... beim LEGOtt
Leberecht Gottlieb (65)

64. Kapitel, in welchem wir Andruschka Cohn und den bekannten "Unbekannten Gott" - nämlich den LEGOtt - kennenlernen dürfen ...

Leberecht war nun auch wieder im Besitz eines neuen und überaus modernen SmartPhones. Es handelte sich um das iPhone 15 ProMax-Gerät mit 265 Gigabyte Speicherplatz. Der Taxifahrer chauffierte Leberechten zum Gemeindezentrum der Syrisch-Orthodoxen Koptengemeinde in Kairo-Mitte, woselbst der Ruheständler am kommenden Sonntag eine Predigt zu halten sich bereit erklärt hatte. Dort setzte der Fahrer seinen Pfarrer bei einer überaus freundlichen und lebenszugewandten deutschen Predigerin ab. Diese Frau hatte nach langen Jahren unerfreulicher Arbeit irgendwo im Mittelren Osten Deutschlands sich auf die Socken und in den Orient aufgemacht und versorgte hier ehrenamtlich das administrative Hin und Her der kleinen orientalischen Christenschar. Sie trug das Herz am rechten Fleck und kochte für Leberecht erst einmal Schweinshaxe mit Grünkraut und Klößen. Sogar eine Art Kürbiskompott gab es hinterher - auch Kaffee mit Honig und Kamelmilch.

Dann organisierte Andruscha Cohn - denn so hieß die Dame und sie war Tochter von deutsch-jüdischen Spätaussiedlern aus Russland - aus dem Heer der arbeitsfreien Jugendlichen Kairos einen mit Namen Jesus Mohamad und dieser führte Leberecht zu einem Freak, der sich mit allerlei IT-Kram auskannte und das oben genannte Handy Leberechten für ein paar Dollar gern überließ. Das Gerät war ein wenig beschädigt und nach einem Jailbreak zu allem Möglichen fähig gemacht worden. Es war sehr hässlich - aber nach einiger Zeit hatte sich Leberecht an die rosane Farbe und die eingeritzten Herzchen und ein paar dänische Powersprüche auf der Rückseite gewöhnt. Das Teil verrichtete seine Arbeit zur Zufriedenheit - und der Code von Leberechts altem Handy bzw. dessen SIM-Card war von dem Freunde des Jesus Mohamad in wenigen Minuten  geknackt. Leberecht kontrollierte daraufhin seinen Kontostand und alles war sehr perfekt. Die Zahlstelle seiner Kirche hatte zum Monatswechsel die Pensionsbezüge überwiesen, alle Rücklagen waren noch vorhanden - so stand also weiteren Abenteuern finanziell nichts im Wege. Als erstes wollte sich Leberecht aber über diese sonderbare altorientalische Kirche informieren, in deren Arme er hier gelaufen war. Ein paar WIKI-Artikel gab es im Netz dazu, so dass sich  Leberecht schnell einen groben Überblick zu verschaffen wusste . Wo war er hier also gelandet?

Es handelte sich bei der Syrisch-Orthodoxe Kirche von Antiochien um die nach der Urgemeinde in Jerusalem bestehende älteste Christengemeinschaft. Die Kirchentrennung im Vorderen Orient, die zur Existenz einer selbständigen Syrisch-Orthodoxen Kirche geführt hatte, war theologisch unvermeidlich geworden, weil die Syrer den christologischen Beschlüssen des Konzils von Chalcedon (451) nicht folgen wollten. Denn hier hatte die Mehrheit Christus als wahren Gott und wahren Menschen aber eben in zwei Naturen bekannt; das war eine den syrischen Theologen zu gefährliche Definition, weil sie durch die Betonung von „zwei Naturen“ die Einheit der Person Christi verletzt sahen und ein Abgleiten in die schroffere nestorianische Zwei-Naturen-Lehre fürchteten. Gemeinsam mit den Kopten Ägyptens betonten sie die wahre Gottheit und die wahre Menschheit Christi in nur einer einzigen Natur. „Monophysiten“ wurden sie deshalb von ihren Gegnern genannt. Oder auch "Miaphysiten."

Mit diesem Bekenntnis stand die Syrisch-Orthodoxe Kirche im krassen konfessionellen Gegensatz vor allem aber zur ostsyrischen „Kirche des Ostens“ mit ihrem früheren nestorianischen Christus-Bekenntnis. So braucht es kaum besonders betont zu werden, dass sich die beiden syrischen Kirchen, die in enger geographischer Nachbarschaft lebten, theologisch heftig befehdeten. Nach jahrzehntelangem Streit und teilweiser Verfolgung durch die römische Staatsgewalt schuf der Bischof und Mönch Jakob Baradai, gest. 578 den Seinen eine von der Reichskirche unabhängige Kirchenorganisation.

