der Bauwagen
Altes und Neues von Leberecht Gottlieb (34)

„Oh - ein Weihnachtsmarkt, ihr Leute.

Steht und seht - die bunten Buden.“

Die Begleiter des ehemals irdischen Statsbürgerkundelehrers aus dem sächsischen Pottsitz belehren Globnich dahingehend, dass es sich bei diesem Markte nicht um einen Weihnachtsmarkt, sondern um einen Adventsmarkt handle. Weihnachten sei Weihnachten - und Advent Advent. Eigentlich. Globnich, welcher metrisch korrekt eben gerufen hatte: 

„Oh - ein Weihnachtsmarkt,
ihr Leute.
Steht und seht - die bunten Buden“

antwortet lakonisch: „Meinetwegen.“ Leberecht Gottlieb kann es nicht lassen, seinen ehemaligen Lehrer dadurch zu demütigen, dass er ihn zuweilen falsche Worte sagen und Zuammenhänge nicht durchschauen lässt. Der Unterschied zwischen Adventszeit und Weihnachtszeit war bei den Leuten auf der Erde zum Zwecke eines sich immer unbändiger gestaltenden Vorbereitens und Shoppens irgendwann - aufgelöst worden. Aber hier unten, in der sonderbaren Hölle bzw. Helle, muss es diesen wichtigen Unterschied durchaus noch geben? Nun - dann eben Adventsmarkt! Globnich beobachtet im Vorübergehen das Treiben des Marktes. Er bemerkt, dass tatsächlich überall dort, wo Menschen in Versen reden und singen, die geäußerten Worte hörbar werden. Die in Versen redenden Leute kann man auch berühren und sie fangen unmittelbar nach der Berührung an, mit einem in Kontakt zu treten. Die anderen – offenbar reden sie nicht in Versen - bewegen zwar ihre Münder, jedoch zu hören ist nichts. Ja, – wenn Globnich sich solchen „Nichtverslern“ (wie er sie bei sich zu nennen begonnen hat) dicht zu nahen versucht, entsteht zwischen ihnen und ihm eine eigentümliche Art räumlichen Abstands, obwohl Globnich direkt in ihre Richtung schreitet, sind die Nichtversler irgendwie partout nicht zu erreichen. Das ist sehr sonderbar - und hängt wohl mit fundamentalen Zusammenhängen zwischen Wort und Raum zusammen.


Globnich bitte seine Wächter, sich den Adventsmarkt genauer anschauen zu dürfen. Keine Reaktion. Dann dieselbe Bitte noch einmal wiederholt, aber in Versen. Und schon stehen sie alle vier inmitten des Markttreibens. Globnich gerät direkt neben einen Broilerverkaufsstand. Ach - diese Hähnchen. Wie damals in der Arbeiter- und Bauernrepublik. Broiler. Goldbroiler. Dichtes Gedränge. Globnich mittendrin. Neben ihm steht ein kauender dicker Mann. Globnich streckt langsam seine Hand nach ihm aus. Der Mann sagt nichts und kaut nur. Das Fett des Hähnchens läuft ihm in den Kragen. Globnich versucht den Mann zu berühren. Da sieht er, wie sein eigener Arm sich unter dem Versuch des Berührenwollens räumlich irgendwie verkürzt. Dann als Arm fast verschwindet, schließlich ist der ganze Arm tatsächlich - weg. Grauslich!
Globnich entflieht der Brätelbude und denkt: „Daran hätte jetzt Albert Einstein seine helle Freude gehabt!“ Globnich hatte in einer Parteiversammlung vor langer, langer Zeit über die Relativitätstheorie des jüdischen Gelehrten referieren müssen. Er selber war damals noch ein ganz kleines Licht. Seine Karriere war eben erst im Entstehen gewesen. Oh - wie hatte er versucht, die Gedanken des hochbegabten Sonderlings aus Ulm zu begreifen. Ergebnislos. Das Referat missglückte vollständig. Globnich hatte die Lacher aber trotzdem auf seiner Seite, denn zum Schluss rezitierte er das Gedicht vom Schneider zu Ulm: "Bischof, ich kann fliegen / sagte der Schneider zum Bischof." Berthold Brecht hatte es erdacht - und für ein allgemeines Kirchen-Bashing war das Lied über den Bischof und seinen auf dem harten Kirchplatz zerschellten Handwerker gerade das Richtige. 

