der Reisekamerad
Leberecht Gottlieb (72)

72. Kapitel, welches Leberecht Gottlieb die jungen Leute in Einzelheiten seines bisherigen Lebenslaufes einweihen lässt - deren ausführliche Details wir hier geflissentlich überspringen, weil der treue Leser im Blick auf das Ganze vom Allermeisten bereits unterrichtet worden ist ...

Leberecht kam allmählich wieder zu Kräften. Ach ja - zuerst das lange Warten in der heißen Wüste und dann noch der Erfolg mit dem mantischen Stabe! Beides hatte dem Emeritus dann doch recht hart zugesetzt. Obwohl - wunderbar, dass er als fast Neunzigjähriger die Strapazen dieser erbarmungslosen Landschaft ausgehalten. Wunderbar, wie der Stab schon nach wenigen Minuten ihm das rettende Automobil angezeigt. Wunderbar auch, dass er’s schaffen durfte, mit seinen uralten Knochen den weiten Dauerlauf bis zum Zusammentreffen mit dem Jeep zu absolvieren. Wunder auch, dass er das interessante Gespräch der vier jungen Leute hatte vernehmen können. Und wunderbar schließlich, dass er diesen kostbaren Tropfen genießen durfte - Schieler Qualitätswein vom Seußlitzer Schloßweinberg. Alles Gute kommt aus Sachsen, hätte er fast gesagt - ließ es dann aber sein. Wunder, Wunder, Wunder also. Hier mitten in der Wüste. Und wunderbar auch die beiden Damen an seiner Seite, besonders die zur Rechten. Diese erinnerte ihn an irgendjemanden … Wenn er sich doch besinnen könnte, auf wen genau ... Da gab es erschütternde Ähnlichkeiten mit jemanden aus den siebziger Jahren. Martina Lehmann? Die Tochter des Direktors und Unterrichtsliebling seines verhassten Staatsbürgerkundelehrers Kurt Globnich? Ja - die war es. Hier erscheint sie nun nach Jahrzehnten als fesche Theologiestudentin mit Ambition zur umfassenden EKD-Kritik. Gott ist groß ...

Ach - das süße Leben. Verfährt mit uns genauso wie mit den Leuten in Puccinis Opern. Leberecht musste wohl laut vor sich hingesprochen haben, denn Irene - so hieß das theologische Schönweib - fragte unvermittelt: „Sie mögen Puccini?” Leberecht bejahte und daraufhin setzte man in dem komfortablen Automobil sofort irgendeine Playlist in Gang, die aus lauter Opernarien bestand. Von Maria Callas gesungen - und mit allerfeinster Qualität wiedergegeben. Denn das Automobil der jungen Leute hatte alles, was man braucht. In der Wüste sowieso und für die Verstetigung europäischer Kultur in den Fernen anderer Kontinente. Gerade, als das „Un bel di vendro” aus Madame Butterfly spielte, kam doch tatsächlich ein Schmetterling vorbei geflügelt und setzte sich auf den Kupfernen Ring des Leberechtschen Hermesstabes, den man in den Wüstensand gesteckt hatten.

Leberecht schluckte. Was hatte es mit diesem Stabe auf sich? Sollte das Buch Dankreithers mit der Gebrauchsanweisung für dieses sonderbar sensible und zugleich so herzlich simple Instrument tatsächlich viel mehr darstellen, als ein bibliophiles Druckexemplar? Leberecht versank in Trance - bzw. in Gedanken, was einigermaßen dasselbe ist. Und/oder sogar das Gleiche ...

