Ende des Buches vom Lapis Rubinorum Knossius
Leberecht Gottlieb (68)

68. Kapitel, in welchem Leberecht Gottlieb zu seinem großen Bedauern an das Ende des Buches vom rubinroten Stein anlangt und Andruschka Cohn dem Emeritus den Weg zu einem Wäldchen von Johannisbrotbäumen weist ...

Nur noch wenige Seiten stehen Leberecht in Dankreithers Buch zur Verfügung. Jeder von uns, der schon einmal ein gutes Buch las und dann am Ende bedauerte, dass dasselbe nicht noch ein paar mehr Kapitel aufwies, weiß von der großen Trauer nach erfolgter Lektüre. Dankreither hatte in seiner Schrift vom Lapis Rubinorum Knossius minutiös alles das aufgezeichnet, was zur Herstellung des Heroldsstabes notwendig wird. Zuerst die Ernte des Holzes zu einem bestimmten Resonanz-Zeitpunkt, der eine Verbindung zwischen dem Geburtshoroskop des Operateur und dem Datum des Astabschnitts - also dem Stab selbst herstellt. Dann die Einkerbung der einzelnen Planetenpositionen auf dem Stab und der Gebrauch desselben im Raume der Landschaft und zu bestimmten Zeiten. Der Heroldsstab ist so, wie der Hammer und jedes andere Werkzeug eine Verlängerung der Hand bedeutet, eine Verlängerung des Sinnesinstrumentariums des menschlichen Leibes. Leberecht studierte nun die verbliebenen Seiten aus dem Buch der Orakelfrau zu Siwa, welche - wir erinnern uns - eine späte Nachfahrin der Hexe von Endor gewesen war, ehe sie mit 113 Jahren das Zeitliche gesegnet hatte.

Hochehrenfester Freund und Gevatter Uschmann in fernem Land und fremder Zeit,
Wenn Du Dir nun klarmachst, wie die am Himmelsort rotierenden Häuserspitzen in ungleichförmiger Weise über die Tierkreisbegrenzungen streichen, wirst Du bemerken, dass die Herrschaftsverhältnisse und Verkettung der jeweils dominierenden Planeten sich manchmal sehr rasch ändern - manchmal aber fast eine ganze lange Stunde gar nicht. Wie nun noch zusätzlich alle Planeten in diesen Häusern verteilt sind, – das kommt mit dazu. Manchmal ist so ein Heroldsgesang über fünf Töne, manchmal nur über einen oder zwei. Das liegt hängt davon ab, wo die Himmelskörper etwa stehen - in der Mitte, am Anfang oder Ende des jeweiligen Hauses oder Feldes.

Stelle Dir z.B. einen Menschen vor, dessen Haus 12 im Fische beginnt, und der Jupiter im Widder sitzt, aber eben auch im 12. Feld. Da gibt es dann, beispielsweise, wenn die Sonne im 1. Feld zu finden wäre, zweimal den Ton “d”. Jetzt kannst Du nun durch die ephemeridischen Sterntafeln brausen wie der Wind im Kornfelde und suchen, wann etwa einer geboren sein müsste, damit sich ein Dominantseptakkord ergibt. Oder ein noch anderer! Wichtig ist, dass Du begreifst, dass es bei Dir folgendermaßen sich verhält: Der Herrscher von 10 beherrscht den Herrscher von 9, der den Herrscher von 12 beherrscht, welcher aus dem Löwen daherkommt.

Dadurch, dass wir den Heroldspunkt nur! als aus dem 12. Haus herkommend berechnen, erhält die gesamte alte Sternwissenschaft irgendwie einen ganz anderen Ansatzpunkt. Es geht nicht mehr so sehr um nur sichtbare Dinge, sondern um jenen Process, durch welchen Dinge langsam dorthin gelangen, wo sie sich schließlich von der Unsichtbarkeit wie mit einem Ruck losreißen und plötzlich sichtbar werden. Etwa so, wie der Vogel, der über dem Kasten des Auspicienten mit den Flügeln schlagend erscheint. Dieser Punkt, an dem sich das Ereignis aus der Fülle des Möglichen losreißt und unverwechselbar wirklich wird - das ist der Heroldspunkt. Und er wird ermittelt dadurch, dass man die Gradzahl der Herrscher voneinander abzieht. Ja nun, mein Lieber - man könnte sie sicher auch zueinander alle addieren. Aber ich habe mich für den Weg der Reduktion entschieden. Wie man sich einmal entschieden hat, so muss man dann auch weiterhin verfahren, denn man entwirft ja mit der Herold-Geist-Systematik ein System, das einem dann in gewisser Weise dient, indem es in uns vermittels unserer Sinne Fakten hervorbringt. Man würde sich selbst verwirren, wenn man heute so und morgen so diesen Abhebungspunkt, an dem die Melodie fertig geworden ist, berechnen wollte. Sauberkeit der Methode ist sehr wichtig, damit wir Messungen erhalten und mit dem Gemessenen dann auch etwas anfangen können.