Hatten die Religioten also doch nicht so Unrecht. Die Dinge waren ineinander verwandelbar. Hatte nicht auch Vowobrutel während der Messe immer so was gemurmelt? Hoc est corpus meum. Wahrscheinlich lassen sich nicht nur Zeit und Raum ineinander konvertieren, sondern auch Sinn und Raum. Zeit und Unsinn. Oder so ähnlich. Er würde Aides in dieser Sache genauestens befragen müssen. Dichtung und Metrik bedeuteten in dieser Hinsicht wahrscheinlich so etwas wie eine Potenzierung des Sinns, der ganz wesentlich mit Zeit und Raum verwandt sein müsste?

Hier unten - Globnich denkt sich die Welt, in die er geraten ist, tatsächlich immer noch als eine Art besonderes „Unten“ - hier unten ist wirklich alles kolossal faszinierend. Überall dort, wo Verse in Rhythmen dargebracht werden, wird die Welt hörbar, mehr noch - erkennbar. Wo nicht – Totenstille und Zurückweichen, wenn man sich annähern will. Finden also hier unten im Aides demnach ständig Raum-Zeit-Sigularitäten statt, fragt sich der ehemalige Staatsbürgerkundelehrer. Und wären diese Singularitäten dann womöglich abhängig vom inhaltlichen Sinn der ausgesagten Dinge? In etwa so vermutet es im Hirn Kurt Globnichs ...

Besser aber, wir sagen die ganze Wahrheit: Es ist Leberecht Gottlieb, der seinen Kurt Globnich solches ahnen und glauben lassen will. Denn was Leberecht schreibt, das erlebt Globnich. Und bei Lichte besehen, müssten wir an dieser Stelle auf die Lehre vom Purgatorium zu sprechen kommen, welche die vorreformatorische Kirche dieselbe im 12. Jahrhundert zum Troste aller Gläubigen mit sensiblen Gewissen erfinden durfte. Was die Gedanken der Lebenden für die Welt der noch zu Läuternden ausmachen - das wäre thematisch an dieser Stelle jetzt zu besprechen. Aber es würde zu weit führen. Den Lesern unserer Seiten soll noch einmal im Sinne des besseren Verstehens wärmstens empfohlen sein, bitte nie die Gesamtheit der Hintergrundgeschichte zu vergessen. Das, was hier zu lesen steht, ist nicht nur wahr im alltäglichen Sinne der sogenannten historischen Faktizität. Sondern - einer lässt es aufschreiben. Und deshalb - und eigentlich nur deshalb - ist es noch viel wahrer als wahr. Wir werden hin und wieder auf diesen sonderbaren Zusammenhang zurückkommen (müssen).

Globnich strolcht also über den Adventsmarkt und freut sich. Er geht mit Vorliebe gern dorthin, wo nicht gedichtet wird. Er findet es nämlich toll, wie sie alle vor ihm zurückweichen. Das war früher auf der Erde nicht so. Da waren sie alle meistens zu dicht dran, nicht wahr bittschön. Ja, – genauso. Dort, – der Streit zwischen dem hakennasigen Bücherhändler, dem turbantragenden Honigverkäufer und dem schwarzhäutigen Soldaten mit tätowiertem lateinischen Kreuz auf dem nackten Oberarm. Der Streit ist hörbar, weil sie sich in gepflegten Hexametern beschimpfen. Globnich muss keine Mühe aufwenden, sich die Verse zu merken. Sie merken sich von selbst. Wir könnten nun natürlich das kleine Streit-Opus zwischen den Dreien in unseren Bericht einfügen, lassen es aber mit Rücksicht auf die heute hier und da immer noch geforderte political correcness besser bleiben. Merken nur noch an, dass Jakob Buchmendel den Streit schließlich gewonnen hat. (Wer denn sonst, wird der Leser sich schon selber gedacht haben. Alle, die das Buch auf ihrer Seite haben, werden Sieger sein. Allerdings kommt es darauf an, das richtige Buch zu besitzen. Nicht das falsche!)

