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Schuldkult und Selbsthass

Selbsthass und Schuldkult als neoreligiöse Surrogate
Es ist eine der eigentümlichsten Erscheinungen unserer Gegenwart, dass ganze Gesellschaftsgruppen damit begonnen haben, ihre kollektive Identität auf der Abwertung des eigenen Selbst zu errichten. Was in der Antike einmal als individuelle moralische Korrektur galt und im Kultus des alten Volkes Israels in der Hoffnung auf Versöhnung gefeiert wurde, ist heute in einigen Milieus zu einer „Neoreligion ohne Gott” geworden: Selbsthass als moralische Haltung, Schuldkult als gesellschaftliche Praxis.

Diese beiden Phänomene – der Selbsthass und der Schuldkult – sind sozusagen siamesische Zwillinge. Der eine lebt von der inneren Abwertung, der andere von der öffentlichen Inszenierung dieser Abwertung. Selbsthass wirkt nach innen, als permanente Selbstanklage; der Schuldkult wirkt nach außen, als Ritual, in dem man die eigene Unwürdigkeit vor den Augen der Welt bekennt. Beide zusammen ergeben eine dynamische, in sich geschlossene Religionsform, deren Dogmen umso strenger sind, je weniger sie auf eine reale Erlösung hoffen lassen können.

I. Anthropologische und psychologische Struktur
Selbsthass ist mehr als ein flüchtiges Gefühl. Er ist ein Identitätsmuster, das sich aus verschiedenen Quellen speist: aus echter Schuld, die nicht vergeben wird; aus von außen übernommenen Urteilen, die im Inneren zu einer zweiten Stimme werden; aus dem ständigen Vergleich mit Idealen, die unerreichbar sind. In dieser Form ist er eine Verkehrung der natürlichen Selbstannahme – nicht mehr die Demut vor dem eigenen Maß dominiert, sondern die Verachtung des eigenen Seins.

Der Schuldkult nun übernimmt diesen inneren Zustand und verwandelt ihn in ein öffentlich-ernstes und dramatisches Theaterspiel. Schuldkult gibt dem Selbsthass eine Bühne, verleiht ihm Rituale und eine Hierarchie: Bekenntnis, mediale Selbstbezichtigung, endlose „Bildungsprogramme“ der Buße und geförderte Projekte sind die Folge. Schuldkult kennt kein Ziel außer der Verlängerung seiner selbst. Die ursprüngliche Bewegung von der Schuld hin zur Versöhnung wird dabei ersetzt durch eine Endlosschleife von Bekenntnis und erneuter Anklage.

II. Der paradoxe Nutzen
Merkwürdig genug: Wer sich selbst hasst, kann daraus offenbar Gewinn ziehen. Selbsthass kann als moralische Wachheit inszeniert werden – „Ich bin so kritisch, dass ich mich selbst am schärfsten verurteile.“ Selbsthass kann Entlastung bringen – „Da ich grundlegend verfehlt bin, kann niemand mehr erwarten, dass ich besser werde.“ Und das kann Zugehörigkeit stiften – „Wir sind gemeinsam unwürdig, und gerade das macht uns rein.“

Der Schuldkult steigert diesen Nutzen: Wer eine große Schuld trägt – real oder imaginiert – kann daraus moralisches Kapital schlagen. Er wird Teil einer priesterlichen Kaste von Büßern, die definiert, welche Gesten, Zahlungen oder politischen Akte als Sühne gelten werden. Dieses Muster findet sich nicht nur heute, sondern durchzieht die Geschichte.

