Nachbarkollegen, den der HERR vorfristig zu sich gerufen hatte. Genau das nahm der Superintendent zum Anlass, die beiden benachbarten Bereiche zu einem einzigen sich vereinen zu lassen. „Aus zwei mach eins, aus eins mach keins - so geht das Hexeneinmaleins“ lautete ein Spruch in den ostdeutschen Landeskirchen seit geraumer Zeit. Da er selber, Leberecht Gottlieb, in drei Jahren den Ruhestand erreichen würde, war geplant, Prätzschwitz mit Mumplitz zusammenzulegen. Um das Ganze als mutmachendes Pilotprojekt im Sinne eines disruptiven Gemeindeaufbaus zu inszenieren war Hirt-Pfüffel aus Hannover nach Mumplitz gebrieft worden. Die neue Kollegin würde das vereinigte Monstergebilde mit 27 Orten in drei Jahren aufgebrummt bekommen, dann nämlich, wenn Leberecht Gottlieb in den Ruhestand würde verabschiedet worden sein. Sie selber hatte dazu gesagt: „Und ich freue mich darauf!“

Ja - so ist der Lauf. Leberecht musste weichen. In ein Altersheim bei Göttingen ging es in absehbarer Zeit, das war schon fest gebucht. Von dort aus würde er dann vielleicht feurige Blitze nach der alten treulosen sächsischen Heimat entsenden. Schon lange feilte er an findigen Wetterstrahlen herum - einige waren bereits fix und fertig geschmiedet und warteten im Köcher auf ihre Stunde.

Aber dass ihm vorher das noch passieren musste … Diese Person mit Doppelnamen aus der Hannoverschen Landeskirche hatte tatsächlich vorgeschlagen, eine Gemeindefahrt auf der ARIDA, jenem unsäglichen und verfluchten DampfKreuzFahrtSchiff zu unternehmen. Die alten Damen aus seinem Seniorenkreis waren natürlich sofort Feuer und Flamme gewesen. Und dann war es dazu gekommen, dass der Gemeindekirchenrat, dessen Vorsitzender Leberecht Gottlieb seit der letzten Gemeindekirchenratswahl nicht mehr hatte sein dürfen, dem Projekt zusagte. Fördermittel aus einem missionarischen Fonds des Kirchenkreises waren beantragt und durch alle möglichen Kollegium sofort bestätigt worden. So kostete das dreiwöchige ARIDA-Spektakulum pro Person nur 399 Euro. Man wolle zu Zwölft ausschwärmen und auf dem Boot Mitreisende (zumeist Rentner*innen) missionieren, wieder in die Kirche einzutreten. Vielleicht waren ja auch Taufen bei mitreisenden Enkel*innen direkt dort auf dem Schiffe möglich? Die Gemeindepädagogin hatte ein 25-seitiges Projektpapier vorgelegt und darin stand, dass diese Taufe anlässlich des Übertritts über den "Äquator" genannten Erdmeridian erfolgen sollte. Das sei niedrigschwellig und gut.

Leberecht schüttelte den Kopf, als er seinen elektrischen Rasierapparat in das Reiseetui verstaute und den Pyjama sorgsam darüber breitete. Die Bibel musste natürlich mit. Er bevorzugte die deutsche Ausgabe des Alten und Neuen Testaments, wie sie von Hermann Menge akribisch genau übersetzt worden war. Auch für einen schmalen Band seines so geschätzten Lieblingsautors Romano Guardini war noch Platz im Köfferchen. Der blaue Pullover, ein paar Shorts, Socken, Sandalen und Sonnenhut. Die dunkle Brille - auch genügend Wäsche. „Walt´s der liebe Gott“ sagte Leberecht und riss den Reißverschluss zu. Morgen um fünf Uhr würde der Wecker schellen. Und dann ging es los - ins unabwendlich Unwägbare.