Da kann man nichts machen, denkt Globnich: Wir sind Wort, wir sind also Geschichten, wir sind Heftchen, Traktate und Bücher, Lexica, Periodica, Pamphlet, Rezension und Überschrift. Es scheint wirklich und tatsächlich so zu sein. Es gibt sie also doch, die andere Welt der Idealisten. Es gibt nicht nur Materie. Die Kirchenleute hatten vielleicht zwar nicht richtig Recht, aber sie haben in die weiterführendere Richtung gedacht als die Parteikader. Muss man so sagen … denkt Globnich. Übrigens, – Globnich kann sich nicht daran erinnern, dass er oben auf der Erde Lehrer für DDR-Staatsbürgerkunde gewesen ist. Er weiß aber, dass er Musiklehrer war. Musiklehrer, – so etwas Schönes, denkt er. Sofort sieht man am Rande der Straße eine kleine Kapelle stehen. Sieht aus, wie alle Kapellen, welche ab Mitte des 19. Jahrhunderts gebaut worden sind. Neogotik – roter Backstein. In Tiefengrün stand auch so eine. Globnich sagt zu seinen Begleitern: 

„Lasset uns das Gotteshaus
dort hinten steht sein Bau
mit Eifer untersuchen.“

Die Wächter folgen ihm widerspruchslos. Drinnen treffen sie auf jenen alten Herren, welcher einen Knabenchor dirigiert. Die Kinder singen:

„Freut euch, ihr Leute,
denn heute

ist euch der Heiland geboren.

Hört es mit eigenen Ohren -

und fühlt euch nicht mehr verloren.

Glaubet es - folgt nicht der Meute.“

Sie singen das immer und immer wieder. Aber sie sehen dabei nicht erlöst aus. Sonderbar. Der alte Herr unterbricht, als er die Ankömmlinge bemerkt, die Übungsstunde, kommt auf Globnich zu und stellt sich vor:

„Mein Name ist Leberecht Gottlieb.

Ich bin der Kantor der Knabenschar hier.

Wir üben Lieder zur Weihnacht.

Zum Feste der Christgeburt bald.

Wen habe zu kennen ich denn

jetzt die Gelegenheit eben?“

Was der Kantor da meinte und fragen wollte, war nun nicht sonderlich originell in Szene gesetzt. Halt irgendein Rhythmus, nur damit man die Frage hören konnte. Mehr aber auch nicht. Globnich erzählt jetzt, dass er Musiklehrer war, droben auf der Erde. Man kommt ins Gespräch. Etwas schleppend. Globnich denkt bei sich - Leberecht Gottlieb, der Name kommt mir irgendwie bekannt vor. Aber er kann sich nicht erinnern, wer denn diesen sonderbaren Namen hätte tragen können. Vielleicht aus einem alten Film mit Heinz Rühmann und Erich Ponto? Da aber werden die Chorsänger unruhig und Leberecht Gottlieb wendet sich ihnen wieder zu, wobei er Globnichen um Entschuldigung bittet. Alles in schnellen und dadurch antikisierend wirkend unbeholfenen Versen. Viele Füllworte, damit ein Metrum zu Stande kommt. Globnich und seine drei Begleiter verlassen das Kirchlein und hören, wie drinnen wieder der endlose Singsang anhebt:

„Freut euch, ihr Leute,
denn heute

ist euch der Heiland geboren.

Hört es mit eigenen Ohren -

und fühlt euch nicht mehr verloren.

Glaubet es - folgt nicht der Meute.“

Inzwischen ist es draußen recht dunkel geworden, die Sterne gehen aus ihren Kammern und ordnen sich zu den ewig alten Gestalten, die Globnich sehr gut gekannt hat, denn er musste in den Jahren 1970 bis 1980 auch Astronomieunterricht erteilen. Weltall, Erde, Mensch. - basta. Er kannte die Sternbilder und Planeten, und er wusste zu berichten, dass dieselben keine Gottheiten, sondern nur Massekonzentratonen im Sonnensystem sind, welche nach bestimmten Zeit- und Zahlenverhältnissen zueinander in Bewegung stehen. Aha, denkt er. Das weiß ich also auch noch. Marienlied, Musiklehrer und Astronomie gehört zu dem, was mir nicht untergegangen ist. Diese drei sind für Globnich so etwas wie A-Letheia. Die alles vergessen machende Lethe hat dem Kurt nicht alles rauben und auslöschen können. Wie schön.