Die Jahrhunderte des Mittelalters waren geistesgeschichtlich eine bedeutende Zeit, nicht nur für die aramäische Christenheit selbst, sondern auch für den Islam, der in vielem vom Geistesleben der Christen profitierte - das merke man sich gut! Dabei war – über die konfessionelle Grenze hinweg – die Gelehrsamkeit der beiden syrischen Kirchen, der Syrisch-Orthodoxen wie auch der Apostolischen Kirche des Ostens, von weitreichender Bedeutung. Die syrischen Theologen betrieben Wissenschaft weit über das im engeren Sinne Theologische hinaus, wobei der bedeutendste frühe Vertreter Jakob von Edessa war. Sie beschäftigten sich vor allem mit der Philosophie des Aristoteles und den medizinischen Lehren Galens. Sie hatten vieles aus dem Griechischen ins Syrische übersetzt. Teilweise übersetzten sie diese Schriften sowie andere direkt aus dem Griechischen auch ins Arabische. Zudem schrieben ab dem 8. Jahrhundert aramäischsprachige Theologen Abhandlungen philosophischer und medizinischer Natur direkt auf Arabisch. Die abbasidischen Kalifen förderten das zu ihrem Vorteile, zudem waren ihre Leibärzte zumeist syrische Christen. Eigene hatten sie eher wohl nicht so gute. Die aristotelische Ausprägung der islamischen Philosophie, wie wir sie bei Ibn Sina und Ibn Ruschd vorfinden, wurde im Wesentlichen von den syrischen Christen vorgegeben. Tja - damit wurden sie indirekt auch für die abendländische Scholastik prägend. Die Zeit kirchlicher wie geistiger Blüte endete für die Syrisch-Orthodoxe Kirche im 14. Jahrhundert, weil sich nun die religionspolitische Situation vollständig geändert hatte. Grigorios bar ‘Ebroyo hatte es noch erlebt, dass um die Mitte des 13. Jahrhunderts das arabische Kalifat von Bagdad unter dem Ansturm der Mongolen unterging. Das war für die Christen zunächst keine ungünstige Wendung; denn die Mongolen, die weithin noch ihrem zentralasiatischen Schamanismus anhingen, sahen im Islam ihren Hauptfeind und begegneten dem Christentum, das sie in kleiner Zahl sogar selbst angenommen hatten, mit Sympathie. Doch ebendieses änderte sich noch in den letzten Jahren dieses selben 13. Jahrhunderts, weil sich die Mongolen nun doch für den Islam entschieden (Fehler!) und jetzt den Christen weniger duldsam begegneten, als es einst der arabische Islam getan hatte. Es kam zu blutigen Verfolgungen und drängte auf den grausamen Höhepunkt zu, der sich mit dem Namen Timur Lenks, des Mongolenherrschers in Samarkand, verbindet. Als fanatischer Christenfeind – so verstand er sich selbst – dezimierte er im späten 14. und frühen 15. Jahrhundert auf seinen verheerenden Kriegszügen das Christentum im Orient. Aus stattlichen Kirchen waren innerhalb nur weniger Jahrzehnte kleine Kirchen geworden, aber sie gingen nicht gänzlich unter.

Weitere Gläubige verlor die Syrisch-Orthodoxe Kirche in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als auch anglikanische und amerikanische Missionare auftraten, die unter den Muslimen erfolglos geblieben waren und dafür jetzt unter den orientalischen Christen wüteten.  Von dem wenigen, das wir über die älteste Zeit dieses syrischen Christentums wissen, ist vor allem seine asketische Grundstimmung zu nennen, der Grundsatz (der zumindest weithin galt), nur Ehelosen oder in geistlicher Ehe Lebenden die Taufe zu spenden. Daraus entwickelte sich das syrische Mönchtum. Aber dieses Mönchtum wurde zugleich auch zum Träger geistigen Lebens und erlangte auch darin Berühmtheit; denn die Klöster, an denen es ungeachtet der eremitischen Vorliebe nicht fehlte, waren zum großen Teil Zentren der Gelehrsamkeit mit beachtlichen Bibliotheken.

