die Beeinflussung Anankes
Leberecht Gottlieb (63)

Kapitel 63 - in welchem wir erfahren, wie Leberecht Gottlieb den Entschluss fasst, das heilige Land und in Sonderheit die dortige Stadt Jerusalem zu bereisen, um die Koalitionsverhandlungen in Dresden zu beeinflussen ...

Lieber Freund, wie ist hier im Heiligen Lande das Leben so überaus schön! Im hohen Alter dazu, in dem wir uns beide befinden. Das Zeitreisen verjüngt um vieles noch mehr, als ich vor Jahren zu denken es wagte. Eben kehr ich von unten zurück, verließ die Stadt und stieg herauf - nun sitze ich wieder bei den Olivenbäumen.
Die Sonne schien uns durch die colorierten Glasfenster der Rambertikapelle und bemalte den grauen Steinfußboden unten in der Krypta, wo wir zur Ehre Gottes beten und singen, mit absonderlichsten Farbphantasien. Etwa bei einer halben Stunde dauert der Mittagsgesang. Die Farbbilder wandern innerhalb dieser Zeit immer etwa zwei halbe Meter weiter. So besteht, kam mir heute der Gedanke in den Sinn, eine bemerkenswerte Beziehung zwischen dem zurückgelegten Weg im Raum einerseits und der innerhalb der Ewigkeit verstrichenen Zeit andererseits – Meter und Minuten. sind Maße für diese Veränderung. 

Die Sonne steht dann im Zenit und halbiert von dort aus gesehen den oberen Tierkreisbogen vom an den Ascendenten grenzenden zwölften Haus gerechnet, bis nach hinten zum siebenten Haus am Descendenten – ebenfalls in zwei Teile. Denn drei Felder hat Helios bis zum Mittagsschlag der Glocke zu durchmessen, ebensoviele Felder stehen ihm als Weg für die Nachmittagszeit bis zum Abend noch bevor. Ist es aber dieselbe Dauer, die er für die ersten drei zurückgelegten Felder benötigt hat, wie er für die noch zu bewältigenden brauchen muss? Und ist es jeweils eine gleichlange Wegstrecke von Ort zu Ort? Nein - und deshalb merke Dir das auf’s Genaueste, – es sind deshalb auch ganz andere Ereignisinhalte, die bei dieser Bewegungsdauer zwischen verschiedenen Orten eine Rolle gespielt haben werden. Damit ist auch das Geschehen ein jeweils anderes gewesen. Zeit und Ort sind immer in unlösbarer Verbindung zum Inhalt mit dem ihm innewohnenden besonderem Sinn zu betrachten, welcher sich im Raume so oder so dauerhaft abspielt.

Aber was ist nun eigentlich ein solcher je besonderer thematischer Inhalt? Was ist ein Ereignis, ein Begebnis, ein Geschehnis? Ich erkläre es Dir, ferner Freund, folgendermaßen: Ein thematischer Inhalt ist der Versuch des Sinnraumes, sich von den ihn knechtenden Bedingungen, welche ihm Zeit und Ort auferlegen, loszumachen. Oder, – das jeweilige Ereignis ist die Zeit, wo sie versucht, sich an einem bestimmten Ort von der Gleichförmigkeit des Ewigen zu befreien. Und der Ort wäre als Gefängnis zu verstehen, an dem ein solcher Inhalt festklebte. Ach, – lieber Uschmann! Es ist das alles ganz ungelenk ausgedrückt und ich ringe um jedes Wort. Verstehst Du wenigstens ansatzweise, was ich meine? Ich selber taste ja noch ganz am Anfang an diesen geheimnisvollen Verbindungen herum, die zwischen Orten, Zeitpunkten und thematischen Inhalten bestehen. Jedoch beim Singen der Psalmen am Mittag schien ich alles wieder sehr, sehr klar zu sehen. Steige ich dann aber wieder nach hier herauf, in meine Laube unter den Ölbäumen, oder begebe ich mich in die Bibliothek des Rambertiklosters und versuche, das im Gesang Erlebte mit Worten anderen (und mir selbst!) zu übermitteln, bleibe ich - wie auch eben jetzt - recht unzufrieden zurück.