Es muss an dieser Stelle wieder einmal viel weglassen werden, damit wir das Wesentliche berichten können und der Leser nicht schon am Anfang inhaltlich aussteigt. Das Projektpapier von Heide-Elisabeth Hirt-Pfüffel z.B. ist an anderem Ort zu studieren - es zeigt den konsequenten Niedergang der protestantischen Denkungsart, seit dieselbe sich ab den späten Sechzigern des 20. Jahrhunderts mit dem links-grünen Mainstream zu verhuren gedacht hatte - aber nein, das ist zu hart und tendenziös formuliert - und man soll es so nicht frei heraus sagen. Die ehemals seriöse Theologie hatte man absichtlich vergessen wollen, sie verachtet und es war dieselbe sogar von maßgeblichen Personen aus dem Herzen des Kirchenamtes mit fast satanischer Verve in ihrer Bedeutung zerstört worden. Die Leitung der Kirche war Schritt für Schritt unmerklich immer mehr in die Hände von Verwaltungsleuten übergegangen, die die arme Alte unbewusst oder hier und da sogar ganz offen und gerade heraus hassten - kein wirkliches Buch nie wirklich gelesen oder verstanden und auch keine Ahnung von den Bekenntnisschriften hatten. Das ehemals so triumphale Schiff der Kirche, mit dem seinerzeit die neuen Kontinente besucht und von denen herab der Glaube an den Heiland Schwarzen und Südamerikanern, Australiern und Bewohnern der nördlichen Eisschollen gebracht worden war - lag abgetakelt im vergessenen Hafen einer großen Zeit, von der niemand mehr etwas wissen wollte. So dachte Leberecht bei sich selbst - und mancher wird es schwer haben, ihm zu verzeihen. Was soll's ... Den Text Hirt-Pfüffels, den wir hier nicht wiedergeben, der aber trotzdem die kleine Dorfgemeinschaft aus Prätzsch- und Mumplitz zur Fahrt hinaus auf das offene Meer gedungen hatte, war eine Ansammlung logisch unzusammenhängender Versatzstücke sozialphilosophischer Ideologeme - alles sprachlich konsequent gegendert, dass einem beim Lesen die Tränen kamen. Da war die Rede von lebbarem und gelingendem Leben. Von Inklusion als Extension der Qualifikation, von der familiengerechten Verstetigung spezieller Alleinstellungsmerkmale sinnzentriert niedrigschwelliger Angebote für die der Kirche bisher noch weithin distanziert gegenüberstehenden Interessent*innen usw. Wir können diesen kompletten Irrsinn hier nicht, sondern nur den Schluss der ganzen Geschichte erzählen.

Das Schiff nämlich ging natürlich unter ... Und zwar lief die ARIDA nicht etwa auf einen Eisberg, denn am Äquator gibt es kein Eis. Sie wurde von Poseidon höchstpersönlich in den Abgrund gerissen. Es hatte nämlich Heide-Elisabeth Hirt-Pfüffel, die ordinierte Gemeindepädagogin aus Hannover/Mumplitz, tatsächlich den Kapitän der ARIDA umgarnen können und dazu gebracht (wie und auf welche Weise, das überlassen wir der Phantasie unserer Leser*innen), hatte den Mann mit Dreitagebart also dazu gebracht, die alte Poseidontaufe auszutauschen mit der Taufe auf den Namen einer höhergestellten Gottheit, - nämlich derjenigen der Christen. Und genau an dieser Stelle kannte Poseidon keinen Spaß. Er begnügte sich also nicht damit, nur die Frau aus Hannover über Bord gehen und die anderen dafür ungeschoren zu lassen. Nein - er griff sich den ganzen Kahn mit 1.000 und mehr Leuten. Dabei soll er dem Berichte nach, den einige in der Nähe fischende Fischer gehört haben wollen, gerufen haben: „Gedenke des Laertes´ Sohn.“ Und zwar in Griechisch, Latein und auch auf arabisch. Die verdutzten Omas aus Sachsen fragten die Gemeindepädagogin, was das zu bedeuten habe? Und weil Hirt-Pfüffel Arabisch konnte, übersetzte sie den Lauschenden, denen das Wasser schon bis zum Halse stand, jenen Orakelspruch, so gut sie es eben konnte. Freilich - den Laertes kannte sie nicht, auch nicht dessen Sohn Odysseus. Deshalb geben wir hier dem Wissenden einen kryptischen Wink: Poseidon, der von dem alten Juden-Gott die Herrschaft über Erdbeben, Seen und Meere übertragen bekommen hat, sah die kulturelle Ordnung am Äquator in Gefahr. „Keine Experimente!“ dachte er sich und beförderte den Kahn nach unten, wie schon Odysseus oft erlebt hatte, dass Boote, in denen Dinge geschahen, die der Weltordnung nicht entsprachen, an der Weiterfahrt offenbar gehindert werden.