Aha - dachte Leberecht. Und konnte sich jetzt auch dunkel an irgendein Seminar erinnern, das er als junger Theologiestudent gebucht hatte, um tiefer in die Wirren der Dogmengeschichte eindringen zu können. Andruscha Cohn setzte sich zu ihm und die beiden kamen gut miteinander ins Gespräch. Andruscha - etwa sechzig Jahre alt - hatte noch diesen unnachahmlichen Akzent der osteuropäischen Frauen, der einen fassungslos macht und das Blut in den Adern gefrieren lässt. Es ist etwas aus ganz ferneren Welten - und diesem Akzent gegenüber ist jeder geistig hochstehende Mann wehrlos ausgeliefert. Unter seinem Einfluss wird er wieder zum staunenden Kinde.

Andruscha hatte ein Hobby: Ob sie ihm einmal ihre Sammlung zeigen dürfe? fragte sie. Und Leberecht nickte. Da zog Andruscha Cohn ihren Gast durch dunkle Gänge über einen Innenhof zu einem finsteren Zimmer, von dem aus ein Gang nach links abzweigte, der in einen weiteren Innenhof führte und von dort wieder durch Gänge und Türen in einen lichtdurchfluteten Glaspavillon, in dem einige Scheiben zwar fehlten, aber sonst hatte hier alles fast ägyptischen Pharaonencharme. Leberecht stockte der Atem. Denn das alles, der ganze Raum hier, bestand vorwiegend aus LEGO-Steinen. Andruscha Cohn nickte ernst: "Alles ist LEGO." hauchte sie. Und dann entwickelte sie Leberecht eine geschlossene Theorie vom Aufbau der Welt und begann bei der Schöpfung - wo ja tatsächlich alles begonnen hatte - und endete erst mit dem Feuersturm der letzten Apokalypse irgendwann weit draußen in der sogenannten Zeit.

Nach ungefähr dreieinhalb Stunden wusste Leberecht alles über den Baum des Lebens, der aus Legosteinen errichtet in der Mitte des aus Lego gelegten grünen Gartens stand, auch über den anderen Baum, dessen Früchte zwischen Böse und Gut zu unterscheiden zwingen - und damit böse machen. Über Lilith kamen sie zu Eva und vorher streiften sie natürlich ebenfalls Adam, den Erdenkloß, der allein war und deshalb eine Frau bekam. Egal. Dann die Sache mit der rotgelbgrüngetupften Schlange, die das Weib zur Sünde verführte und den Verlust des Gartens bis heute zu verantworten hat. "Aber damit ist nun Schluss" meinte Andruscha. "Die rotgelbgrüne Schlange wurde dahin gefegt durch den Willen des Wählers." Leberecht ging auf die mit offenbar investigativer Absicht vorgetragene politische Spitze nicht ein - und so spann sich der Vortrag weiter über Kain und Abel, deren grausame Geschichte man mit Legomännchen dargestellt sehen konnte. Die beiden Altäre waren errichtet, der eine mit einem Zicklein darauf, der andere mit Früchten des Feldes ausgestattet. Der nötige Rauch bestand aus Watte und kräuselte sich vom Altare Abels lieblich nach oben, während der Rauch Kains sich am Boden entlang winden musste, denn der HERR hatte das Opfer des älteren Bruders nicht angenommen. Die Sintflut ergoss sich alsbald in einem anderen Lego-Bilde, der Turmbau scheiterte in Fortsetzung des verderblichen Wandels allen Fleisches auf Erden und über Abrahams Opfer ging es zu den zwölf Söhnen Jakobs, dem Pharao und Mose mit den Seinen in der Wüste. Man konnte auch die ertrunkenen Ägypter am Grunde des Schilfmeeres schön sehen. Und alles, wie schon gesagt, aus Lego. Saul, David und die Vertreibung nach Babylon mit einer wunderbaren Kopie des Ischtartores. Aus Lego. Schließlich Rückkehr aus der Gefangenschaft und die Errichtung des Neuen Tempels. Andruscha Cohn erklärte in raschem Gewaltritt durch die Geschichte Israels die Grundzüge alttestamentarischer Theologie und war gerade im Begriff, in die Bereiche des Neuen Testaments überzuwechseln, als Leberecht um ein Glas Wasser bat. Dieses wurde ihm gereicht - und gleich ging es weiter mit der Geburt zu Bethlehem, der Fluchr hierher nach Ägypten, der Lehre des Zimmermannssohnes bei seinem gütigen alten Vater Joseph. Es folgte die Wirksamkeit als weiser und wundertätiger Rabbi, Heiler und Geschichtenerfinder bei armen und gebeutelten Menschenkindern. Der Judasverrat war aufgebaut mit einer interessanten Legofigur, die das Säckel mit den Silberlingen in der Rechten trug und mit der Linken das Gesicht Jesu berührte. Der berühmte Kuss wäre nicht darstellbar gewesen, die Löcher auf der Grundplatte ließen die enorme Nähe zweier Personen nicht zu, bemerkte Andruscha Cohn auf Leberechts Nachfrage. Dann das Abendmahl mit Fußwaschung der Jünger, die große Sünderin mit dem Salbennapf, das Verhör vor Pilatus und die Via Dolerosa, Veronikas Tuch und die Kreuzigung mit gleich darauf folgender Kreuzabnahme, Verbringung des heiligen Leichnams in den Garten und zu einem "neu Grab, darinnen noch niemand gelegen." Auch natürlich der Ostermorgen mit zwei Legoengeln und schließlich die Aufnahme des Herrn in den Himmel. Alles aus Legosteinen.
„Wollen Sie wissen wieviel Steinchen das sind?” fragte Andruscha Cohn - und beschloss, ohne die Antwort Leberechts abzuwarten, ihren Vortrag mit der immensen Zahl 1.998.435. Denn so viele Steinchen waren es haargenau.

