Heisenberg kommt mit ins Spiel ...
Altes und Neues von Leberecht Gottlieb (35)

Hallo, Leute - nun kommt ein Kapitel, vor welchem wir vielleicht nicht ohne Schaudern zurückfahren, denn uns wird darin offenbart, an welchem Orte sich Leberecht Gottlieb augenblicklich tatsächlich aufhält. Ihr müsst jetzt ganz stark sein ...


Am Ort unbestimmter Qualen angekommen, fand Leberecht Gottlieb erst nach acht Tagen genügend Kraft, seine Augen aufzuheben. Und als er sie öffnete, sah er Kurt Globnich in Abrahams Schoß sitzen. Seliger Anblick - beide in größter Zufriedenheit - schweigend Eins geworden mit dem Universum, wie es besonders die Esoterikerinnen von heute formulieren würden. Der offenbar zu ewiglicher Strafe verurteilte Geistliche Leberecht Gottlieb aber war offensichtlich an diesen  Unort hier versetzt worden, vor dem der Salamimissionar damals bereits gewarnt und alle Kirchenväter vor ihm laut gezetert hatten. Deshalb rief Leberecht mit lauter Stimme: „Vater Abraham! Erbarme dich mein - denn ich leide Pein in dieser Flamme!“ Der enormen Entfernung wegen war vom Patriarchen schnelle Antwort nicht zu erwarten. Schallwellen legen in der Luft pro Sekunde dreihundertdreiundvierzig Meter zurück. Und zwischen der Hölle des vor einer Woche entschlafenen emeritierten Pastors Leberecht Gottlieb und dem Elysium Erzvater Abrahams lagen etliche Milliarden Lichtjahre.
 Leberecht Gottlieb war in seinem langen Leben zu der Überzeugung gelangt, eigentlich ein ganz findiger Kopf geworden zu sein. Hier aber, an diesem neuen Aufenthaltsort schienen besondere Gesetze zu walten, in deren Geheimnisse er bisher nicht eingeweiht worden war. Gottlieb hatte einer protestantischen Landeskirche in Mitteldeutschland vierzig Sonnenjahre lang treu gedient. Insgesamt sechsundneunzig Wenden des Zentralgestirns waren ihm inzwischen vom Himmel auf Erden genehmigt worden. Schließlich jedoch hatte im Jahre 2054 der Sozialroboter des Dresdener Seniorenheims „Harmonie“ den erlösenden Trunk gereicht. Der Roboter wurde von den Insassen des Heims liebevoll HelpMeOut gennant. Den Taumelbecher, den Heiligen Gral, angefüllt mit der substantia inexorabilis reicht der Robotgehilfe, wenn man will - und wenn man nicht will auch. Einige Minuten später schon war Leberecht an der harten Schulter der aus dem Silicon Valley stammenden Pflegeweibimitation in die Unendlichkeit hinaus entschlummert - sanft und schmerzlos. Zwar hatte in seinem Busen zeitlebens die Hoffnung gezeltet, man würde direkt nach dem so oder so vollzogenen Feuerbachschen Pferdewechsel auf die von Homer besungenen asphodelische Blumenwiese versetzt werden. Aber offenbar erhielten die Parzen - oder wer auch immer - von höherer Stelle anderslautende Befehle und mussten dieselben auch umgesetzt haben. Nur ihretwegen konnte Leberecht Gottlieb hier gelandet sein: Nicht am Fuße des Läuterungsberges Dante Alighieris, oder der Helle, wie er sich diese als Knabe und dann eigentlich alle Zeit seines langen Lebens zusammenphantasiert hatte, nicht inmitten des wärmenden orangefarbenen Fegefeuers römischer Katholizität war er gelandet, sondern in der richtigen Hölle der katholischen Lehre war er gestrandet, deren Flamme nie erlischt und deren Wurm nicht stirbt, wie der Prophet Jesaia und in dessen Gefolgschaft das Markusevangelium später erneut offenbart und Kapläne der Art von Globnichs Vowobrutl zu verkündigen nicht müde werden. Während sich also die ewige Flamme an der Haut des abgetanen Landgeistlichen (auf der Erde schreibt man den 1. Juni 2055) mit etwa 107,6 Grad Fahrenheit zu schaffen macht, versucht der Züchtling dasjenige, was er früher einmal Gedanken genannt hatte, auf Trab zu halten:
 Bei Licht besehen - und bei Finsternis sowieso - war Leberechts Lage enorm fatal. Seinen Hilferuf konnten die Seligen da draußen gar nicht hören. Zu garstig tat sich jener Graben auf, welcher zwischen dem Hie der Hölle und dem Da jener sehr, sehr fern gelegenen eleusinischen Gefilde unbarmherzig aufgerissen bleiben musste. Selbst dann noch, wenn die Erlösten in Leberechts Fall einmal eine Ausnahme machen wollten, würde es Abertrilliarden Lichtjahre dauern, ehe der Verzweiflungsschrei beim Erzvater erst an - und eine eventuelle Gnadenantwort von diesem danach wieder zurückgeeilt wäre. Was also war zu beginnen? Denn die Missempfindungen aus jenem Feuers, welches Cantor hartnäckig benagte, waren - wenn man sie aus dem Blickwinkel ewiger Dauer betrachtete - nicht zu unterschätzen.


