zurück in den Osten ...
Leberecht Gottlieb (Teil 43)

In diesem Kapitel erfahren wir, wie Leberecht Gottlieb unvorsichtig gewesen und er deshalb aus der Seniorenresidenz in Tübingen verstoßen wurde. Wie sich dann der entlassene Insasse wieder zurück in der alten sächsischen Heimat Dresden meldet und an die Schwelle großer Ereignisse gelangt ...

Wie es eben ist im Leben, so war es auch bei Leberecht Gottlieb. Aus den oben stehenden Beiträgen von Nr. 1 an wissen wir, dass unser guter Mann einige Zeitreisen erfolgreich hinter sich bringen konnte. Da der besagte Ruheständler, von dessen Schicksalen wir hier berichten müssen, bereits in seiner Jugendzeit die Werke des polnischen Science-Fiction-Autors Stanislaw Lem verinnerlicht hatte, war das Reisen in der Zeit für den Emeritus aus Sachsen damals nicht mit dem Problem von Furcht und Zittern belastet. Die Sterntagebücher des Ion Tichy galten ihm (neben der Heiligen Schrift) als zuverlässiges Bordbuch und so war es nur ein Geringes, dass Leberecht, bevor er in die Onlinezeit seines normalbürgerlichen Lebens, Kraft dessen er seit Jahren seine Ruhegehaltsbezüge einkassierte, zurückgekehrt war, einen Abstecher in die Zukunft unternahm, um sich daselbst mit allerhand ausreichendem Herrschaftswissen zu versehen. Dass wir unsererseits auf diese Zeit nun nur zurück zu schauen meinen, obwohl dieselbe erst in der Zukunft zu liegen scheint - das ist der Paradoxalität des Zeitreisens als solchem geschuldet. Im Einzelnen wird darauf später einzugehen sein, dann nämlich, wenn wir auf prognostizierte Voraussagen Leberecht Gottliebs eingehen müssen, die er im Blick auf bestimmte politische Ereignisse recht unvorsichtig getätigt hat.

Jedenfalls wusste Leberecht, wer demnächst welche Schlüsselstellen innerhalb der kirchenpolitischen Wirren des gesamten eurasischen Kulturkreises übernehmen würde, wusste bereits auch schon um das US-amerikanische Wahlergebnis vom November 2024, vor allem aber war er bestens informiert über die in den gebeutelten Regionen Dunkeldeutschlands demnächst stattfinden Wahlen. Unvorsichtigerweise hatte er von Letzterem Einiges während eines mit der verzweifelten Gattin eines aus linksgrünem Milieu stammenden Kreistagspolitikers geführten Seelssorgegesprächs durchblicken lassen. Sehr vorsichtig und diplomatisch gab er nämlich zu bedenken, ob der Gatte vielleicht nicht doch besser beraten sei, den Absprung vom sinkenden Schiff noch zu wagen, ehe dasselbe in den Fluten der aufgewühlten Volxstimmung ganz untergegangen wäre. Die Politikergattin, deren Namen und Handynummer hier aus Pietät nicht genannt sein soll, hat es gleich ihrer Freundin unter dem Siegel der Verschwiegenheit mitgeteilt, diese Dame dann (beste Freundin!) in allen möglichen Kreisen und Konventikeln, Kränzchen und PeerGroups verlautbaren lassen - und so war das Ganze bald in den einschlägigen Medien publik geworden. Im Tübinger Altersheim „Martha & Maria” sitze ein ehemaliger Ossi, der sich auf delegitimierende Weise bösen Spaß daraus mache, mit Hass und Hetze den betrübten Gewissen von Verantwortungsträger*Innen hart zuzusetzen. Wovon in Wirklichkeit natürlich gar keine Rede sein konnte - aber das Ding schlug so hohe Wellen, dass eines Tages die Heimleitung (Kahlil Christopher war damals noch nicht Heimleiter) dem Pfarrer i.R. Leberecht Gottlieb den Heimplatz zum 31.Juli 2024 kündigte. Allerlei Kleingedrucktes und die Tatsache, dass Leberechts Gesundheit mit dem Pflegegrad NullKommaNichts eingeschätzt worden war, erlaubten dem Haus solche Aktion.

Leberecht hatte sich alsbald mit Dresden fernmündlich in Verbindung gesetzt - der Enkel einer seiner ehemaligen Konfirmandinnen war Leiter des Heimes Abendsonnenfrieden geworden. Und so freute man sich in Dresden bereits sehr bald auf einen finanziell potenten künftigen Insassen, als in Tübingen der Studienrat Dr. Pfleiderer und einige ältliche Diakonissen den Fortgang des emeritierten Pastors aus Ostdeutschland gerade noch heftig bedauerten - bzw. zumindest so taten, als ob sie das täten. Ein Möbelwagen ward rasch organisiert und Kahlil Christopher steuerte denselben über diverse Autobahnen bis direkt vor die Terrassenstufen der neuen Bleibe Leberechts. Es waren nicht viele Möbel, die sich im Wagen befanden. Die alte Chaiselongue aus Vorvätertagen, die Ölbilder, auf denen sich Leberechts Ururururgroßvater und dessen Nachkommen (alles evangelische Pastoren) mit ernsten Blicken abkonterfeit zeigten, ein Bücherregal mit Karl Barths Kirchlicher Dogmatik, die Klassiker Goethe, Schiller und Shakespeare, der Nietzsche natürlich samt Arthur Schopenhauern und die gesamte Bibliothek der Kirchenväter. Dann noch Karl Mays Werke in der bis dato bereits erschienenen Kritischen Gesamtausgabe und - wie gesagt - das Werk Stanislaw Lems, des großen Polen und Erfinders des bekannten Chronozyklisten Ion Tichy. Die über Jahre gesammelten Ausgaben von Glaube und Heimat aber vermachte der Pensionär direkt noch vor seiner definitiven Abreise dem Hausmeister des eilig verlassende Stifts, welcher die Papiere - das bekam Leberecht aber nie zu erfahren - eine Woche nach der Rückkehr des Chauffeurs Kahlil Christopher durch denselben dem Tübinger Sekundärrohstoffhandel zuführen ließ. Ein wenig Geschirr war noch im Besitz des alten Pfarrers, der nun wieder in die Heimat zurückkehren musste - und es sogar wollte. Auch das wurde mit eingepackt - ebenfalls der schwarze Schreibtisch mit den viel zu großen Schlössern ohne Schlüssel. So also schüttelte Leberecht den Staub der Stadt Hölderlins von seinen Sandalen und bereitete sich innerlich auf den bevorstehenden Kulturschock vor, der ihn dort draußen am Elbestrom bei Dresden erwarten sollte.