Nun muss ist sicher auch noch etwas zum Geist und zu dem von mir Geistpunkt genannten zweiten Punkt erklären: Geist-Punkt nenne ich einen aneren imaginären Punkt auf der 360 Grad zählenden Radixscala, das hast Du weiter oben gelesen, nicht wahr? Denn Du bist aufmerksam. Du, mein lieber Freund, wo auch immer Du bist, und was immer Du tust, kommst immer mit der Figur 12/9/10/9/10 daher. Warum? Weil deine Planeten nun einmal auf diese Weise miteinander verknüpft sind – daran lässt sich nichts mehr ändern bis hin zu dem Tag, an dem du auf der asphodelischen Wiese Dir eine neue Inkarnation auswählst, der Wächterengel Dir den Hieb verpasst und irgendeine Hebamme Deine zukünftige Mutter irgendwo von Dir entbunden haben wird. Der Blick dieser geübten Frau nach der Uhr, oder solltest Du in einem afrikanischen Busch zur Welt kommen, nach den dort üblichen Zeitmessinstrumenten, wird Dir eine neue Heroldsmelodie, eine andere Dominantenverkettung der Häuser und ihrer Herrscherplaneten zuschreiben. Aber bis jetzt kommst Du eben auf die von mir beschriebene Weise in der Figur 12/9/10/9/10 daher.

Verzage nun nicht, Carissime, lies einfach weiter, lies langsam, denn es ist schweres Brot, was ich Dir vorsetze. Aber nahrhaftes! Wenn Du nun so zu mir daher kommst, bewirkt dein 12/9/10/9/10 bei mir natürlich auch etwas. Denn der Herrscher von 12 ist bei mir ein ganz anderer als bei Dir. Und der Herrscher von 9 und 10 sind nicht Mars und Merkur, sondern ganz andere Planeten. Aber, – genauso, wie Dein Heroldspunkt durch Subtraktion der beteiligten Glieder voneinander geschehen ist und berechnet werden kann, geschieht es auch ähnlich bei mir, wenn ich in Kontakt mit Dir komme. Es entsteht ein Punkt, der bei mir im Radix irgendwo sitzt. Und das ist die Abspiegelung Deines Heroldpunktsystematik bei mir, – ich nenne diesen Punkt den “Geist”.

Ich habe schon die allerbemerkenswertesten Zusammenhänge in dieser Hinsicht erlebt. Wessen Heroldspunkt auf einem Planeten des Geburtshoroskops irgendeines Menschen sitzt, – nota bene! Oder auf dem Ascendenten! Da geht es richtig los, mein Freund. Gegen die Zusammenhänge zwischen Geist, Herold und Planeten ist das gesamte bekannte astrologische Gerede von der Synastrie ein alberner Kram, glaube es mir. Ich habe auch Versuche angestellt dahingehend, dass ich die Heroldsmelodie und ihren Endpunkt vom 5. Haus aus berechnet habe. Oder nach der Methode von Regiomontanus oder der der alten indischen Gelehrten. Ich habe mir die Ohren heiß gerechnet und Wälder von Bleistiften vernichtet, Tonnen von Papier beschrieben. Nichts, – nur vom 12. Haus muss man ausgehen, denn von hier geht ja auch alles aus, wie ich Dir oben beschrieben habe. Und Placidus von Titi ist unser Mann, kein anderer.

Ich bin ja sehr gespannt. Sollten einmal noch mehr Planeten als unsere lieben fünf - mit den beiden Lichtern sieben - entdeckt werden, dann böte sich ein noch interessanteres Bild. Bei den Juden heißen diese imaginären schon lange die “unbekannten Körper”. Das 12. Haus und das 9. hätten dann nicht mehr so viel miteinander zu tun, als es jetzt noch der Fall ist, weil die Religion und das Unbekannte ja vom Jupiter beherrscht sind, was ja auch für jeden klar denkenden Menschen einsehbar sein wird. Auch Venus aus Haus 2 und Haus 7, Genuss und Liebe, sind ohne Diskussion. Mars aus 1 und Mars aus 8? Muss ich da noch etwas sagen? Ich würde die neuen Planeten, die ja dann fraglos schon dagewesen sein müssten (also alt sind), ins 12. ins 8. und 11. schicken. Denn was Saturnus im Wassermann soll, wer es begreifen kann, der begreife es. Ich jedenfalls habe dazu noch nie keine rechte Ahnung gehabt. Den vierten würde ich in die Waage schicken und die Venus entlasten. Und, wenn Gott der HERR, hochgelobt sei er, noch einen fünften übrig hat? Der soll sich in der Jungfrau mühen. Aber das alles nur nebenbei.