III. Historische Tiefenschicht
Die Geschichte kennt Schuldkulte, die entweder auf realer bzw. als tatsächlich angenommener und damit ebenfalls wirklicher Schuld beruhen:
1. Die Opferliturgie des Jom Kippur im antiken Israel: gemeinsames Bekenntnis, rituelle Reinigung, Neuanfang.
2. Das spätmittelalterliche Ablasswesen: reale kirchliche Bußpraxis, die jedoch Gefahr lief, Schuld in eine handelbare Ware zu verwandeln.
3. Die Selbstkritikrituale der chinesischen Kulturrevolution: öffentliche Selbstanklage als Loyalitätsprüfung.
4. Die deutsche Vergangenheitsbewältigung nach 1945 (Re-Education): eine einzigartige, jahrzehntelange Auseinandersetzung mit historischen Verbrechen, groß in ihrer moralischen Tiefe, zugleich anfällig für die Erstarrung in einem Dauerzustand der Depression und Selbstentfremdung.
5. Die totalisierte „Erbschuld“ ganzer Bevölkerungen aufgrund ethnischer Herkunft.
6. Die apokalyptische Deutung des Klimawandels als Sündenstrafe der Planetin Mutter Natur, in der der Mensch als kosmischer Störfaktor inszeniert wird, und jede Handlung nur Buße oder Sünde ist.
7. verschiedene Narrative von geheimen Eliten, welche Völker durch künstliche Schuldgefühle steuern.
8. Esoterische Konstrukte wie „karmische Schulden aus Atlantis“, die gegen Seminargebühren „abgetragen“ werden können.

IV. Moderne Erscheinungsformen im postkolonialen Zeitalter
In der Gegenwart verbinden sich Selbsthass und Schuldkult zu einer identitätspolitischen Liturgie.
9. Klimakult: Wissenschaftliche Fakten werden in endzeitliche Moralgeschichten umverwandelt; der Bußpfad besteht aus CO₂-Kompensation, Verzichtsritualen und öffentlicher Selbstbezichtigung.
10. Kolonialismus und Neokolonialismus: Historische Unterdrückung wird so verallgemeinert, dass die Schuld als unaufhebbar gilt und jede neue Generation als moralischer Erbe der Täterseite auftritt – unabhängig von persönlicher Verantwortung.

Natürlich gibt es Schuld, und die Entwicklung eines analytischen Schuldbewusstseins und die Fähigkeit dazu, Fehlerhaftigkeit von Denken und Handeln zu bemerken und zu beschreiben, ist aus der Entwicklung des menschlichen Geistes und Kultur nicht fortzudenken - aber wo deutlich wird, dass Schuldbeschreibung nicht mehr der moralischen Erneuerung dient, sondern der dauerhaften Konstruktion einer Hierarchie zwischen den Schuldigen und den Anklägern, ist zumindest Vorsicht geboten und genauere Analyse notwendig.

V. Das theologische und kulturelle Problem
Die klassische Religion kannte die Bewegung von Schuld zur Vergebung – ein Weg, der befreit. Die Neoreligion des Selbsthasses und des Schuldkults kennt diese Bewegung nicht. Sie lebt von der endlosen Wiederholung des Bekenntnisses ohne die erlösende Antwort. Das Ergebnis ist eine hermetische Kultur der Selbstanklage, die wie ein Perpetuum mobile funktioniert: Jede Handlung, jedes Ereignis liefert neuen Stoff für Buße und Selbstverachtung.

So entsteht eine neue Liturgie: eine säkulare Messe ohne Evangelium, ein Jom Kippur ohne Entlassung in den Frieden. Die Priesterschaft dieser Religion ist mobil, medienaffin und transnational. Ihr Altar steht nicht mehr in Tempeln, Synagogen und Kirchen, sondern auf der Bühne unbarmherzig.globaler Öffentlichkeit mit dem Versuch unendlich langer Nutzerbindung.

Die Frage ist, ob solche Zivilisationen auf Dauer gut bestehen werden. Denn wo Schuld nicht aufgehoben, sondern kultisch konserviert wird, wächst die Versuchung, die Schuld anderen aufzuzwingen – um nicht allein in ihr verharren zu müssen und damit unter zu gehen. Damit aber verwandeln sich Selbsthass und Schuldkult von einer inneren Haltung in ein expansives System, das nach immer neuen Büßern sucht – und diese wohl in leichtgläubigen Zeitgenoss*Innen auch findet …

VI. als Schlussexkurs: Die Frankfurter Schule als Hochform von Selbsthass und Schuldkult
Kaum eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts hat die intellektuelle Architektur von Selbsthass und Schuldkult so nachhaltig geprägt wie die sogenannte Frankfurter Schule. Entstanden im Umfeld des Instituts für Sozialforschung in den 1920er Jahren, verband sie marxistische Gesellschaftskritik mit psychoanalytischer Tiefeninterpretation und einer kulturpessimistischen Lesart der Moderne.

