der Wahlkampfkiosk
Leberecht Gottlieb (49)

Vorschau: Das ist das 49. Kapitel der Lebensgeschichte von Leberecht Gottlieb. Wir werden Zeuge davon, wie der verehrte Emeritus eine Reise nach Ägypten gewinnt und dieselbe im Kapitel 50 mutig antritt. In Kapitel 51  wird der Verehrte allerdings von Kairo aus sich irrtümlich nach dem einige Hunderte Kilometer weit entfernten Orakel der Oase Siwa aufmachen. Seine Reisegruppe dagegen fährt auf dem alten Nilstrom nach Luxor. Man hat einander aus den Augen verloren ... Kapitel 52 will berichten, wie Leberecht Gottlieb eine der Urururenkelinnen jener ehemals zu Siwa waltenden Pythia befragt, die keine andere als die Hexe von Endor gewesen war. Und wie der ehemalige Pfarrer i.R. aus Mumplitz, Plötnitz und Prätzschwitz langsam zu ahnen beginnt, was die Welt im Innersten eigentlich zusammenhält …

Der phantastische Multifunktionsdrucker der Dresdener Universitäts- und Staatsbibliothek hatte Leberecht Gottlieb seine beiden hochwichtigen ihm seinerzeit von Kahlil zugesandten Dateien ausdrucken und zusammentackern lassen. Der aufmerksame Leser wird sich erinnern - es handelt sich bei diesen Schriften um Johann Nepomuk Dankreithers „Der Edelstein Lapis Aquamarinus Knossius” und Giordano Brunos „Die Kabbala des Pegasus.” Mit diesen Schriften im Reisegepäck betritt Leberecht jetzt die Gangway zu seinem Flieger nach Kairo. Das Ganze findet auf dem Leipziger Flughafen statt. Aber - wir haben noch nicht berichtet, wie unser Glückspilz überhaupt an die Reise nach Ägypten gekommen ist? Das geschah folgendermaßen:

Leberecht überquerte eben gerade die Fetscherstraße. Vom Unfallkrankenhaus Dresden wollte er auf die andere Seite, um … Ja, warum eigentlich? das ist nicht mehr bekannt. Da wurde gegenüber an der Mauer zum Neuen Israelitischen Friedhof dieser sonderbarer Wahlkampfkiosk sichtbar. Dudelige Musik ertönte. Und zwei beleibte Herren mit einer Frauensperson hatten ihm zugewinkt. Leberecht ist es gewohnt, auf Leute „drauf zuzugehen” wie es früher in seiner alten Pfarre immer geheißen hat. „Ein Pfarrer muss auf die Leute drauf zugehen, denn das zieht die Jugend an” war ein gutes, wenn nicht sogar das beste Urteil, welches sich ein Pfarrer von Seiten seiner Gemeinde erhoffen durfte. Was man predigte war relativ egal, wenn es nur laut genug geschah und nicht zu lange andauerte. Also  - was wird leberecht tun? Er geht ohne Kontaktangst auf die winkenden Leute zu und stellt sich vor: Gestatten, Leberecht Gottlieb, Pfarrer im Ruhestand - und ob er wohl irgendwie weiter helfen könne?

Stille tritt ein. Die Frau wendet sich ab und verschwindet hinter dem Kiosk. Einer der Männer meint: „Macht nichts! Dürfen wir ihnen unser Parteiprogramm aushändigen? Wir sind zwar nicht in der Kirche, aber Sie gehen ja sicher zur Wahl, wo wir doch jetzt die Demokratie haben!” Leberecht nickt und will gerade ausführen, dass es nie zu spät sei, wieder in die Kirche einzutreten oder sich selbst gar taufen zu lassen, da fragt ihn der andere Mann, was denn die Kirche gegen illegale Migration tun wolle, gegen die hohen Energiekosten, den Krieg in Gaza und der Ukraine. Gegen Altersarmut und den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Würdenträger. Und gegen die Deindustrialisierung Deutschlands. Da merkt Leberecht, dass er an diesem Kiosk offenbar ein kirchenfeindliches - zumindest kirchenkritisches - Milieu touchiert hat.