Das vergaß ich, noch anzufügen. Die Planeten sind hilfreich bei der ganzen Sache. Und sie scheinen uns eine Antwort geben zu wollen: Denn die Planeten sind in Bezug auf das Zeitliche und Räumliche als willige Gehilfen für die Erkenntnis aufzufassen. Einmal nämlich haben sie ihre bestimmte Umlaufdauer im Kreis, – dadurch ist ihre Zeit bestimmt. Zum Anderen stehen sie draußen im Weltraume an bestimmten Stellen und (artis astrologiae) in bestimmten Zeichen und Feldern. Das genau macht ihren Platz oder Ort im Koordinatensystem des Raumes aus. Und jetzt, aus dieser “Inbeziehungsetzung aller Orte zu sich selbst und aller Zeitpunkte zu sich selbst und aller untereinander zu allen” (Uschmann, wer gibt mir Worte, die besser sagen, was ich nicht sagen kann – will Dir aber nicht in Latein schreiben), entsteht etwas, was wir Menschen als unsereren täglichen und allgemeinen Lebensablauf von Minute zu Minute als thematischen Inhalt erfahren und durchleben, welche Inhalte kraft irgendwelcher Ereignisse uns ergreifen und uns in sie hinein verwickeln. Etwa, dass uns ein Fremder unseres Eigentum berauben will, ein schönes Weib unsere Gedanken einige Tage lang gefangen nehmen kann, wir eine alte Handschrift im Regal der Bibliothek entdecken, oder ein verdorbenes Mittagsmahl zu uns nehmen, welches der Gesundheit arg zusetzt. Alle diese Erlebnisse als contingentia sind nichts anderes als Interferenzen zwischen Zeiten und Orten. Uschmann, verstehst Du das so, wie ich es wirklich meine?

Ich will nun Dein Geburtsbild, wie Du es mir selber einmal mitgeteilt hast, zur besseren Verdeutlichung dieser Erforschung nutzen, mit denen ich mich in Jerusalem gegenwärtig beschäftige. Lache nicht, wenn Du viele bisher unübliche Worte und Sichtweisen kennenlernen wirst. Wie sich alles fortentwickelt, fortentwickelt sich auch die Anschauung von den Himmelskörpern als Raumpunkten in der Zeit und ihren Bedeutungen. Du bist am 22. Mai des Jahres 1720 um Mittag geboren worden, so findet sich der Eintrag im Taufbuch Deines Heimatortes Großmonrau im schönen Thyringerland.

Und Du siehst an meiner einfachen kleinen Zeichnung, wie das Sternzeichen des gewaltigen Löwen Dein zwölftes Haus regiert. Die Sonne als Herrscherin desselben steht Dir im neunten Haus. Das ist eine aus dem ganz Unbewussten herrührende Gestaltungskraft, die Dir nicht selber gehört, Dich aber mit Allem verbinden könnte. Und sie treibt Dich in die Welt der Religionen, der Du dienen musst, ob Du willst oder nicht! Auch deshalb muss ich Dir schreiben. Soweit bis hierher und ade, mein geschätzter Freund.

Samuel Amadeus Dankreither

Leberecht Gottlieb lehnt sich zurück und seine Gedanken gehen nach Jerusalem, wo dieser sonderbare Samuel Amadeus Dankreither in der Nähe eines ehemaligen Rambertiklosters gelebt und geforscht haben soll. Ob es dieses Kloster noch gibt - oder jemals gegeben hat? Die Leberecht bekannten Reiseführer kannten dieses Kloster nicht. Leberecht sinniert. Ob die WIKIPEDIA mehr wüsste? Ach, dass er den verdammten Code seines SmartPhones vergessen hat … Schon seit gestern reift dem Ruheständler aus Dresden ein Entschluss: nach Jerusalem zu reisen und dieses Kloster zu besuchen - würde sich das nicht wirklich lohnen? Aber zuerst müsste ein neues SmartPhone her. Leberechts Gedanken gehen weiter und weiter - und auf einer langen Assoziationsschleife kehren sie auf seltsame Weise immer wieder nach Dresden zurück.

