der Reisekamerad
Leberecht Gottlieb (50)

50.Kapitel - was Leberecht Gottlieb während des Fluges über das Mittelmeer erleben darf - und wie er in Ägypten plötzlich allein auf dem Parkplatz steht ...

Stewardessen sind immer so schön … Wenn er noch einmal sollte auf diese Erde wiedergeboren werden, wird Leberecht Gottliebe eine dieser schmucken Stewardessen sein. Wird in einem Flugzeug allen Teilen dieser schönen Welt Besuche abstatten und von dort aus an liebe Menschen Postkarten versenden. Gwendolin heißt die junge Frau, die sich so rührend schon geraume Zeit um Leberecht bekümmert. Ihr Name bedeutet Blume und steht auf einem kleinen Schildchen am Jackenrevers. Hier ein Glas Wasser, dort ein paar Snacks. Eine Zeitschrift und immer wieder die diskrete Frage, ob alles in Ordnung sei?

Man hatte mit einigermaßen großer Sorge vom Flugzeug aus mit ansehen müssen, wie dieser gebeugte Rentner dort mit seinem Handgepäck die Stufen hinauf geklommen war und sich auf seinen Platz setzte - die Nummer 24. Solche Flugticketgewinner waren meistens Rentner und wiesen ihrer statistischen Kohorte eine besonders hohe Anfälligkeit für Höhen- und Luftdruckwechsel auf, weswegen schon mancher Flug verzögert unten losging bzw. verspätet dort wieder ankam. Manchmal auch verließen solche  Flugticketgewinner Gwendolins Aeroplan in Richtung eines Krematoriums, dessen Adresse im Kleingedruckten der Bordkarte sicherheitshalber immer vermerkt worden war. Leberecht aber ging es gut. Die Narbe am Kopf pulsierte zwar beim Startvorgang der Boing 737. Aber das ging vorüber, als der Reisende, um den sich Gwendolin rührend bemühte, den Psalm Nummer Dreiundzwanzig und danach den Einundneunzigsten in Gedanken intonierte.
Leberecht schaute aus dem Fenster hinaus - und sah alles. Keine Wolken, nur Landschaft und dann das Erzgebirge, die Karpaten, über das Land der Türken hinaus direkt das Mittelmeer nehmend bis hart an das Delta von Vater Nil. Sieben Stunden war man unterwegs - gerade so lange, wie Gott damals gebraucht hatte, die oberen Wasser von den unteren zu trennen, denn das war keine einfache Sache gewesen.

Neben Leberecht hatte ein großer Mann aus Asien Platz genommen. Leberecht nannte ihn im Stillen bei sich selbst den Chinesen. Der Sitznachbar war in schwarzes Tuch gekleidet. Leberecht hätte dieses Tuch gern einmal berührt, denn er kultivierte eine persönliche Vorliebe für exzellente Stoffe seit Kindertagen. Der Chinese schien Leberechts Gedanken erraten zu haben, denn er meinte in einem sehr gepflegten Oxfortenglisch Folgendes: „Mein Herr, ich würde durchaus keine Einwände dagegen erheben wollen, wenn Sie es wagten, mir mit einer Frage zu nahen, um in Erfahrung zu bringen, ob ich es Ihnen gestatten würde, die Seide meines Anzuges mit der Hand einmal vorsichtig berühren zu dürfen. Es handelt sich bei diesem Stoff um Naturseide aus Qingzhou und dieselbe ist tatsächlich noch mit dem Farbstoff der antiken Purpurschnecke Hexaplex trunculus behandelt worden. Ich darf mich Ihnen an dieser Stelle gleich bekannt machen: Mein Name lautet Luan Wang Li Zhang. Und ich handele mit allen möglichen Textilstoffen. Gegenwärtig gründen mein Bruder und ich in Kairo eine Zweigstelle für unsere Seiden-Manufaktur in Qingzhou.”

Leberechts Englischkenntnisse hatten ausgereicht, alles mehr oder weniger gut zu verstehen. Er zeigte sich interessiert, obwohl die Müdigkeit gerade eben im Begriff gewesen war, ihn einzuschlafen zu lassen. Selbstverständlich aber revanchierte sich Leberecht, indem er dem Chinesen Herrn Luan Wang Li Zhang seinerseits Namen und Profession vorstellte, indem er erklärte, man habe das ganze Leben lang selber versucht, seine bescheidene Kraft in den Dienst einer sehr, sehr alten Institution zu stellen. Der Chinese lächelte lautlos und meinte dann, Ähnliches habe er sich schon gedacht. Denn von Leberecht ginge das Gefühl großer Sicherheit aus -  ein Effekt, den man nur bei sehr gläubigen Menschen spüren könne, Herr Lebe Echt sagte Luan Wang Li Zhang - tatsächlich waren da Schwierigkeiten mit dem Buchstaben ‚R’. Luan Wang Li Zhang verwandelte diesen Rachenlaut aber nicht in das labiale ‚L‘ - sondern ließ das ‚R‘ ganz weg. Das klang seltsam - aber nicht unschön. Luan Wang Li Zhang sagte also nicht Pulpul zu Purpur, sondern einfach Pupuschnecke.