Hinter dem Kiosk entlang zieht sich diese helle Mauer entlang. Sie trennt den jüdischen Gottesacker vom profanen Weltgetümmel. In dieses Getümmel ist Leberecht auf unerbittliche Art und Weise im Anschluss nach seinem Hospitalaufenthalt bei Oberarzt Dr. Anwar Ibn Rehem eben wieder eingetaucht. Jedoch sind ein paar Grabsteine hinter der Mauer so hoch und erhaben, dass sie über die Mauerkrone hinaus ragen und man sie von der Straße aus sehen kann. Wie man ja eigentlich immer etwas von der jenseitigen Welt wahrnehmen wird, wenn man die Augen öffnet und eine Antenne für das Unendliche hat.

Auf den Monumenten, die über die Mauer ragen sind die heiligen Buchstaben der Hebräer  zu entdecken, alle die von Leberecht so heiß geliebten Charaktere - in Stein gemeißelt von Aleph bis Taph. Das tröstet. Leberecht will die Wahlkämpfer, welche Zeugen Jehovas gleich, die bei Wind und Wetter dem Wachturm treue Dienste versehen, hier draußen im Sinne ihrer Partei ganz ähnlich um Sympathie ringen, nicht verletzten oder gar kränken. Auch sie sind ja Gottes Geschöpfe ... Der Herr hat das Lamm geschaffen - genauso wie die Schlange. Er schuf die Früchte am Baum des Wissens von Entweder/Oder, ebenso auch die Früchte auf dem Baum des Lebens. Gott selbst ist nicht einfach nur gut oder böse. Er ist das Ganze!

Die Frau ist inzwischen wieder zurückgekehrt und meint zu Leberecht: „Herr Pfarrer, damit Sie mal sehen, dass wir gar nicht so sind - wollen Sie nicht bei unserer Los-Tombola mitmachen? Leberecht will sich am liebsten diskret zurückziehen. „Aber dann sagen die wieder” denkt er bei sich „so ein komischer Kirchenmensch, der hat Angst vor uns und unseren Argumenten.” Leberecht überlegt fieberhaft, was zu antworten sei. Glücksspiel ist eigentlich nicht mehr verboten. Tertullian wetterte zwar im zweiten Jahrhundert besonders auch gegen diese spezielle Art von Zerstreuung und Unterhaltung, aber man hatte ja inzwischen die Reformation und überhaupt.

„Was ist denn zu gewinnen und was unterstützt man durch die Teilnahme an der Lotterie?” fragt er und kommt sich dabei sehr klug vor. Die Frau antwortet: „Gewinnen können Sie alles und verlieren auch, wenn Sie nicht dran teilnehmen!” Wieder lacht sie übermäßig laut - und hustet danach noch einige Male langanhaltend. Dann fährt sie fort: „Sie unterstützen gar niemanden, denn das Los kostet nichts. Nur Ihre Teilnahme. Und wenn sie was gewonnen haben, müssen Sie sich bereit erklären, in unserer Zeitung” dabei fächelt sie sich mit einem Druckerzeugnis Frischluft zu „ein kleines Interview zu geben. Was Sie von uns halten und so. Der Hauptgewinn ist eine Reise nach Ägypten in das Land der Mumien und Monster!” Jetzt lachen die Männer. Die Frau hustet erneut. Leberecht schluckt. Er will irgendwie kein Spielverderber sein, aber will die Sache mit Ägypten vorher noch zurechtrücken. Darum sagt er: „Ägypten ist die Wiege unserer abendländischen Kultur. Dort schauen Jahrtausende von der Sphinx aus auf uns herab. Nur in Ägypten konnte der kleine Jesusknabe sich mit seinen Eltern vor dem bösen König Herodes verbergen, ohne Ägypten gäbe es heute keine Kirche.” Die Frau zuckt mit den Schultern. Leberecht ergänzt: „Hier fand man außerdem den Stein von Rosetta und …” Da ruft die Frau begeistert: „Das gibts doch nicht! Rosetta! So heiße ich ja. Rosetta Krüger. Sehr angenehm!" Sie reicht Leberecht die Hand, der sie zögernd nimmt. "Was ist das für ein Stein?” drängelt Rosetta Krüger. Leberecht hält ihr und den beiden beleibten Herren einen kleinen Vortrag über den Fund des schwarzen Rätselsteins nahe der Stadt Memphis. 

Nebenbei wollen wir dem Leser gefälligst mitteilen, dass das gesamte Gespräch, das wir hier nur zum Teil wiedergeben, von Seiten der Wahlkämpfer im allerfeinsten Dresdner Sächsisch geführt wird. Wir ersparen uns jedoch die schwierige Schreibweise und transkribieren das Ganze in lesbare Schriftsprache.