„Wo ist Gott?” fragte Leberecht Gottlieb. Und Anuschka Cohnn sagte. Er ist das Ganze. Er ist der LEGOtt. So hieße dieses Projekt auch. Man könne damit Vieles erklären. Mancher habe sich schon in dieser LEGOtt-Welt von dem hier überall verbreiteten schrecklichen Irrglauben zum Glauben der Christen bekehrt. Und die Legosteinchen seien ihr im Laufe Ihres Lebens zugefallen, wie man so schön sage. Im fernen Kaukasien, von wo sie vor 34 Jahren nach Deutschland aufgebrochen, hatte sie einmal eine kleine Packung mit Legosteinen in einem Schuhkarton erhalten. Das sei der Anfang ihrer Sammlung geworden. Und einmal habe sie vor Jahren im Internet einen verunglückten Schiffscontainer im Hafen von Hamburg ersteigert. Der sei voller Lego gewesen. Und so weiter und so fort. Jetzt könne sie hier nie mehr weg. Denn dem LEGOtt halte sie bis zum letzten Atmenzug - möge der fern sein - die Treue. Leberecht war beeindruckt. In Gedanken umarmte er die Lego-Frau und sagte leise, wie zu sich selbst: Wir sind alle Freaks.

Dann kehrte man durch die Gänge und Tunnel zurück in das Bürozimmer der kleinen Kirchengemeinde und saß bei Kaffe und Keksen noch etwas zusammen. Leberecht revanchierte sich bei Frau Cohn und las nun seinerseits ein wenig aus dem Lapis-Buch vor:

Mon Cher, maitre Uschmann!
Wie viel gäbe es noch zu berichten. Aber wo anfangen, wo aufhören, was besonders stellen und was nicht? Meinen letzten Brief an Dich beendete ich etwa mit den Worten: “Wann und wo wird es (ich meinte das Schicksal … und gebe zu, das ist ein dummer Begriff!) uns zusammenführen? Oder sind wir schon mehr zusammen, als ich mir denken kann. Weil, – nun zwar nicht mehr durch denselben Raum und die gleiche Zeit verbunden, sondern durch den Sinn?” Aber dieses “es”, was da zusammenführt (ich will es hinfort ES schreiben), ist das nicht schon jener Sinn?