Die beiden Reisenden kamen miteinander gut in's Gespräch. Es ging über die Übersetzung des I-Ging durch Richard Wilhelm. Dieses wundersame Buch, das bei uns im Deutschen „Buch der Wandlungen” genannt wird, hatte Leberecht in seinen jungen Jahren verschlungen und zeitweilig bei allen wichtigen Entscheidungen auch zu Rate gezogen.
Nun flog man schon über das Mittelmeer - und Luan Wang Li Zhang zitierte das uralte Orakelbuchbuch aus dem Reich der Mitte: "Fördernd ist es, das große Wasser zu überqueren." Sie schauten schweigend nach rechts zum Fenster hinaus. Dort hatten sich anmutige Wolkenstreifen gebildet. Zwei durchgehende Linien oben, darunter vier gebrochene Linien. Luan Wang Li Zhang sagte: Das ist Guan - die Betrachtung oder der Anblick. 

Unten die Erde und oben der Wind.
Wenn die Dinge groß sind /
dann kann man sie betrachten. /
Der Wind geht über die Erde hin. /
So besuchten die alten Könige die Weltgegenden
und spendeten dem Volke Belehrung.”

Leberecht ergänze das Fernöstliche mit dem einhundertundvierten Psalm der Hebräer, wo es heißt: 

"Du breitest den Himmel aus wie ein Zelt /
Du fährst auf den Wolken wie auf einem Wagen /
und kommst daher auf den Fittichen des Windes.”

So schauten sie beide lange auf das Wolkenhexagramm und schweigend wurden sie gewahr, wie sich dasselbe dann irgendwann in das Zeichen 24 änderte: Die Wiederkehr. Und Luan Wang Li Zhang, der die Texte alle im Kopf zu haben schien, rezitierte: 

Die Wiederkehr. Gelingen.
Ausgang und Eingang ohne Fehl.
Freunde kommen ohne Makel.
Hin und her geht der Weg.
Am siebenten Tag kommt die Wiederkehr.
Fördernd ist es zu haben, wohin man geht.”

Es gab einen Ruck, ein Schüttern lief durch die Maschine, als ob sie vor solchen weisen Worten erschauere. Und gleich darauf verkündete Gwendolin mit flötender Stimme, dass man das Ziel der Reise - nämlich Kairo - gleich erreichen würde. "Was ist eigentlich das Ziel meiner Reise ..." schoss es Leberecht durch den Kopf und der Chinese Luan Wang Li Zhang lächelte dazu jenes unpersönliche Lächeln der Asiaten, undurchschaubar für alle - und genau das ist auch sein Zweck. 

Was wäre noch zu berichten? Leberecht und Luan Wang Li Zhang blieb eine gute halbe Stunde Zeit, während der sie gemeinsam schweigend die großen Wolkenlinien am Himmel betrachteten. Dann, nach der Landung und vor der Lobby des Flugafens, wartete auf dem riesigen Parkplatz ein schwarzer Mercedes, dessen ausnehmend gut gekleideter Chauffeur Luan Wang Li Zhang ehrerbietig begrüßte. Leberecht wurde von niemandem begrüßt. Luan Wang Li Zhang überreichte ihm zum Abschied jedoch noch seine Visitenkarte, welche aus gestärkter dunkelvioletter Seide bestand. Und mit eingeprägten Goldbuchstaben waren vier chinesische Schriftzeichen darauf zu sehen, die strahlten in der Abendsonne, wie das Tetragramm oben an einem frisch restaurierten Barockaltar. Luan Wang Li Zhang verneigte sich schwach und sagte wieder in seinem umständlich schönen Englisch: "Halten zu Gnaden, guter Freund. Sie waren mir ein vorzüglicher Reisekamerad!" Er bestieg die Rückbank des Mercedes - der Motor schnurrte kurz auf wie ein Kätzchen. Dann brauste das edle Fahrzeug mit dem Sohn der Mitte davon ...

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mehr von Leberecht Gottlieb hier

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer
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