FRAU AM BRUNNEN
VON TIEFE UND HÖHE

„Tief ist der Brunnen der Vergangenheit.” Mit diesen Worten beginnt Thomas Manns Roman JOSEPH UND SEINE BRÜDER. „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit - sollte man ihn nicht unergründlich nennen?” Bevor der Autor dann und infolgedessen die Geschichte Josephs, seiner Brüder, besonders aber auch ihrer und unserer Vorfahren Jakob, Isaak und Abraham bis hinab zu Adam in beeindruckender Brillanz umreißt, wird in verschiedenen Anläufen immer wieder ein bestimmter Gedanke entwickelt und befestigt. Dass nämlich die Vergangenheit eigentlich unauslotbar sei. Und auch deshalb heißt der Prolog des vierbändigen Thomas-Mann-Romans HÖLLENFAHRT. Der Abstieg hinab in das Urgrausige und Unausdenkbare ist irgendwie von Nöten. Hinab in das Reich der Mütter hieß es schon in Goethes Faust - hinab in den Brunnen nun bei Thomas Mann. Das erste Kapitel des Romans "Joseph und seine Brüder" trägt den seltsamen Titel "Höllenfahrt", weil dieses Kapitel sich auf die mythologische und tief symbolische Reise in die eigene Unterwelt bezieht. Mann beschreibt die dunklen Ursprünge der Menschheit und die Abgründe der menschlichen Seele. "Höllenfahrt" meint die metaphorische Darstellung der Reise in die Tiefen des Bewusstseins und der Geschichte, um die Wurzeln und Ursprünge der biblischen Erzählung von Joseph zu erkunden. Und die Hölle ist hier nicht aus Feuer oder Eis, sondern meint die legendäre Tiamat, die Urflut der Tehom - über der der Geist Gottes schwebt und brütet.

Thomas Mann nutzt die literarische Spezies sogenannter "Höllenreisen”, um seine Leser auf eine philosophische Exkursion mitzunehmen, während deren Dauer die wichtigen Themen der Schuld, ihrer Sühne und letzte Erlösung behandelt werden will. Der Satz TIEF IST DER BRUNNEN DER VERGANGENHEIT ist durchaus ein kraftvoller Einstieg in den Roman, welcher wie sonst kaum ein anderer in komplexe und vielschichtige Themen der Theologie einführt - etwa so, wie der erste Gesang von Dantes Divina Commedia uns lange vorher schon Ähnliches zum Lesen gab.

Der Predigttext des dritten Sonntags nach Epiphanias kreist mit seinen Gedanken ebenfalls um diese Art Brunnen1). Historisch soll es der Brunnen Jakobs sein, so meint die Frau, die der Zufall mit Jesus bei dieser unterirdischen Quelle zusammengeführt hat. Es ist also jener Brunnen, an dem sich laut biblischem Bericht öfter Mann und Frau getroffen haben und dann nicht mehr anders können durften, als sich einander zu versprechen, um sich einer im anderen zu erkennen. Warum das alles? Nun - um das Leben, welches von Adam kam und laut Elon Musk auch bis auf den Mars getragen werden sollte, zu verstetigen - immer weiter. Andere sagen es anders. Aber es bleibt dabei - die lange Ahnenreihe von Adam bis hinauf in die ferne Zukunft des sogenannten „transhumanen Edelmenschen“ samt seiner schlussendlichen Erlösung vom Sein ist ebenso unermesslich wie der Vergangenheitsbrunnen tief. Keiner weiß in etwa, was werden wird. Doch es wird eben berichtet, dass auch Jesus einmal an diesen Brunnen kommt, dort sitzt und der fremden Frau begegnet. Die Verbindung zwischen beiden Personen findet sogar bzw. für manche „nur” in höherer Hinsicht statt. Wir lesen nichts von sieben Jahren Dienst bei heidnischen Schwiegervätern, wie Jakob solches mehrere Male zu absolvieren hatte. Wir lesen nichts von geschmückten Brautbetten und vom Erwachen im Lichte des alles offenbarenden Morgens. Wir lesen nichts von trunkenen Hochzeitsgästen - sondern es ist ein kurzes und wichtiges Gespräch, von dem berichtet wird. Am vergangenen Sonntage hörten wir davon, wie Jesus Wasser in Wein verwandelte (Johannes 2). Heute verwandelt sich Wasser gar in reinsten Sinn.