Das theoretische Fundament war klar: Gesellschaften, insbesondere westliche Industriegesellschaften, sind strukturell durch Herrschaft, Ausbeutung und Entfremdung gezeichnet. Die Aufgabe des kritischen Intellektuellen ist es, diese verborgenen Machtstrukturen zu entlarven und die „falsche Versöhnung“ bürgerlicher Ideologien zu zerstören. Und hier liegt wahrscheinlich auch einer der Schlüssel zum modernen Schuldkult: Schuld ist nicht mehr nur die Folge konkreter Taten, sondern eine Grundstruktur der gesamten Kultur – und somit unausweichlich. Drei Punkte sind dabei entscheidend:

1. Die Totalisierung der Schuld
Die Frankfurter Schule verallgemeinert(e) moralische Anklagen zu einer totalen Kulturkritik: Jede Institution, jede Tradition, jede kulturelle Praxis wird erst einmal generell unter Verdacht gestellt, Ausdruck von Unterdrückung zu sein. Damit wird Schuld nicht punktuell, sondern allgegenwärtig – ein Dauerzustand, aus dem es keine Entlassung gibt.

2. Die Intellektualisierung der Vorformen von Selbsthass
Indem das eigene kulturelle Erbe als strukturell verwerflich analysiert wird, entsteht ein „elaborierter Selbsthass“, der nicht emotional oder chaotisch, sondern systematisch und argumentativ begründet auftritt. Man ist nicht einfach unzufrieden mit der eigenen Herkunft – man kann sie seitenlang mit Fußnoten und Zitaten aus Adorno, Horkheimer oder Marcuse verurteilen.

3. Die Umwandlung in ein Bildungs- und Herrschaftsinstrument
Die Schuldanalyse wird zum Prüfstein intellektueller Zugehörigkeit: Wer die Grunddiagnosen nicht teilt, gilt als rückständig oder moralisch defizitär. Auf diese Weise formt sich eine Elite, die nicht auf Macht durch Besitz oder Militär setzt, sondern auf moralisierende Deutungsmacht – eine subtile, aber durchschlagende Form der kulturellen Hegemonie.

Von diesem Ausgangspunkt her gesehen hat die kritische Theorie die intellektuellen Milieus der westlichen Linken tief durchdrungen. In postkolonialen Diskursen, in feministischen Theorien, in der Klimabewegung und in antirassistischen Strömungen lebt ihr Grundmuster fort
- Als Selbsthass, die eigene Kultur als strukturell schuldig und unrettbar verstrickt in Unterdrückungszusammenhänge zu verstehen.
- Als Schuldkult, den nie endenden Prozess öffentlicher Selbstkritik mit politischem Aktivismus zu kombinieren, der auf die Umkehrung oder Auflösung bestehender Strukturen zielt.

Besonders in den politischen Strömungen großer Teile der zur akademischen Linken zählenden Milieus zeigt sich, wie diese Denkweise zur Leitideologie werden konnte: Der moralische Maßstab ist nicht mehr das Erreichen einer konkreten Verbesserung, sondern in erster Linie die Intensität des Schuldbewusstseins und die Bereitschaft, dieses öffentlich zu zelebrieren.

Damit hat die Frankfurter Schule eine paradox anmutende Meisterleistung vollbracht: Sie hat Selbsthass und Schuldkult nicht nur theoretisch legitimiert, sondern ästhetisch und rhetorisch derartig verfeinert, so dass Selbsthass und Schuldkult heute für Kompetenz und höchsten Ausdruck von moralischer Sensibilität gehalten werden – und damit unbewusst als machtvolle Instrumente innerhalb der politischen und kulturellen Selbststeuerung ganzer Milieus dienen. So steht am Ende eine Zivilreligion, deren heiligste Handlung nicht die Versöhnung, sondern endlos lähmende Bußritual darstellen.

Autor:

Matthias Schollmeyer

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