Nachdem sie gefühlte vier Stunden lang unterwegs sind, kommen sie endlich am Schloss des Aides an. Es ist aber gar kein Schloss, sondern ein schmuckloser Bauwagen inmitten einer großen grünen Wiese, auf der durchsichtige, grüngold gefärbte Lilien stehen, welche immerzu mit ihren Blütenkelchen aneinander schlagen und dadurch eine überirdisch zu nennende Musik hervorbringen, – aber eigentlich unterirdische … denn sie sind ja hier wohl unter der Erde? Schließlich war doch Globnich - wir erinnern uns hoffentlich? - in einen Vulkan hinunter gesprungen. Seltsam. Gleich wird er also Aides treffen und ihn auch in dieser Sache befragen.

Die Wächter und Globnich werden nun von ein paar Leuten aufgehalten, die vorher als Statuen auf Sockeln bewegungslos herumgestanden hatten, wie auf Kommando sich dann aber von diesen Fundamenten herab schwangen und die Ankömmlinge ernst begrüßten. Viele rote Fliegenpilze sind zu erblicken. Ein scharfer Geruch macht sich breit. Nach ein wenig Hin und Her führen die Statuenmänner Globnich und seine Begleiter in das Innere des Barackenwagens und so tritt man vor den Beherrscher der Unterwelt. Aides heißt er. Hades ist sein Reich. Die Hölle, oder Helle Leberecht Gottliebs, an den sich Globnich fast ein bisschen erinnern kann.

Über die Art jener Unterwelt haben sich die tiefsten Geister Gedanken gemacht. Und nur die nicht so tiefe Geister beschrieben diesen Ort als Stätte immerwährender Qual und legen mit solchen Schilderungen Zeugnis über die Größe bzw. eher über die Minderwertigkeit ihrer eigenen mentalen Fähigkeiten ab.
Wenn wir davon ausgehen, dass es Sinn macht, von einer alle Götter und Wesen organisieren und befehlen könnenden Gottheit zu reden (und wir gehen bisher von solcher Sinnhaftigkeit aus), muss dem Aides in diesem Zusammenhang eine ziemliche Schlüsselrolle zukommen. Gott selbst - bezeichnen wir jenes höchste Wesen (dieses jenseits aller denkbaren Wesenheiten undenkbare Wesen, über das hinaus Bedeutsameres nicht gedacht werden kann) einmal mit der armseligen Silbe GOTT - Gott also hat seinen Diener Aides mit umfangreichen Vollmachten ausgestattet. Zuerst einmal die Eigenschaft der Unsichtbarkeit. Aides, – der Nichtsichtbare. Nicht, dass Aides wie etwa Hermes, eine Tarnkappe besäße. Die braucht er gar nicht, weil er per se unsichtbar ist. Im Gegenteil, er hat eine Sichtbarkeitsmachungskappe, eine Enttarnungskappe. Als die Statuenmänner den Besuch Globnichs ankündigten, hat er sie aufgesetzt.

Die Römer haben Aides auch Pluton genannt und damit eine weitere wesentliche Eigenschaft des angeblich finsteren Gottesdieners definiert. Pluton bedeutet "Herrscher über den Reichtum an sich." Aides / Pluton im Hades - das ist der Reichste der Reichen überhaupt. Alles, aber auch wirklich alles, sammelt er ein. Aides/Pluton ist so eine Art Ur-Messi für wirklich alles. Das, was war, und noch mehr - auch das, was bisher keine Gelegenheit zu sein gefunden hatte. Man muss sich in die Welt des plutonischen Aides erst ein wenig hineindenken, sonst begreift man lange nicht, worum es eigentlich geht. Bei Pluton-Aides landet jedenfalls letztlich jedes Ding. Aides ist der große Archivar. Der höchste Gott - nennen wir ihn mal so (also der Christengott!) - hat dem Aides-Pluton die Aufgabe erteilt, vermittels seines ewigen Habens alles zu wissen. Ob Aides auch verstehen kann, was er damit für eine Aufgabe hat, ist eine andere Frage, die bisher nicht geklärt wurde.

Kurt Globnich betritt den Barackenwagen. Er staunt, denn der ist drinnen viel größer, als es von außen scheinen wollte. Unendlicher Raum ist in dieser kleinen Hütte. Vielleicht wird hier die Zeit zum Raum? Das oder etwas Ähnliches muss es wohl oder übel sein! Der Thronsaal hat - von innen aus gesehen - etwa die Größe und Dimension der Mailänder Scala. Von außen aber sah das wie der alte abgewrackte Bauwagen aus, in dem die frierenden ABM-Leute 1993 um einen bullernden Eisenofen herum saßen. Globnich hätte es damals auch fast getroffen, als er aus dem Schuldienst entlassen worden war - der Staatsbürgerkunde wegen. Aber er kann sich daran nicht erinnern. Deshalb tritt er keck bis zum Thron des Aides vor, überlegt kurz, ob er sich niederwerfen soll, lässt das dann aber bleiben. Seine Wächter sind übrigens verschwunden - und Globnich ist ganz auf sich allein gestellt. macht nichts. Er tritt Aides direkt gegenüber, sie befinden sich jetzt beide auf einer Ebene, keine Stufe trennt die Toten-Gottheit von dem im Tode von der Erde enthobenen Menschen.