Leberecht Gottlieb traf es auch. Er umklammerte seinen Koffer mit beiden Händen - und sagte leise immer wieder: „Ich hab es gewusst. Ich hab es gewusst!“ Mit zusammengekniffenen Lippen sank er auf den Grund des unermesslichen Urozeans. Die anderen Rentner schrien und fuchtelten und kreischten unwürdig. Von der Gemeindepädagogin war weit und breit nichts zu sehen. Vielleicht war sie mit dem feschen Kapitän in eines der wieder einmal viel zu wenigen Rettungsboote gestiegen. Aber unten am Grunde war sie dann doch auf einmal da, denn das Schicksal sollte diesmal auch die Rädelsführer*in erwischen. Nachdem durchgezählt worden und alle 1.000 Seelen zusammen waren, sperrten irgendwelche Phorkiaden ein eisernes Gitter auf und man gelangte zu den grauen Auen des Hades. Dort musste man sich niederlassen und es wurden die Bücher aufgetan, die Sünden wurden vorgelesen und die großen und kleinen mit einem einzigen Federstrich getilgt. Unterwasser geht das ganz leicht. Dann durfte man sich aussuchen, wo man hin wollte. In die Hölle und/oder in den Himmel. Die Senior*innen lachten und waren allesamt schon wieder oben auf. Und Hirt-Pfüffel meinte leichthin: „Wir gehen dahin, wo es gelingendes Leben gibt.“ - Nach einer kurzen Pause tönte es: „Ja, ja, ja.“ Alle brabbelten wie aus einem Munde: "Gelingendes Leben!" Früher hieß das mal "Heil", dachte Leberecht Gottlieb, dann aber galt es Obacht zu geben, denn ein Phorkiade mit Dreizack öffnete zwei Pforten. Eine war eng und klein, da passte mit Mühe nur einer hindurch. Die andere war weit und an der Seite mit bunten LED-Lämpchen bestückt, die flackerten, dass es nur so eine Art hatte. „Da hinein, dahinein“, jubelten die Frauen und schon betraten sie unter Anleitung ihrer Führerin Heide-Elisabeth Hirt-Pfüffel den breiten Weg. Leberecht aber war misstrauisch - hatte der Phorkiade ihn nicht eben so bedeutsam angeschaut - so überaus bedeutsam? Und er wählte den schmalen Weg.

Ja - und schon kommen wir zum Schluss der Geschichte, die nicht erfunden worden ist, sonder so wahr ist wie das Wetter draußen vor der Tür! Leberecht gelangte nach langer Wanderschaft bei einem Kloster im Elsass an. Dort läuteten melodisch uralte Bronzeglocken und man schritt über Feld und Heide einem romanischen Gebäudekomplex zu, wo fleißige Brüder mit milde lächelnden Gesichtern Kühe molken, Käse herstellten, Bier brauten und Wein kelterten, uralte Handschriften abschrieben - und die seit Jahrhunderten überlieferten mit den bereits kopierten klugen Gesichts pflegten und sich alle drei Stunden zum gesungenen Gebet und wohltönender Väterlesung zusammen fanden. Abends gingen sie in das Dorf und predigten den Tieren und Leuten, heilten deren Gebrechen und betrachteten den bestirnten Himmel über sich, ehe sie wieder zum Nachtgebet den Weg ins Kloster antraten. Sie sagten zu Leberechten: „Nun, lieber Bruder. Laudetur Iesus Christus! Bleibet nur bei uns - hier ist gut sein. Dort stehet eure Hütte.“ Leberecht bezog das neue Haus und stellte sein Guardinibuch und die Mengebibel neben einige Notensammlungen aus dem 9. Jahrhundert direkt an den Evangeliar Otto des I. mit Ikonen aus Byzanz. Dann legte er sich auf ein überaus duftendes Lager aus Heu, Blumen und Stroh - und nickte dankbar ein. Als er erwachte, war es bereits heller Morgen. Leberecht Gottlieb sprang auf, hatte da nicht etwas geläutet? Der Blick aus dem Fenster ließ ihn der zur Laudes schreitenden Brüder ansichtig werden. An der Wand seiner Kammer hing neben dem Kreuz des Erlösers ein Gewand, das er sich überwarf, darin eilte er nach draußen. In der angenehmen Kühle der Kapelle sangen sie den 139. Psalm und beteten das Gotteslob. Dann ging es zum Essen, frisches Vollkornbrot, Quark mit Kräutern und Wasser aus der Quelle. Leberecht überlegte, - waren sie nicht gerade eben mit der ARIDA untergegangen? Wo war er hier und wo waren die anderen. Natürlich - wo war Hirt-Pfüffel und der Kreis seiner Altchen, zu denen er ja irgendwie dazugehört hatte?