Zweifle nicht, mein Freund! Ein Beispiel: Sind wir beide in einem Arbeitszimmer, kann ich Dich berühren. Sage ich ein Wort, kannst Du es hören. Es muss das aber nicht zur selben Zeit geschehen. Denn, lege ich eben einen Brief hin, verlasse ich den Raum und Du holst Dir ein paar Tage später diesen Brief in diesem Raum ab. Oder aber meinetwegen, – wir sind an verschiedenen Orten. Du etwa in der Kirche am Grabmal Schumanns in Zahna und ich in Linz bei dem seltsamen Uhrmacher Schloime Gebirtiger in der Badgasse. Zur gleichen Zeit schauen wir nachts aus dem Fenster auf den am Himmel wandernden Mond. So sind wir miteinander vereint, in derselben Zeit an verschiedenen Orten. Aber Du merkst bereits, worauf ich hinaus will? Ja, – nun! Menschen zu verschiedenen Zeiten und auch an verschiedenen Orten haben auch eben besonders Gemeinschaft dadurch, dass sie sich mit einem bestimmten thematischen Inhalt beschäftigen. Mit einem interessanten Thema, – etwa mit dem Thema von Raum und / oder Zeit. So haben sie miteinander Gemeinschaft. Und zwar meine ich das, Carissime, nicht nur im übertragenen Sinne, – nein: Ich meine es wirklich und ganz substanciell in dieser verrückt erscheinenden Weise. Das Nach-Denken über die Sterne und Planeten etwa, wie wir es nun schon viele, viele Jahre miteinander üben und uns zum größten Pläsiere gönnen, gehört dazu. Die überaus langwierige Beschäftigung mit den Zahlen im 360 Grad-Kreise verschmelzen Zeit, Raum und Inhalt in einem solchen Maße miteinander, dass es - zumindest für mich - keinen Unterschied mehr gibt, wenn ich ehrlich sein soll. Zeit ist Raum, und Raum ist Zeit. Und dieses, weil sie Zahl sind. Und Zahl ist reiner Inhalt, ist Harmonie, ist Thema, ist Stoff und Substance.

So bin ich mir sicher, obwohl ich Deinen Ort nicht kenne und Deine Zeit nicht weiß, dass Du von meinen Briefen Kunde erhältst. Ich kenne ja Deine Geburtszeit am 25.Oktober 1719. Deshalb habe ich einen Zweig dieser Art, von welcher Art ich nachher gleich weiter berichten will (verzeih meine dauernden Abschweifungen, mein Lieber!) auch für Dich und Deine Nativität gebaut. Meiner und Deiner stehen hier nebeneinander in meiner Gartenlaube. Und im Winter werde ich sie in der Bibliothek postieren. Aber hier gibt es gar nicht so harte Winter wie bei uns damals in Zahna, wo die Vögel tot vom Himmel fielen. Bald nachdem ich diese Zweige angefertigt hatte, trug sich etwas Sonderbares zu. Das Kloster der Rambertianer hat seinen Küchenjungen verloren. Derselbe war plötzlich zurück zu seiner Familie gegangen, wohl, – weil er die harten Gesetze des mönchischen Lebens noch als Novice als für sich unzutreffend hat einschätzen können. Besservjetzt als zu spät. Aber es kam ein neuer Küchenjunge. Und, – der hat große Ähnlichkeit mit Dir. Und ich habe mich zuerst erschrocken. Dann hat natürlich mein Verstand mich dahin führen wollen zuzugestehen, dass diese sonderbare Coincidentia meine reine Einbildung sei. Aber – wo hören die eingebildeten Bilder auf und beginnen die nichteingebildeten, nämlich die ausgebildeten? Auch hierüber mache ich mir Gedanken.

Übrigens, der Zweigstab wird so hergestellt, dass man einfach die Positionen der Planeten und Punkte in das Holz einschneidet. Der Zweig soll so groß sein, wie diejenige Person, die ihn repräsentiert. Wenn ich meinen vor mich hinstelle, liegt der Mond genau in der Höhe der Thymosdrüse, was mich sehr erfreut hat, als ich es entdeckte. Sagten doch die Alten, dass hinter dem Brustbein die Seele wohnt. Ja, – wo wohnt sie? Ich denke, nicht die Seele wohnt in einem Körper, sondern der Körper wohnt in einer Seele. Bis hierin heute. Es ist Mittag, und ich werde beim Chorgesang erwartet. Will auch den Namen des neuen Küchenjungen ausforschen.

Dein getreuer Dankreiter!

Andruscha Cohn meinte nach einer langen Stille. Das ist ein schöner Brief, den da jemand seinem Freunde schreibt. Was ist das für ein Buch, aus dem Sie mir vorgelesen haben? Und Leberecht antwortete der Wahrheit gemäß: "Dieses Buch gehörte der letzten Totenbeschwörerin in der Oase Siwa. Der Titel lautet: 'Der Edelstein Lapis Aquamarinus Knossius'. Und der Autor ist ein gewisser Johann Nepomuk Dankreither, der im achtzehnten Jahrhundert geboren wurde und im neunzehnten verstarb. Das heißt - niemand weiß, ob er verstarb. Kann sein, dass der Mann als Zeitreisender noch unter uns ist.
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Autor:

Matthias Schollmeyer

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