Oh weh … Dort muss man jetzt überlegen, welche politische Partei mit welcher koalieren wird, will, kann, darf oder muss. Bei der Stimmengleichheit zwischen ehemals Konservativen und Neuen Rechten wird das nicht einfach sein. Aber wie war es denn mit Sanherib oder mit Serubbabel? Wie mit den Mongolen. Erst waren sie noch da und schrieben große Geschichte mit Bogen, Pfeil und grausamem Schwert. Und plötzlich? Waren sie weg. Wie die Maikäfer in Reinhard Mays bekanntem Lied: "Es gibt keine Maikäfer mehr." Atlantis versank, Venetia ebenso. Der Vulkan brach aus und die Stadt Pompeji war Asche. Friedrich Barbarossa wollte baden und ertrank. Alexander der Große wurde durch ein Fieber dahin gerafft. Ananias und Saphira traf der Schlag. Sonne und Mond stritten wider Sisera - so meldet es die Schrift im Richterbuch (5,20). Alles ist möglich. Hier im Haus der alten Beschwörerin nahe der kühlen Wand aus Turmalingestein kamen Leberecht die seltsamsten Gedanken.

Zum Beispiel: Wenn man schon - trotz des mit Hilfe der Totenbeschwörerin und des Propheten Samuels geschriebenen Briefes  auf das Wahlergebnis offenbar kaum Einfluss hatte nehmen können, die Koalalitionsbildung lenken - vielleicht ginge das? Gab es nicht die sonderbarsten Zufälle im Leben bedeutsamer politischer Größen? Drakon etwa 620 Jahre vor der Zeitrechnung, ein athenischer Gesetzesreformer - der erstickte unter einem Berg von Mänteln und Hüten, die von dankbaren Bürgern in einem Theater zu Ägina auf ihn geworfen worden waren. Oder - Arrhichion von Phigalia, ein griechischer Pankratiast 564 vor Christus, der starb bei den Olympischen Spielen. Während eines Kampfes war er beinahe schon besiegt, da sich sein Kopf in einer Beinschere seines Kontrahenten befand. Mit letzter Kraft brach er die Zehen seines Gegners. Dieser gab daraufhin auf, doch im selben Moment erstickte Arrhichion, der posthum zum Sieger erklärt wurde. So kann es gehen … Noch sonderbarer erging es dem Tragödiendichter Aeschylus, er wurde von einer Schildkröte erschlagen, die von einem Greifvogel fallen gelassen worden war. Der Vogel verwechselte angeblich den kahlen Kopf des Aeschylus mit einem Fels und wollte den zum Aufbrechen des Schildkrötenpanzers benutzen. Aeschylus hielt sich zumeist im Freien auf, weil eine Prophezeiung ihn vor herabfallenden Gegenständen gewarnt hatte. Tragisch, tragisch. Schließlich auch das noch: 206 vor der Zeitrechnung. Laut antiker Überlieferung starb der griechische Philosoph Chrysippos von Soloi an einem Lachanfall. Der Stoiker sah, wie ein Esel seine Feigen fraß, und trug einem Sklaven auf, dem Esel Wein zu geben, um die Feigen damit hinunterzuspülen. Dies soll er für so witzig befunden haben, dass er sich im wahrsten Sinne des Wortes darüber totlachte. Auch so kann es einem ergehen …
Oder etwas näher an unsere eigene Zeit heran. Im Jahre 1184: Beim Erfurter Latrinensturz fanden etwa 60 Menschen den Tod, als anlässlich eines Hoftages von König Heinrich VI. in Erfurt das obere Stockwerk der Dompropstei des Marienstiftes unter der Last der versammelten Menge zusammenbrach und die meisten der Anwesenden in die Tiefe riss. Auch der Boden der nächsten Etage gab unter dem Druck nach und ließ die Herabfallenden in die darunter liegende Abtrittgrube stürzen. Wer nicht ertrank oder erstickte, wurde von nachfallenden Balken und Steinen erschlagen oder verletzt. Weiter noch: Karl II., König von Navarra, ließ sich im Jahre 1387 zwecks Therapierung einer Krankheit jeden Abend in mit Weinbrand getränkte Tücher einwickeln. Eines Abends gelangte ein Diener versehentlich mit einer Fackel an die Bandagen, welche sofort in Flammen standen. Karl erlag den schweren Verbrennungen. Und 1673? Der Schauspieler Molière, Theaterdirektor und Dramatiker der französischen Klassik, erlitt einen Blutsturz während einer Aufführung seiner Komödie „Der eingebildete Kranke”, in der er die Rolle des hypochondrischen Protagonisten spielte. Als Molière auf der Bühne zusammenbrach, glaubten die Zuschauer zunächst, dass es sich um eine Einlage innerhalb der Komödie handelte. Der französische Komödiant starb wenig später in seiner Wohnung in Paris. Noch gar nicht so lange her, nämlich 1837: Der englische Erfinder Robert Cocking baute eine der ersten Fallschirmkonstruktionen der Geschichte. Beim allerersten Testflug mit dem Ballon war er sich seiner Sache so sicher, dass er gleich aus 1.500 m Höhe absprang. Er stürzte tödlich ab, denn er hatte zwar sein eigenes Gewicht korrekt in die Berechnungen einbezogen, dabei jedoch das Gewicht des Fallschirms (immerhin über 100 kg) nicht berücksichtigt. Alexander, König von Griechenland, ging 1920 durch den Nationalgarten in Athen, als sein Schäferhund von einem Berberaffen angegriffen wurde. Beim Versuch, den Hund zu verteidigen, wurde Alexander von beiden Tieren gebissen. Durch die infizierten Bisswunden erlitt er eine Blutvergiftung, die drei Wochen später tödlich für ihn endete. So kann es einem ergehen, den das Schicksal zu einem ungünstigen Zeitpunkt an einem ungünstigen Ort antrifft.

