Schrödingers Katze (1/4)
Leberecht Gottlieb (Teil 44)

Es fiel dann aber Leberecht Gottlieb doch einigermaßen schwer, im Dresdener Heim „Abendsonnenfrieden” sich heimisch zu fühlen. Ach - die vielen dementen Leute, welche auf den Gängen dieser Anstalt anzutreffen waren, sie bereiteten dem Emeritus große Bedenken und machten ihm viel mehr zu schaffen, als er sich das vorher hatte ausgerechnen wollen. Auch war er vorher ja gewarnt worden - Dresden sei ein ganz anderes Pflaster als Tübingen, hatten die Diakonissen und der Herr Oberstudienrat Dr. Pfleiderer zu bedenken gegeben. Dort hinten im Osten sei doch Dunkeldeutschland und die Schar der Pegidianer streife montäglich durch Gassen und Straßen auf die Plätze der Elbmetropole. Gewiss - es gäbe auch immerhin noch den Trompeter Ludwig Schreier oder so ähnlich und die Frauenkirche, aber kürzlich sei sogar im Grünen Gewölbe eingebrochen worden. Ob Leberecht wirklich dorthin wolle? Sicher fände sich doch auch hier in Tübingen irgendein anderes Heim - vielleicht nicht ganz so komfortabel wie das „Martha & Maria” aber man könne sich ja gegenseitig Visiten abstatten. So versuchten sie Leberechten zu trösten. Der aber hatte mit dem Westen innerlich abgeschlossen und ein feiner Sog zog ihn vom Neckarstrom fort zur Elbe hin.

Tatsächlich - es war ein anderes Klientel, das hier im Osten seinem Ableben entgegen wartete, wirklich ganz anders als in der Tübinger Seniorenresidenz. Am Neckar hatte es beispielsweise eine richtige Bibliothek gegeben und ein Bechsteinflügel war im Vestibül gestanden - hier dagegen gab es nur ein mittelgroßes Ikea-Regal mit Konsalik-Romanen und zerlesenen Heftchen von Readers Digest. Anstelle des latinisierenden Dr. Pfleiderer saß man mit Kumpels aus der Wismut und Spinnerinnen aus Zella-Mehlis zu Tisch. Vor den Mahlzeiten sagte man nach dem Tischgebet nicht „Gesegnete Mahlzeit,” sondern ganz ohne Gebet einfach „Mahlzeit!” Auch mit dem Dativ hatten die meisten ihre Probleme - bzw. keine Probleme. Und aus all diesen und ähnlichen Gründen - mehr davon wollen wir jetzt nicht aufführen - fuhr Leberecht mit der Elektrischen fast täglich zur Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Dort macht er sich - seinem alten Leitspruch getreu, dass Bücher die besseren Menschen wären - in alten Handschriften zu schaffen, ob er nicht doch noch etwas fände, was für seine privaten Forschungsinteressen von Belang sein könnte. Leberecht hatte vor einigen Monaten nämlich erneut das bereits aus seiner Studentenzeit herrührende hochkomplexe physiko-philosophische Thema der sogenannten Zeitreisen aufgegriffen. Darüber war er übrigens mit dem Oberstudienrat aus Tübingen heftig in Streit geraten, als er den Sachverhalt des Reisens in der Zeit dem Tischgegenüber auf dessen Nachfrage hin zu beschreiben versucht hatte. Dieser Mann aber war das, was man zu Recht einen Fachidioten nennt. Pfleiderer fragte zwar oft - meist in völlig unpassenden Situationen und mit unangenehm lauter Stimme: „Nun, Herr Pastor, womit beschäftigen wir uns gerade? Was haben Sie beim Wickel?” Aber auf Antworten war er offensichtlich gar nicht erpicht. Wenn Leberecht ihm nämlich vom „Theoretischen Kern archaischer Wissenschaft” - genau damit beschäftigte sich der Ruheständler nämlich - etwas berichten wollte, dann verglasten die Augen des Schulmenschen bereits nach einer halben Minute. Der Mann ist zwar sein Lebtag lang Lehrer gewesen - aber war trotzdem irgendwie auf eine besonders gebildete Weise dumm geblieben, oder vielleicht gerade deshalb geworden? Leider. Er verstand oft einfach nicht, worum es wirklich ging. Die Neugierde und das Staunen waren ihm über die Jahre und Jahrzehnte völlig abhanden gekommen. Es handelte sich um diese ganz besondere geistig/geistliche Demenz, die sich bildungsbürgerlich gut getarnt seit Jahrzehnten auf den Lehrstühlen und hinter den Kathedern der meisten staatlich sanktionierten Lehrinstitute hielt und hielt und hielt. Und halten wird. Offenbar war das im Plan des Höchsten - hochgelobt sei er - absichtlich so eingerichtet. Um der Stabilität der Welt willen.