Er eilte auf den Prior zu und begann diesen zu befragen: „Wo sind die Meinen?“ Der beruhigte den aufgeregten Bruder und sprach wohltönend: „ W i r sind die Deinen!“ - Leberecht: „Aber die Gemeindepädagogin und die alten Damen vom Schiff?“ Da erhob sich der würdige Prior und schritt zu einem Vorhang in der Nordwand des Refektoriums. Er zog den dunkelbraunen schweren Stoff mit leichtem Schwung von links nach rechts - dann winkte er Leberechten zu, er solle herantreten. Als das geschehen war, wies der Abt mit der Rechten in die Ferne nach einem seltsamen Lande hin. Und da waren sie alle! Die Gemeindepädagogin aus Hannover Heide-Elisabeth Hirt-Pfüffel stand gebietend auf der kleinen Kanzel einer als Kirche im Stile Ticki Küstenmachers aufgeblasenen riesigen Hüpfburg. Sie ruderte mit den Armen in der Luft herum, und man konnte deutlich ahnen, dass sie denen, die unten saßen etwas zurief - sicher etwas vom gelingenden Leben. Es hatten sich bei 1.000 Leuten auf der großen wabernden Hüpfburg gelagert. Bunt angezogene Caterer gingen herum und verteilten etwas, was jene zu sich nahmen und sich damit sättigten. Gleißend blendendes Licht kam aus Scheinwerfern, welche überall aufgestellt worden waren und wiederverwendbaren Strom selbst erzeugten und dadurch zugleich verbrauchten. Viele bekannte Gesichter sah Leberecht Gottlieb. Natürlich auch Margot - frisch geföhnt mit blaugrauer Frisur. Viele, vor denen er sich je gefürchtet hatte, sie waren dort versammelt. Und er erkannte sie alle. Sie sangen das Lied, das kein Ende findet - weder jetzt noch in Ewigkeit. „Was ist das“, hochwürdiger Abt, fragte Leberecht den Prior „Und wer sind jene in den bunten Kleidern?“ Der Abt ließ den Vorhang wieder vor das Bild fallen, führte den erschütterten Pastor zurück auf seinen Platz und sprach: „Bekümmert euch nicht. Es sind jene, die den Weg der Hüpfburgen für sich erkoren, Zerstreuung suchten, sie gewählt und durch Gottes Gnade auch gefunden haben. Ihrer sind genug. Ihr müsset nicht dazugehören. Haltet euch nur zu uns. Hier bei uns ist die Glut der alten Kirche - und wir hüten sie für die kommenden Jahrtausende. Aber müssen uns ebenfalls davor hüten, von unserem Brande auch nur ein einziges Fünklein auf den Gummi jener HüpfBurgKirchen da draußen zu werfen. Dieselben würden sonst alle mit ohrenbetäubendem Krachen zerplatzen.“ So der hochwürdige Abt in Leberechts Traum.

Und genau in diesem Moment gab es tatsächlich einen lauten Knall. Leberecht fuhr vom Mittagsschlaf auf. Der Briefbeschwerer! Der alte Briefbeschwerer aus Messing war vom Schreibtisch gestürzt und auf den Fußboden gefallen. Denn der Turm jener Post, die Leberecht seit Jahren nicht öffnete, sondern nur beschwerte, war im Laufe der Zeit sehr angewachsen und hatte sich mit dem letzten Brief aus dem nicht mehr vorhandenen Konsistorium noch weiter geneigt als der in Pisa. Schließlich auch zu Boden gestürzt. Leberecht stand auf, öffnete den jüngsten Brief, las ihn - und erstarrte …

 Fortsetzung folgt ...

Autor:

Matthias Schollmeyer

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