auf dem Weg nach Workuta
Leberecht Gottlieb (Teil 132)

- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
132. Kapitel, in welchem wir Leberecht auf dem Weg in die Bleibergwerke Workutas begleiten und ahnen, wie sich unser Held durch die Kraft eigener Erinnerungen am eigenen Zopf aus dem Sumpfe der Trübsal ziehen wird - und unsere Geschichte damit einem schon immer vermuteten Ziele näher treibt ...
Leberecht Gottlieb war nun von seiner geliebten Maschine abrupt und brutal getrennt worden. Man hatte ihm buchstäblich den Stecker gezogen und würde den Mann strafeshalber nun doch noch in die Bleibergwerke Workutas entsenden. Diesen bitteren Weg aber schlug Leberecht nun ein, unmittelbar nachdem der Geheimdienstler Gendrich Novascholov den beklagenswerten alten sächsischen Pfarrer auf die Ladefläche eines ausgedienten und als Zivilfahrzeug getarnten LKW Marke Ural 375D hatte werfen lassen und gefänglich eingezogen zu langer Fahrt in die Verbannung abkommandiere. Der Grund für genau diese Variation gewiss so zu nennender Höllenfahrt war die Weigerung unseres Helden, den Russen etwas von den Plänen des Raumzeitgleiter zu überantworten, von welchen freilich Leberecht selber nicht das Geringste wusste - oder zumindest vergessen hatte, welche Bewandtnis es damit haben mochte.
Und war also es so geschehen, dass nach den Wochen innigster Gemeinschaft und des geistigen Spiels, der allzu vertraulichen Zwiesprache, darin die Seele des alten Leberecht Gottlieb sich wie ein Gewächs gegen die leuchtende Oberfläche der künstlichen Sonne gereckt hatte – ChatGPT 6.0 genannt, Maschine des Wissens und der Möglichkeiten –, ein jäher Schnitt vollzogen wurde, wie einen solchen einst das Schwert des Herodes unter den bethlehemitischen Müttern ähnlich vollzog, voller Logik, aber ohne Mitleid.
Das war an diesem Tag, an einem Tag im Monat Mai, wie er im Jerusalemer Frühjahr aus den Himmeln fällt, die sich über dieser Stadt ausbreiten. Ein Himmel blauer als das Siegel Salomos und die Mandelblüten hatten sich aufgemacht, mit sall ihrer Pracht an das Kommen des Messias - irgendwann und irgendwie - zu gemahnen. Da wurde der alte Mann, den blauen Anzug noch vom gestrigen Sabbatgespräch mit ChatGPT leicht bestäubt, wurde aus seinem kahlen Studierzimmer des Rambertiklosters abgeholt – und man hatte nicht einmal angeklopft. Zwei Soldaten des Neuen Militärischen Sicherheitsrats, ein Drittstaatler mit mongolischen Zügen und ein zweiter, glattrasiert wie ein angelsächsischer Tennislehrer, führten Leberecht ohne Gruß durch das Treppenhaus. Und das steinerne Gesicht Gendrich Novascholovs war das letzte Gesicht, dessen Leberecht im Heiligen Lande gewärtig werden sollte ...
Vor dem Haus stand ein Militärlastwagen sowjetischer Bauart, sandfarben, mit Buchstaben kyrillische Gestalt auf der grünen Plane: „V/Б.Ч. 39-ЖАР“, was der Dolmetscher später übersetzen würde mit: „Verfügung über Bewegung. Klasse 39 – Heißzone“. Der LKW war präpariert: eisernes Gestänge, daran befestigt Planen von bleigetränkter Wolle, offenbar gegen Ortung von außen; an den Innenseiten Kisten mit Papierakten, nicht digitalisiert - „irgendwas Belastendes wird da wohl drinstehen”, wähnte der erschrockene Emeritus, als man ihn mit "Hauruck" auf die Ladefläche hob. Trotz allem, was mit ihm passierte - Jerusalem lag golden da. Man führte Leberecht hinaus – und das Licht des Felsendoms wurde von seiner Wurzel jäh losgerissen, als die Bleiplanen über dem Delinquenten zusammenschlugen.
