gehen und bleiben
DER MITTLERE SOHN

Was niemand so recht wusste: Es gab auch einen mittleren Sohn. Er wohnte noch immer im Hause des Vaters, als der ältere schon gestorben und der jüngere, nach dem großen Fest, wieder abgereist war. Das Zimmer dieses mittleren war ein sonderbar stiller Ort, beinah leer, ein Tisch, ein Stuhl, das Bett. Man konnte, wenn man eintrat, glauben, man befände sich in einem Eisenbahnabteil, das noch unbesetzt war, aber schon den Geruch des Aufbruchs in sich trug. An der Wand hing ein kleiner Zettel, von ihm selbst geschrieben, auf dem stand: „Abfahrt täglich, Ankunft ungewiss.“

Von den Brüdern sprach man kaum. Der jüngere war fort, man sagte, auf Nimmerwiedersehen. Der ältere war so daheimgeblieben, dass er daran zugrunde ging. Nur dieser mittlere, so hieß es, besaß das sonderbare Talent, fortzugehen und daheimzubleiben im selben Atem. Jeden Morgen zog er die Schuhe an, die kaum abgenutzt waren, schlüpfte in den Mantel, griff nach dem Stock, nickte dem Vater zu, der das Nicken still erwiderte, und verließ das Haus, als trete er in eine große, unüberschaubare Welt hinaus.

Doch er ging bloß bis zum Apfelbaum, der am Ende des Gartens stand, ein wenig schief und alt, mit Zweigen, die schon vieles überstanden hatten. Dort setzte er sich, schlug ein zerknittertes Fahrplanheft auf, las die Abfahrtszeiten, als warteten irgendwo Züge, die ihn in fremde Städte führen wollten. Manchmal schrieb er kleine Zettel, Grüße aus Lausanne, Empfehlungen eines Wirtes von Luzern, steckte sie wieder in die Tasche und blickte in den Himmel, als könne dort der nächste Zug erscheinen.

Wenn er abends zurückkehrte, tat er es mit einer feierlichen Ruhe, als sei er von weit hergekommen. Der Vater sah ihn an, ohne Fragen zu stellen. Manchmal lächelte er, als wüsste er längst, dass alle Reisen nur bis unter den Apfelbaum führten. Einmal fragte er doch: „Wo bist du gewesen?“ Der Sohn antwortete leise: „Beim Apfelbaum.“ Da sagte der Vater: „Das ist eine weite Reise.“ Es klang nicht nach Spott, eher wie ein Lob. Vielleicht verstand er, dass die Wirklichkeit manchmal genau dort liegt, wo man sie nicht sucht.

Im Dorf erzählte man sich Geschichten. Er sei in Triest gesehen worden, sagten die einen, in Lyon, sagten die andern, und einige behaupteten gar, der mittlere bringe geheime Nachrichten aus fernen Ländern. Seine Schuhe aber blieben sauber, und er selbst lächelte, wenn man ihn darauf ansprach. Vielleicht war er glücklich mit diesem Missverständnis.

Dann geschah das mit dem Bach. Eines Tages ging er weiter, überquerte den Weg, kam bis ans Wasser, das so klang, als spräche es eine Sprache, die man nicht versteht und doch begreift. Er wollte ihr folgen, bis in die nächste Stadt, vielleicht bis ans Meer. Da sah er, wie sich ein Baum im Wasser spiegelte, irgendein Baum, und plötzlich war es, als rufe ihn dieses Bild seinen Apfelbaums zurück. Er lachte über sich selbst, kehrte um und machte aus der Flucht von zu Hause eine Rückkehr in das Haus seines Vaters. Und es kam ihm vor, wie eine Reise um die halbe Welt.

So lebte der mittlere Sohn in einer merkwürdigen Falte des Daseins. Er war nicht verloren wie der jüngere, nicht vergraben wie der ältere. Er war nicht heimgekehrt, nicht fortgegangen, sondern beides zugleich. Vielleicht war es ein Spiel, gewiss sogar, aber es war ein Spiel, das ihm das Leben erhielt - wenn nicht sogar rettete. Und wer ihn sah, dort unter dem Apfelbaum, mit den Ameisen an den Füßen und dem Wind im Haar, konnte spüren, dass hier einer saß, der das Kunststück übte, zu bleiben und doch unterwegs zu sein.

Autor:

Matthias Schollmeyer

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