Man schrieb also den ersten August 2024. Stadt und Landkreise fieberten der Wahl ihres Landesparlaments entgegen. Was hatte der HERR - hochgelobt sei er - diesmal vor? Würde er in den Ablauf der Geschichte erneut eingreifen? Oder würde er das Ding dem Hegelschen Weltgeist anvertrauen und alles laufen lassen, wie die Parteiungen es - freilich auf unterschiedliche Weise - durch ihre medialen Organe deuten und verkünden ließen? Die Partei der Unberührbaren etwa, der Schwefelbrüder und offiziell eigentlich Unwählbaren schrieb inzwischen Prognosezahlen, deren Größe vor einem Monat auch nur gedanklich in Erwägung zu ziehen - oder (je nachdem) zu befürchten niemand laut auszuposaunen gewagt hätte. Bis leicht über 36 Prozent waren die Alternativen, wie sie sich nannten, von Tag zu Tag und Stufe um Stufe höher auf der Leiter des Umfragerankings gestiegen und schauten nun von droben höhnisch und voller Verachtung auf die tief unter ihnen zu Kleinstparteien herab gekommenen ehemaligen Volksparteien. Es tat sich im Geheimen eine Menge ... In einigen sächsischen und thüringischen Opernhäusern etwa hatten die Intendanz und begabtere Mimen bereits Anbahnungsgespräche mit auswärtigen Häusern zu vereinbaren versucht. Um diese Leute alle irgendwie dann noch zu halten, wurde zwar sogar die Aufführung des Wagnerschen Nibelungenrings in Aussicht gestellt. Aber das half nicht viel ... Am Horizont türmten sich politische Großwetterwolken auf, die voller Gewitter und Blitze steckten und auf den Tag des Herrn warteten - bzw. auf den Anbruch einer Götterdämmerung ohne Happy End.

Dessen ungeachtet bezog Leberecht Gottlieb sein friedliches Zimmerchen. Er hängte eines der Holzkreuze vom Neckar an einen aus der getünchten Wand hervorragenden Nagel. Die Aussicht ging nach Süden auf eine neubarocke Kirche - und wenn das Heim auch nur von einer säkularen Wohlfahrtsorganisiation gehostet wurde - man war wieder daheim im Osten. Trost: Friedrich Hölderlin war mitgekommen. Wie unverzeihlich, - das hatten wir oben zu erwähnen vergessen. Die Gesamtausgabe der Schriften des sprachgewaltig großen Deutschen, welche noch der Georgeschüler Friedrich Norbert Theodor von Hellingrath herauszugeben begonnen hatte, war natürlich ebenfalls im Möbelwagen mitgereist. Und solange Hölderlin zu uns spricht, Mozart erklingt und die Milchstraße mit den Planeten samt Sonne und Mond über uns kreist, ist nichts zu befürchten. Denn Gott ist groß.

Zurückgereist indessen war Kahlil Christopher, der getaufte Moslem Ali Mohamad. Er weinte, als Leberecht ihn zum Abschied umarmte. Der Emeritus hatte sich bei dem Mann aus Syrien für alle jene  Hilfeleistungen herzlich bedankt, welche von Kahlil ausgehend ihm zugekommen waren. Und als der von Kahlil gesteuerte Lieferwagen sich im Abendsonnenschein langsam entfernte, um leer in das ferne Tübingen zurück zu trudeln, ward Leberecht an das Wort Winnetous erinnert, wo dieser in Band II zu Old Shatterhand leise sagt: „Mein Blutsbruder trauere nicht. Winnetou, der Häuptling der Apachen, hat aus dem Munde seines Freundes viel Gutes vom Manitou der weißen Männer erfahren. Er wird, wenn er in sein Wigwam wieder zurückgekehrt sein wird, die Worte des großen Propheten Jesus bedenken und auch versuchen, danach zu handeln! Howgh - ich habe gesprochen.”

Ach ja - genau! Auch in unmittelbarer Nähe Karl Mays war man zusätzlich wieder angekommen. Nicht weit von hier - in Radebeul - hatte der große Phantast mit der blühenden Phantasie gelebt und gearbeitet. Nachdem man sich im Heim "Abendsonnenfrieden" würde ein wenig eingelebt haben, konnte der Autor dort draußen in der Villa Shatterhand mit einem Besuch des alten Emeritus wohl rechnen …

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mehr von Leberecht Gottlieb hier

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer
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