Tübingen war bildungsbürgerlich. Aber die Stadt hatte auch dieses anrüchig Frömmlerische der ehemaligen Stiftler nie ganz ablegen können, wovon Hermann Hesse so vergnüglich bitter viel erleben musste und darüber in seinen Romanen berichtet. Die Stadt miefte in ihrem lang, lang vorher begründeten Wohlstand dahin und zehrte die Zinsen eines ehemaligen Ansehens langsam aber sicher auf. Die linksgrüne Regierung tat und unterließ Vieles, was den organisierten Verfall perfekt zu machen geeignet war und der hohe Anteil derer, die noch nicht so lange in der Gegend lebten, tat das ihrige noch mit dazu. Das stimmte zwar alles nicht hundertprozentig, aber so war eben die Meinung Leberecht Gottliebs über Tübingen. Der abrupt vom Etablissement verstoßene Heiminsasse versuchte, alle möglichen Argumentationen zusammen zu klauben, um möglichst schmerzfrei aus seiner alten geistigen Traumheimat von ehedem sich lösen zu können. Und so tat er es dem Fuchse gleich, wo dieser jene süßen Trauben schmähte, nur deshalb, weil er nicht an sie heran zu langen vermochte. Dresden dagegen - sagte er bei sich - sei die Stadt August des Starken. Hier gäbe es das Blaue Wunder und die Frauenkirche sei dem Totalverfall entrissen worden. Die Sachsen hätten sich damals lange erfolgreich der Zwangschristianisierung widersetzt und schnitten heute deshalb bei den Pisaerhebungen fast gleich gut ab wie die Bayern. Und hätten damals in der napoleonischen Zeit sich nicht dem Korsen einiger von diesem Barbaren verliehener Königstitel wegen willfährig unterworfen, wie die verräterischen Rheinbundstaaten etwa es gerne tun wollten - sondern die Dresdner mussten auf der falschen Seite kämpfen, weil das Heerlager des bei Waterloo endgültig dann doch Besiegten in der Nähe war - nur aus Klugheit also hatten sie so getan als ob ... Das hatte ihnen dann allerdings beim Wiener Kongress den Verlust einiger wichtiger Provinzen eingetragen. Metternich, der verhasste Habsburger wollte es so. 

„Aber die Weinbaugebiete sind uns geblieben!” sprach Leberecht zu sich selbst und stieg in die Elektrische, um in seine Bibliothek hinaus zu fahren. Hier hatte er sich am Tag zuvor ein paar barocke Handschriften auf seinen Arbeitsplatz legen lassen. Die zu betrachten ging er nun hin und um sie ausführlich in Augenschein zu nehmen. Es handelte sich dabei um Johann Nepomuk Dankreithers Abhandlung über den „Edelstein Lapis Aquamarinus Knossius” und um die kleine Arbeit des Renaissancephilosophen Giordano Bruno „Die Kabbala des Pegasus.” Darin wollte Leberecht in der kommenden Zeit studieren, denn während seiner Zeitreisen, von denen wir bereits weiter von berichtet haben, waren ihm erinnernde Schauungen geworden, die nun endlich einmal systematisch aufgearbeitet werden mussten. Bevor wir dieses Kapitel nun aber abschließen und mit dem Studium der beiden erwähnten Schriften beginnen, müssen wir noch ein Versprechen einlösen, das wir - ebenfalls weiter vorn - gegeben hatten. Wir müssen erklären, wie es sein kann, dass jemand, der in die Zukunft reist dann, aus dieser Zukunft zurückgekommen, die dort gesehene und erlebte „Zeit” als nunmehrige Vergangenheit erlebt hat. In der heiligen Schrift Alten Testaments haben wir einige Hinweise auf diesen kuriosen Sachverhalt. So etwa öfter in den Büchern der Propheten: „Du Menschenkind schreibe, was du siehest!” Und dann schreiben die im Fahrzeug der Vision aus der Gegenwart Entrückten etwas auf, das bei ihrer Rückkehr in die Zeit als etwas Zukünftiges verstanden werden soll, obwohl es sofort langsam in die Vergangenheit zu versinken beginnt.

Als Leberecht sich diese nicht einfachen Gedanken erneut klar zu machen versuchte, wurde er plötzlich durch einen unsanften Stoß nach vorne geschleudert. Die Straßenbahn hatte offenbar scharf bremsen müssen und einige Passagiere verloren infolgedessen das Gleichgewicht, kamen auf Leberecht, der ganz dicht beim Wagenführer zu stehen gekommen war, zugeschossen, rissen ihn um, so dass Leberecht mit dem Kopf an die Frontscheibe des Triebwagens schlug, was sehr schmerzhaft war. Bevor er ohnmächtig wurde, konnte gerade noch sehen, wie eine Katze von den Schienen der Straßenbahn sprang und in einer Hauseinfahrt verschwand. Schrödingers Katze - schoss es ihm durch den Kopf. Dann wurde es dunkel. Um das eben erwähnte sonderbare Tier soll es im nächsten Beitrag gehen …

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Autor:

Matthias Schollmeyer

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