Wir sind also ständig umgeben von unhörbaren Akkorden und diese Akkorde rufen in uns Resonanzen hervor. Herolde und Geister coadiunctieren sich miteinander immerdar ohne Punkt und Komma, mein Freund, weil die Zeit vergeht. An den Wechseln der laufenden Herolde merkt man viel eher und stärker die Veränderung der Zeitqualität, als bei den Übergängen der Achsen auf Planeten und Punkte. Sei dessen versichert. Ich forsche daran nun schon bei siebzehn Jahren. Und mein Eindruck bestätigt sich immer mehr.
Nun noch einmal meine Bitte. Lass doch das, was ich Dir anvertraue, nicht zu Viele wissen, – schweige lieber darüber. Offenbare es nur den Kundigen und Würdigen. Denn das Schwert in der Hand des Falschen wird zu Etzels Waffe. Und das entschleierte Mysterium entzieht sich gekränkt dem, der es gedankenlos durch den Pöbel missbrauchen lässt.

Gott befohlen, – Dein Dankreither!

Leberecht bat noch am selben Tag seine Wirtin Andruschka Cohn, ihm den Weg zu irgendeinem  grünen Hain zu weisen, was dieselbe auch bereitwillig tat. Es handelte sich bei diesem Hain um ein ausgedehntes Waldstück in Richtung nach Gizeh hinaus, wo bekanntlich die Sphinx und die Pyramiden zu finden sind. Hier wuchsen viel Johannisbrotbäume kreuz und quer wild durcheinander - große und kleine, junge und alte. Leberecht hatte von Andruschka Cohn eine Machete ausgeliehen bekommen und mit dieser trennte er am 10. September um 10.45 Uhr Ortszeit einen etwa 4 cm dicken gerade gewachsenen Ast aus einem Meer von Schösslingen heraus, köpfte bei einer Länge von 170 cm den jungen Baum und schälte gleich darauf auch dessen Rinde mit ab. Es entstand auf diese Weise ein Stecken, der genauso hoch hinaufragte, wenn man ihn neben Leberecht stellte, wie dieser selbst. Stolz trug der Mann den Stab nach Hause - das heißt in das Gemeindezentrum der Andruschka und bat sich dort zusätzlich noch ein kleineres scharfes Messer aus. Dann berechnete er, wo alle Planeten liegen mussten, wenn der Anfangs- und der Endpunkt des Stabes bei 280 Grad läge, denn das war der Heroldspunkt in seinem eigenen Horoskopkreis. Leberecht schnitt und feilte und bog dann einige Metalle, die er von einem Antiquitäten-Tandler und Schrotthändler am Rande der großen Müllkippe leicht erwarb, zu Ringen, welche er kunstfertig in die dafür vorgesehenen Rillen des Stabes einpasste, so das sie für das Auge gut zu sehen waren. Die einzelnen Häuser des Tierkreises übertrug er genau auf den Stab, färbte die Abschnitte ein - und schon am Abend war ein kleines Kunstwerk entstanden, welches großes Lob von Andruschka Cohn erhielt. Leberecht saß in dem Gottesdienstraum, indem vor zwei Tagen seine Predigt zu hören gewesen war, fast eine ganze Stunde vor dem Werk des Stabes und betrachtete denselben mit Wohlgefallen.

Freilich - morgen war der 11. September. Seine Reisegruppe würde er nicht mehr auffinden. „Sei’s drum!” dachte er und: „Lass fahren dahin!” fügte er hinzu. Er würde noch etwas Zeit hier in Ägypten verweilen, mit dem Stabe experimentieren und dann in das Heilige Land zu den Rambertianern fahren. Sicherlich gab es dort noch eine Erinnerung an Samuel Amadeus Dankreither, der hier vor knapp zweihundert Jahren geforscht und geschrieben hatte.
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Mehr von Leberecht Gottlieb hier

Autor:

Matthias Schollmeyer

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