Niemand war dabei. Jesus schrieb nichts auf. Und die Frau eilt zum Schluss ganz begeistert von dannen. Es ist ein kurzes Gespräch zwischen Mann und Frau am Brunnenrand über Zahlen. Die Frau hatte wohl fünf Männer (sind die alle gestorben?) - den sie jetzt hat, das ist nicht ihrer. Jesus ist also der siebente. Er deutet es aus, er weiß scheinbar alles, er redet in Rätseln und genau so offenbart er das Ewige. Das ist seine Aufgabe dieser Frau gegenüber, die mit ihrem komplizierten Leben immer dann zum Brunnen kommt, wenn die Sonne im Zenit steht und keiner da ist, weil man die Hitze scheut. Es ergeben sich da draußen in der Mittagshitze (sechste Stunde) nicht jene Zwangsläufigkeiten, welche drohen, wenn sich zwei ZwölfUhrMittags begegnen. Alles ist und bleibt weiterhin frei - es wird dann noch nicht einmal berichtet, dass irgendein Wasser wirklich ausgeschenkt wird, um welches es sich die ganze Zeit des Gesprächs über zu drehen scheint - und um welches erst Jesus bittet und dann die Frau ihn anfleht.

Worum geht es dann? Es geht um den richtigen Ort, eine Verbindung Gott gegenüber zu finden. Garizim oder Jerusalem? Samaria oder Judäa? Jesus lässt uns überlegen, ob gar nicht so sehr die nach oben gebauten Heiligtümer zu bedenken wären, als vielmehr der nach unten in das Unendliche abgesenkte urgründige Brunnen unsere Beobachtung auf sich ziehen sollte … Der Turm von Babel, die Kaaba in Mekka, der Tempel in Jerusalem, der Petersdom, die Wittenberger Schlosskirche - alle diese Bauwerke zeigen mit ihren Spitzen nach oben. Der Brunnen dagegen - er zeigt nach nirgends. Er ist einfach nur tief. Und bezeichnet so, ohne in die Ferne zu weisen, das Innere. Der Brunnen ist somit ein schönes Wort für die eigene tiefe Mitte.

Eine Bildungsreise nach China machte uns mit dem „Buch der Wandlungen” bekannt und ließe uns im 48. Zeichen des I-Ging weitere wertvolle Hinweise finden. Hier der Text zum Zeichen DER BRUNNEN:

Wer oben bedrängt wird,
der wendet sich sicher nach unten.
Darum folgt das Zeichen DER BRUNNEN.

Der Brunnen bedeutet Zusammenhang

Der Brunnen zeigt das Feld des Charakters.
Der Brunnen weilt an seinem Platz
und hat doch Einfluss auf anderes.
Der Brunnen bewirkt Unterscheidung dessen,
was das Rechte ist.

Eindringen unter das Wasser
und Heraufbringen des Wassers,
das ist der Brunnen.
Der Brunnen nährt und erschöpft sich nicht.2)

Im Laufe der heutigen kleinen Jesusgeschichte wird einer samaritanischen Frau die Wahrheit offenbar gemacht. Sie schöpft Erkenntnis aus dem tiefen Brunnen ihrer biographischen Vergangenheit und versteht auf einmal mehr von ihrem eigenen persönlichen Leben, als sie vorher begriffen hatte. Sie wird tiefer erkannt, als je zuvor von ihren Männern. Jesus bleibt dann zwei lange Tage in der Stadt dieser Frau wohnen - und erst als auch andere begreifen, worum es wirklich geht, zieht er weiter. Erst glaubten die Leute dieser Frau - und dann sich selber. Das ist der Weg der Erkenntnis. Die entzündet sich zwischen zwei Personen am Brunnenrand. Die erste ist Menschenweib - die andere wahrhaftig ein Gott. Geistesflammen greifen infolgedessen auf die gesamte Stadt über ...

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1)  dritter Sonntag nach Epiphanias / Predigttext: Johannes 4,1-42
2) I Ging. Das Buch der Wandlungen. Übertragen und herausgegeben von R. Wilhelm (Diederichs/München) S. 558
 

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer

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