Aides mochte wohl eben in einem Büchlein gelesen haben - und neben ihm liegen ein paar gammlige Akten. Der Cerberus ist ebenfalls anwesend. Den kennen wir schon von Gender - Martina, die hier vor Kurzem ihren Auftritt hatte. Und wir erinnern uns: Cerby hatte mit seinem Speichel die Lebensnummern der Delinquentenexistenz der Gender - Martina verwischt. Persephonai sitzt auf dem Stuhl neben Pluton-Aides und scheint sich selbst in irgendwelchen Katalogen zu betrachten. Denn sie lächelt. Gender - Martina steht halb rechts neben ihrer Gebieterin und macht ein wichtiges und deshalb irgendwie auch ein wenig törichtes Gesicht. Ihre Aufgabe ist – aber das soll jetzt noch nicht zur Sprache kommen, denn wir wollen erst Wichtigeres behandeln.

Leberecht Gottlieb lehnt sich zurück und lacht sich ins Fäustchen. Diese Gender soll richtig was abkriegen, nimmt er sich vor. Gender ist seine Hassfigur. Warum Leberecht das braucht? Er weiß es nicht, wird es aber hernach noch erfahren. Beim Schreiben lernt man ja eine Menge über sich selbst. Schreiben ist wie die Hölle, die sich langsam aber sicher erhellt. Wobei man eben auch viel lernt. Das ist das Gute dran.

"Ist hier oben oder unten?“ So lautete die erste Frage, welche Globnich den Nichtsichtbaren fragen will, der hier unter der ihn sichtbar machenden Enttarnungskappe steckt. Und zweitens, ob nicht nur Zeit mit Raum ineinander konvertierbar seien - wie Einstein es lehrte, sondern auch Sinn mit Raum. Oder Sinn und Zeit bzw. auch Zeit und Unsinn. So ähnlich. Ob Dichtung womöglich eine Potenzierung des Sinns sei und wesentlich mit Zeit und Raum verwandt? Eben will er den Mund aufmachen, da winkt Aides müde mit der Hand und sagt:

„Das fragen sie hier alle, wenn sie vor meinem Sessel erscheinen: ‚Ist das hier oben oder unten?‘ Und dann, ob nicht nur Zeit und Raum ineinander konvertierbar seien, sondern auch Sinn mit Raum, oder Unsinn. Und ob Dichtung womöglich eine Potenzierung des Sinns bedeute und wesentlicher mit Zeit und Raum verwandt ist, als man auf der Erde annahm?“
Globnich nickt. Aides wendet sich dem Stabülehrer, der nicht weiß, dass er das einmal wirklich gewesen ist, zu – und betrachtet ihn prüfend. Dann sagt er langsam, als ob er mit einem Sonderschüler reden würde: „Das hat jetzt gar keinen Zweck, Herr Globnich, dass wir uns diesen Fragen widmen. Sie werden es selber heraus gefunden haben müssen, wenn sie ein erst paar tausend Jahre hier sind. Erschrecken Sie nicht über die paar Tausend. Die Zeit vergeht schneller, als Sie es wollen. Ich sag nur, durch Dichtung vergeht sie langsamer, bzw. gar nicht, wenn die Dichtung richtig dicht ist. Wir Götter” - und dabei macht er eine großzügige Handbewegung im Kreis „müssen nicht in Versen sprechen, um die Zeit anzuhalten. Wir unterliegen nicht den Schwerkraftgesetzen der Zeit. Wir können reden, wie uns der Schnabel gewachsen ist. Das ist der Charme des Zustands, ein Gott sein zu müssen. Sie sind ja einmal Philosophielehrer gewesen. Da müssten Sie sich noch daran erinnern können, dass die Götter zeitlos sind. Nicht? Also nicht. Es ist aber trotzdem so, auch wenn Sie es nicht glauben wollen . Götter stellen so etwas Ähnliches wie Gesetze dar. Sie sind Naturgesetze in Personifikation. Sehr stabil sind die bekanntlich – und durch fast nichts aus der Bahn zu werfen. Höchstens durch Wunder, die es natürlich auch geben muss, damit das Ganze nicht nur ein totlangweiliges Spiel bleibt. Ich meine jetzt das sogenannte Sein, verstehen Sie? Wenn Sie möchten, dass die Zeit langsam abläuft, dann dichten Sie bitte. Ich empfehle, Jamben und Daktylen im Wechsel. Das geht fast von selbst. Wenn Sie nicht dichten, wird Ihre sogenannte Existenz mit der Zeit ausgelöscht. Diese Auslöschung geschieht dergestelt, dass Sie irgendeinem Gott zugesellt werden, der Sie dann ganz in sich aufsaugen wird. Die Hindus mögen das ganz besonders gern. Eigentlich alle Anhänger von Erlösungsreligionen.