Es handelte sich da auch um ein ganz besonderes Feuer. Ein Feuer, das nicht zerstört und nicht verkohlt, wie man es sicher schon einmal erlebt hat, wenn das Schnitzel etwa misslungen oder der Milchreis am Boden des Topfes anbrannte. Nein - die Feuer der Läuterung hier in der Hölle waren wie ein zu heißes Bad, wie der Kuss einer hässlichen Riesin oder die Umarmung eines stachelichten Tiefseeungeheuers. Und das war überhaupt nicht angenehm - sondern fühlte sich scheußlich an. Hatte mit Unbehagen zu tun. Man wurde damit nicht glücklich. Es tat zwar nicht unendlich weh - aber eben auch überhaupt nicht gut. Man musste es aushalten - und es erinnerte an etwas, das man lieber nicht erinnert - eine Art Blasenentzündung der Seele. Und das - genau das - ist ja der Zweck jenes Feuers, das die katholische Dogmatik erfunden hatte; es muss wegbrennen, was nicht zur Ewigkeit passt, weil es als Teil der Ewigkeit sich aus derselben abtrünnig entfernen wollte und auch entfernt hatte. So ähnlich dachte Leberecht Gottlieb jetzt - und erschrak, denn für seinen Fall schien Schlimmeres zu gelten. Denn er war ja gar nicht auf dem Läuterungsberg der Helle, sondern war - sicher nur durch einen fatalen Irrtum - in der Hölle Vowobrutls und des dicken Heidenmissionars seiner Kinderzeit gelandet, jenes Mannes also, der damals den Eltern und ihm selbst, Leberecht Gottlieb, die teure Salamiewurst schamlos weggefressen.


Mitten hinein in diese unüberwindlich traurige Ratlosigkeit, welche Leberecht befallen hatte, trat nun aber eines Tages oder irgendwann zur Nachtzeit die Gestalt eines Mannes, die Leberecht Gottlieb vertraut vorkam. Es handelte sich bei dem Besucher um Herrn Werner Karl Heisenberg, dessen Bücher der nunmehr verblichene Pfarrer damals auf Erden verschlungen und dessen Theorien er irgendwie fast angebetet hatte. Denn die Gedanken Heisenbergs halfen seinerzeit Leberecht dazu, das verworrene Ganze der Gotteslehre zu ordnen. Genau dieser Heisenberg schritt geradewegs aus dem Orange der moderat höllisch-heiß lodernden Flamme auf Leberecht zu und sagte sein herzliches „Grüß Gott und Glück auf“. Er schritt und schritt - doch kam dabei nicht näher. Das wiederum war sonderbar.


„Wundere dich nicht, dass ich auf dich zu gehe und doch nicht bei dir ankomme“ sagte der Mann aus der Flamme. „Ich bin der Physiker Werner Heisenberg. Ich kenne dich - und du meinst, mich zu kennen. Ich ward abgesandt, um dein Vergil zu sein. Denn dieses hier ist die Hölle, wie du richtig wähnst, nicht der Läuterungsberg, wie du es gerne hättest. Wir werden nun - vorausgesetzt, du willst es auch selber so, wie ich es will - miteinander einen langen Weg gehen - der dich schließlich doch noch bis hinauf an die Spitze des Verwandlungsberges führen wird. Unter der Voraussetzung, dass du dir eine neue Identität zusprechen lassen wirst - und nicht an deiner alten festhältst. Damit wir aber dahin gelangen können, ist vorher eine Bedingung zu erfüllen. Diese lautet folgendermaßen: Du musst alles vergessen, was du jemals wusstest - damit alles Wissen vom Verstehen gereinigt und deshalb wahr werden kann. Solches Vergessen gelingt dir, indem du alles, was war, vorher erinnerst - damit es verschwinden kann. Hast du mich verstanden?“

Als Leberecht Gottlieb die Rede Werner Heisenbergs vernommen hatte, fiel er zu Boden und verlor die Besinnung. Heisenberg harrte lange geduldig an Leberechts Seite aus. Nach drei Tagen erwachte der Pfarrer i.R. Leberecht Gottlieb wieder aus seiner tiefen Ohnmacht - wohlbemerkt drei Tage nach irdischer Zeitrechnung. Der gelehrte Physiker hatte sich die Zwischenzeit damit vertrieben, Photonen durch die Spalten seiner Finger fliegen zu lassen, und die Interferenzen zu beobachten, welche sich auf der Rückseite der Höllenwand in Gestalt interessanter Fraktale - zumeist Apfelmännchen - auf den titanverstärkten Bleimauern einbrannten …

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anderes von Leberecht Gottlieb hier

Autor:

Matthias Schollmeyer

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