... wer hat dich, du schöner Wald ...
K. May & D. Bonhoeffer

Es gehörte in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts nicht viel dazu, den Schriftsteller Karl May zu kennen. Entscheidend geblieben bis heute ist aber nicht ob, sondern welches seiner Bücher man gelesen hatte. Kennt man sich nur „In den Schluchten des Balkans" aus oder auch im späteren „Ardistan und Dschinnistan”?

Und dann gibt es ja noch die ganz frühen Sachen des Autors. Als früheste Erzählung gilt „Die Rose von Ernstthal”. In dieser bereits 1874 entstanden Liebes- und Errettungsgeschichte eines vom Blitz getroffenen und deshalb erblindeten Mädchens finden nach langen Irren und Wirren zwei junge Menschen zueinander. Das Motiv eines blinden Mädchens, welches trotz Handicap den treuen Ehegemahl findet, ist auch aus Laura Ingalls Wilders Roman „Die kleine Farm” bekannt. Überhaupt ist das Motiv der Blinden als Sänger, Seher und Entscheider archetypisch verdächtig. Auch Justitia muss blind sein und sogar immer bleiben, damit Recht werden kann, was wirklich Recht ist. Wehe dem, wem das Recht im Sinne seiner Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit gebeugt wird. Deshalb trägt Justitia keinen Mundnasenschutz sondern ihre Augenbinde. Aber zurück zu den beiden Autoren May und Bonhoeffer.

Dietrich Bonheoffer hat sich im Gefängnis einige Karl May Bücher kommen lassen. Es wird mitgeteilt, er habe an seine Verlobte Maria von Wedemeyer geschrieben: „…wieder einmal einige von Karl Mays Büchern gelesen. Es sind immer noch dieselben alten Geschichten, aber sie sind immer noch so schön. Ich finde in ihnen so viel Kraft und Mut. Ich glaube, dass May ein großer Christ war, auch wenn er es selbst nicht wusste." (W&N 230)

Bonhoeffer hatte im Tegeler Wehruntersuchungsgefängnis im Jahr 1943 begonnen, erst ein Drama verfassen zu wollen und dann einen Roman zu schreiben. Beides konnte nicht bis zum Ende ausführt werden. Beim erneuten Lesen der beiden Stücke, tauchte bei mir die Frage auf, ob Bonhoeffer entweder „Die Rose aus Ernstthal” im Tegeler Gefängnis noch einmal wahrgenommen hat, oder sich wieder an sie erinnert? „Die Rose von Ernstthal” ist jenes Buch, welches Karl May zu Zeiten seines eigenen Gefängnisaufenthalts in Waldheim zu konzipieren begonnen hatte. Daraufhin deuten könnten einige inhaltliche Sphärenüberschneidung in beiden Stücken:

„Es war ein goldener, sonniger Julimorgen. Längst schon hatte die Feuchtigkeit des nächtlichen Thaues den Weg zum Äther gefunden …” (Karl May: Die Rose von Ernstthal. HKA I,5. 11)

„Es war ein heißer Julitag in einer mitteleren Stadt Norddeutschlands. Die Sonne, die am wolkenlosen Himmel aufgegangen war, brütete schon …” (Dietrich Bonhoeffer: Fragmente aus Tegel. 65)

Es war einmal. Und wird schön und schrecklich zugleich ... Denn erst ganz am Ende läuten in Bonhoeffers Romanfragment die drei Glocken Misericordia, Justitia und Pax (Erbarmen, Gerechtigkeit und Frieden). Bei Karl May wird das blinde Mädchen erst auf der vorletzten Seite wieder sehend. Bis zum Glockengeläut und Wieder-Sehen-Können wird es ein weiter Weg gewesen sein. Bonhoeffers Roman und Mays erste Erzählung kämpfen sich durch große Widrigkeiten hindurch, die sich zwar voneinander unterscheiden, allerdings aber in beiden Texten mit der Gestalt eines bösartigen Jägers, Forstangestellten und unehrenhaften Unteroffiziers in Handlung umgesetzt werden (Gelbstiefel / Graf von Waldstein.) Das ist schon auffällig. Der böse Jäger aus Schuberts Zyklus Die schöne Müllerin würde das Trio komplett machen: Figuren, die den ersehnten Frieden stören - in beiden Texten hier den Frieden des Waldes. Denn sowohl das Tegeler Romanfragment spielt sich hauptsächlich im Wald ab, als auch weite Strecken der Ernstthal-Erzählung.

Zu Bonhoeffers Gefängnislektüre gehörte auch Adalbert Stifter. Jener Schriftsteller, der lange, ausgiebigst und detailliert die Steine und Menschen beschreiben konnte, dass einem das Herz aufgeht. Vor unseren inneren Augen lassen die Schriftsteller die Welt erstehen, wie sie gedacht war und im 19. Jahrhundert mit den wirklichen Augen tatsächlich noch gesehen werden konnte - so wurde sie in die Bücher geschrieben, in Schrift gestellt. Manche mögen das nicht lesen. Denn sie glauben sagen zu müssen, dass diese Texte falsch seien, weil die Welt anders ist, als die Texte sie beschreiben. Kann es aber nicht auch sein, dass die Welt sich ändern würde, wenn wir mehr davon lesen würden, wie sie wieder sein soll, weil sie einmal schon so gewesen ist?

Wie wäre es, an einem warmen Juliabende wieder einmal ein gutes Buch zur Hand zu nehmen? Empfohlen heute an dieser Stelle A.Stifters „Der Waldsteig" und „Der Waldgang" von E.Jünger. Für den Mitteleuropäer nämlich und für den Deutschen zumal fehlt ohne Wald etwas, und es stimmt, was Joseph Roth geschrieben hat, dass nämlich eine Landschaft ohne Wald eine sei ohne Geheimnis.

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer
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