Schon naht sich Rosetta Krüger mit der Lostrommel. Ganz dicht pirscht sie sich an Leberechten heran und sagt fast beschwörend: „Nun greifen sie mal zu, Herr Pfarrer. Wir tun Ihnen nichts. Nur wer wagt gewinnt!” Leberecht ist gar nicht wohl bei dieser Sache. Wie ist er da nur hinein geraten? Ähnlich - denkt er bei sich selbst - muss Eva damals zu Mute gewesen sein, als die Schlange mit dem Apfel rüber kam. Aber der alte Pfarrer will seine Kirche nicht als gaudiophobe Institution erscheinen lassen. Die Kirchenleitung wird schon tolerieren, wenn er bei einem harmlosen Spiel mitmacht. Was ist das eigentlich genau für eine Partei. Eigentlich gar keine so unsympathischen Leute. Vielleicht kann er mit seinem guten Beispiel diese Leute sogar zum Wiedereintritt in die Kirche bewegen? Außerdem ist Leberecht sich ziemlich sicher: „Ich habe noch nie was gewonnen. So wird es auch diesmal sein.” Er senkt zustimmend das Haupt. Dann muss er noch was unterschreiben. Dass er nämlich für diese Patrteizeitung zur Verfügung stehen wird, sollte er gewinnen und Anspruch auf den Preis erheben. Er unterschreibt und greift beherzt in die Trommel der Frau Rosetta. Dabei zählt er in Gedanken rückwärts von zehn bis eins - und bei eins schließt er die Augen und lässt seine rechte Hand in die Trommel schießen - dieselbe ergreift eines der Papierröllchen. Dieses Röllchen! Es brennt in seinen Fingern wie Feuer … „Woll’n mal sehen, ob der Gottesmann gewonnen hat - oder nur eine Niete ist!” ruft der eine Mann. „Eine Niete eine Niete!” wiederholt der andere. Das klingt gut in Leberechts Ohren. „Hoffentlich eine Niete!” denkt er.

Es ist der Hauptgewinn. Die Reise nach Ägypten, ins Land der Mumien und Monster - und des zeitweiligen Asyls der heiligen Familie. Rosetta Krüger kreischt laut auf und läutet mit einer Blechglocke Sturm: „Hauptgewinn, Hauptgewinn” verkündet sie immer wieder. Leberecht wird schwindelig. Inzwischen haben sich tatsächlich einige andere Leute eingefunden, welche aus gebührender Distanz dem Schauspiel beigewohnt hatten. „Der alte Mann dort hinten hat eine Reise gewonnen” sagt ein Kind und manche schauen erfreut, manche neidisch auf Leberecht, den Gewinner. Der will jetzt sagen, er lehne es ab, in der Zeitung zu stehen. Aber die Stimme versagt ihm - und dann ist da schon auf einmal irgendein Journalist und man hat Blumen dabei. Lauter freundliche Leute singen ein Lied - irgendwas wie „So ein Tag, so wunderschön wie heute!” Plötzlich wird Leberecht auf die Schultern tätowierter Männer gehoben und ein Stück auf der Straße hin und her getragen. Dabei kann er nun ganz genau auf den Israelitischen Friedhof sehen. Er liest Namen wie Stern, Goldschmiedel und Lazarus, Mendel, Siebenstein und Freundenberg. Ach, die bekannten Buchstaben, die zugleich Zahlen sein müssen, sie grüßen ihn von der anderen Seite her, wie aus der alten Biblia Hebraica Stuttgartensia. Als die Menge ihn wieder auf der Straße absetzt, denkt Leberecht, er träume dieses alles nur. Und er träumt ja - aber zugleich auch nicht. Alles das ist bittere und zugleich honigsüße Wirklichkeit. Ein Köfferchen wird überreicht, darin seien alle Unterlagen - nur noch seine Unterschrift fehle für Visum und Entbindung der Partei von allen Haftungsfragen. Und noch dies und noch das. Leberecht Gottlieb unterschreibt bei etwa siebenmal irgendwas mit Durchschlag. Da läutet der Zwölfstundenschlag von der Frauenkirche herüber und die emsigen Wahlkämpfer packen rasch ihren Wahlkampfkram zusammen. Drei Minuten später ist nur noch die graue Mauer da, hinter der die Namen der Kinder Israels sich schweigend im Mittagslicht sonnen.

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Mehr von Leberecht Gottlieb hier

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer
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