Bei den Christen ist es ein wenig komplizierter. Die wollen ja die Auferstehung des Fleisches. Da hilft nur das sehr disziplinierte Reden und auch Denken in Hexametern. Die meisten aber wollen an irgendeiner Stelle des Universums dann doch in irgendeinem Gotte aufgehen - Leben als Nicht-Gott ist nämlich sehr anstrengend. Das, woran man mit seinen Worten am meisten anhaftet, wird dieser Gott dann sein, zu dem man wird - oder besser: In den hinein man erwird oder entwird, wie Meister Eckhardt sagte. Er- bzw. Entwerden - das sei ein besonderer Kick. Ich könnte mir bei Ihnen gut den trügerischen Hermes vorstellen (wegen der Staatsbürgerkunde), oder Apollon, weil Sie ja auch Musiklehrer gewesen sind.

Es gibt aber seit etwa zweitausend Jahren auch noch eine andere Möglichkeit. Bei den Lilien draußen läuft ein ehemaliger Jude herum. Was heißt ehemalig … Einmal Jude - immer Jude. Der hat sich also fest vorgenommen, ein Reich zu gründen, das nicht von dieser Welt ist. Er stellt sich von Zeit zu Zeit eine Truppe von Leuten zusammen, die ihm in den ‚Friedens-Dschihad‘ folgen. Alle Achtung. Der Junge hat Mut. Er kehrte schon oft wieder zur Erde zurück, hat dort aber nie sein rechtes Glück finden können. Sie machen ihn immer wieder fertig, oft schlagen sie ihn auch tot. Das ganze Programm was, die ewig Dummen eben mit den Klugen absolvieren. Drum landet er regelmäßig Jahr für Jahr bei uns – aber hat sich noch nicht aus der Ruhe bringen lassen. Immer wieder organisiert er Aussteigerprogramme und ist der Trainer für Unbelehrbare. Also, – Hut ab vor dem. Er heißt Jiddu oder so ähnlich. Nein - Jesus. So heißt er. Jiddu ist nämlich ein anderer, der auch nicht schlecht war. Krishnamurti - jetzt hab ich den Namen. Der hat sich dann aber in Brahma auflösen wollen - wollte sozusagen vor der Blödheit der Menschen fröhlich kapitulieren. Wir haben alle seine Vorträge und Bücher hier drunten. Womit Ihre Frage nach Oben oder Unten beantwortet sein dürfte. Es gibt kein oben oder unten und auch kein Innen und Außen. Wir sind hier jenseits dieser Existenzkategorien in der reinen Essens. Falls sie verstehen, was damit gemeint ist. Sie werden das alles im Laufe der Ewigkeit erfahren. Lernen Sie den Jiddu - ich meine den Jesus - oder seine Braut, die Kirche, ruhig mal so ein wenig kennen. Nichts für ungut. Besser noch, Sie schauen sich erst mal ungezwungen bei uns um. Gender wird Ihnen das Nötigste zeigen. Hat uns sehr gefreut. Nicht wahr, Persephonai?

Persephonai lächelt und gibt Gender einen Wink, welcher das Weib sofort in Bewegung setzt. Sie zeigt Globnich den Weg und sagt knapp: „Da entlang bitte!“ Wobei sie einen dunklen Gang meint, in dem die beiden jetzt verschwinden.

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mehr von Leberecht Gottlieb hier

Autor:

Matthias Schollmeyer

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