Mit anderen Worten - Leberecht überlegte ernsthaft, ob er nicht von dem Orakelort Siwa Einfluss nehmen könnte auf die politische Großwetterlage in seiner alten Heimat Sachsen. Es muss ja nicht immer einer zu Schaden kommen. Aber was wäre denn, wenn die Protagonisten der Parteien von unverhofftem Glück betroffen wären, so dass sie es nicht mehr nötig haben würden, ein politisches Amt übernehmen zu müssen? Man weiß ja, dass Politiker von ihrem Daimon nicht selten, bzw. sehr oft mit einer extrem narzisstisch konfigurierten Persönlichkeit (sprich: Seele) ins Rennen des Lebens geworfen worden sind. Man müsste Ananke, die Schicksalsgebieterin, der in der Antike sogar auch Zeus zu gehorchen hatte, den Rachen stopfen. Die Spitzen müssten weg - dann würde die Zeit das Ihrige schaffen. Wäre das nicht ein wirklich lohnendes Projekt.

Leberecht sprang auf - soweit man von Springen angesichts des hohen Alters des Pfarrers in Ruhe noch reden konnte - und beschloss, das Kloster der Rambertianer in Jerusalem aufzusuchen. Die Handschrift der Schrift vom Lapis erbat er sich von Beritha Gutmann - und bekam sie geschenkt. Ein SmartPhone müsse er sich in Kairo aber selber besorgen, meinte die gute Frau und der Taxifahrer Abdul Abdullah fuhr unseren Held und Orientreisenden mit dem alten grauen Mercedes -8er für 36 Dollar von Siwa zurück nach Kairo und setzte ihn am Flughafen ab. Dann aber doch nicht. Warum? Das erfahren wir im nächsten Kapitel. „Gott ist groß“ meinte er zum Abschied auf Arabisch. Und Leberecht antwortete mit einem einfachen „In Saecula Saeculorum Amen.”

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Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer
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