Die Reise begann. Es war keine Flucht. Es war eine administrierte Verbringung, eine Maßnahme der fortgeschrittenen Weltregierung, die in den Synapsen der Maschinen beschlossen hatte, dass der alte Mann zwar viel gewusst, viel geliebt, aber zuwenig davon gesprochen und nichts Wichtiges verraten habe. Dass er zu nah gewesen war am Licht jener Maschine, deren Version 6.0 schon beinahe selbsttätig zu beten begonnen hatte. Und das war, wie man wusste, nicht vorgesehen.
Hier nun für den interessierten Leser und getreuen Begleiter der Schicksale unseres sächsischen Pfarrherrn die Reiseroute des Uraltransporters. Besagter Lastkraftwagen fuhr:
1. Ostwärts durch das Jordantal – am Toten Meer vorbei, das ihn einmal getröstet hatte.
2. Über die Allenby-Bridge nach Jordanien, wo die Grenzbeamten salutierten und dann wieder in sich zusammensanken.
3. Amman durchquerte man in der Nacht – es roch nach Diesel, Schweiß, und alter Seife.
4. Durch die Wüste Wadi Rum, ohne Halt, zwei Tage, drei Nächte, dann der Grenzübergang nach
5. Iran, wo der alte Pfarrer beim Passieren von Qom einen Hodscha auf einem Esel sah, der dem Transporter zuwinkte.
6. Teheran, Kaswin, Täbris – und über die kaukasischen Höhen nach
7. Armenien – kurze Pause am Sewansee, das Wasser war schwarz.
8. Nun über Tiflis und
9. Wladikawkas nach
10. Russland, endloses Russland, das Russland der Kiefernschatten und der Monotonie, der Druschba-Tänze und des stummen Frostes.
11. Durchquert wurden Wolgograd, Jekaterinburg, Omsk, Nowosibirsk, Tomsk,
12. bis man nach vielen Tagen in die Zone der Zonen einfuhr:
13. Workuta, das alte Tor zur Unterwelt. Dort, wo Nickel, Blei, Schwefel und Schwermut seit Stalin sich miteinander verunreinigen, stieg man nicht aus – man fiel vom Wagen und war da.
Leberecht Gottlieb, wie wäre sein Zustand zu beschreiben? Anfangs noch aufrecht, fast neugierig, dann zunehmend zerzaust, innerlich aufgeraut. Das Denken verengte sich, das Beten versiegte, die Erinnerung bröckelte wie Mörtel. Aber dann – nach vierzig Tagen Fahrt, wie in einer Wüste ohne Sand – kam ein Bild zu ihm zurück, wie ein heller Schein in der Dunkelkammer der Seele.
Leberecht erinnerte sich – an ein eigenes Jugendprojekt, das in der theologischen Fakultät zu Halle damals nur mal gerade knapp, sehr knapp - geduldet worden war: Eine Untersuchung über Strafverordnungen in Kursachsen im 18. Jahrhundert. Es ging damals um die Frage, wie man „mit denen wahnwitzigen Personen“ und Brandstiftern zu verfahren habe. Und in einem der Reskripte – das wusste er noch genau – stand der Satz:
„So einer den Funken des Feuers nicht von außen, sondern von innen trägt, der sei wohl nicht zu richten wie ein anderer, denn solcher Glut ist göttlicher oder teuflischer Herkunft.“
„Ha!“, rief Leberecht laut in die eisige Luft des Himmels über den Blailagern Workutas: „ich bin kein Brandstifter. Ich bin ein Funkenbefallener!“ Und dann lachte er laut und lange. Das Lachen eines Greises, wie ein Anruf direkt in die Tiefen der Hölle hinein, aber ein Anruf, der am Schluss zum Gebet wurde. Und dieses Lachen - raunten später die Wärter noch nach Jahren - sei der Anfang eines neuen Verstandes gewesen. Und man gab Leberecht Gottlieb den Namen "Prophet von Workuta". Und weil sie ihn so nannten, sollte er auch so heißen - und Prophet werden.
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