Die Klänge aus den High-End-Boxen des Wranglerjeeps strömten inzwischen ohne jedweden Hall hinaus in die Weite der ägyptischen Wüste, die Callas gab - wie immer - ihr Bestes. Und - dann lud man den alten Leberecht ein, sich den jungen Leuten anzuschließen und mitzufahren. Man wäre nach Jerusalem unterwegs, denn dort stehe irgendwo ein altes Kloster, das es eigentlich gar nicht mehr gäbe. Genau da aber wären Hinweise auf Verbleib der heiligen Lanze, des Grals und der Bundeslade zu finden. Die Vier lachten erneut - diesmal ein wenig verschämt. Der Archäologe schritt nun zu dem im Sand steckenden Stab und erstaunte über den dort flügelnden Schmetterling, der sich vor dem nahenden Menschen allerdings von der Spitze des Stabes, auf die er inzwischen geklommen war, löste und von dort aus entschwebte.

Der Mann zog daraufhin den Stab aus dem Boden, trug ihn zu Leberecht und meinte leichthin: „Wir dachten schon, dass vielleicht dieser Stab die heilige Lanze sei. Aber, die Eisenspitze fehlt.” Wieder lachten sie. „Überhaupt lachen die jungen Leute von heute sehr viel und bei fast jeder Gelegenheit. Die Albernheit ist zum Index der Wahrheit geworden in der absurden Welt” dachte Leberecht und nahm den Stab aus der Hand des Archäologen entgegen. Der Archäologe meinte nebenbei, dass dieser Stab ihn unweigerlich an mexikanische Präsentierstäbe aus der Quechua-Ära des präkolumbischen Amerika erinnere. Die Hand des Archäologen umfasste dabei den eisernen Reif des Stabes und Leberecht ergriff ihn genau an jener Stelle, wo ein Ring aus Blei für den Saturn seinen Platz gefunden hatte. Die heilige Lanze also. Ist sie nicht tatsächlich immer mit dabei? Sie wird incognito herumgereicht. Auch du erhältst sie eines Tages. Ohne es zu wissen, trifft dich der Speer - wenn du Glück hast, ohne dich zu verletzten. 

Leberecht berichtete nun in Kürze einen Abriss seines Lebens; er hielt das für geboten, da die beiden Studentinnen interessiert ihre Augenpaare auf ihn hefteten. Die zwei jungen Frauen hörten gebannt zu - der IT-Freak packte irgendwelche Sachen hin und her und peilte mit seinem Satellitentelefon in Richtung Süden. Irgendwas schien aber nicht zu funktionieren, denn er fluchte leise vor sich hin und rückte nach ein paar Viertelstunden mit der Wahrheit heraus - man hätte „keine Verbindung zu dem Scheiß-Satelliten da oben”, wie er sich ausdrückte. Man könne sich zwar ungefähr nach der Sonne richten und einfach mit ihr im Rücken nach Norden fahren, wo das jüdische Land liege müsse, da Milch und Honig fließen. Wieder lachten alle.

Lange Rede - kurzer Sinn. Bald war alles zusammengepackt und Leberecht nahm auf der bequemen Rückbank Platz - zwischen den Theologiestudentinnen kam er zu sitzen und die Parfümnoten der beiden umfächelten mal so mal so seine empfindliche Nase. Leberecht unterhielt die Mädchen mit lustigen und traurigen Anekdoten aus seiner Dienstzeit - bis sie schließlich alle schläfrig wurden und nacheinander einnickten. Der Motor in dem Wrangler tat ohne zu mucken seinen Dienst und schnurrte wie ein Kätzchen. Die Klimaanlage des Wagens  funktionierte tadellos, der IT-Freak saß am Steuer und leerte von Zeit zu Zeit eine Büchse eisgekühltes RedBull, um sich fit zu halten. Dann gab es plötzlich einen Ruck - und der Wrangler brach vorn bis zu den Achsen im Sand ein. Inzwischen war es auch Abend geworden - und die Sterne traten aus ihren Kammern und schauten mit gleichgültigen Gesichtern hervor, um das zu betrachten, was von ihrem Sang in Gang gesetzt worden war und nun - so oder so - geschehen wollte ...

Mehr von Leberecht Gottlieb hier

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer
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