Beginn des Berichts über den Feind Leberechts
Altes und Neues von Leberecht Gottlieb (19)

Wir hatten bereits davon gesprochen, wie hilfreich es sei, auf die Freunde des Mannes zu schauen, den man beurteilen will. Genauso nützlich ist es aber auch, seine Feinde unter die Lupe zu nehmen. Das soll an dieser Stelle jetzt geschehen. Zu den Feinden von Leberecht Gottlieb gehörte zweifellos ein gewisser Kurt Globnich. Kurt Globnich war fünfzehn Jahre alt, als er - aus der Heimat vertrieben - im sächsischen Pottsitz eintraf. Zusammen mit Vater, Mutter und zwei Schwestern. Katholiken aus dem Sudentenland. Man lebte mit anderen Flüchtlingen zusammen. Die kamen aber aus Schlesien und waren evangelisch. Wo? In dem winzigen Auszüglerhaus des Pottsitzer Großbauern Mulps, den die Russen erschossen hatten, weil er Ortsbauernführer gewesen war. Man schoss in den ersten Friedenswochen damals recht schnell und viel. Manche erhängten sich deshalb vorher lieber, damit sie nicht erschossen werden würden. Das war die andere Variante gewaltsamen Verendens und ohne mit dem Trost der Sakramente richtig gestorben zu sein. Vier Jahre nach der Ankunft der Globnichs im sächsischen Pottsitz verstarb dann am 7. Oktober des Jahres 1949, direkt am Gründungstag der blutjungen Republik des Kutschersohnes Wilhelm Pieck, verstarb also der Vater von Kurt Globnich.

Das war natürlich ein Afront. Man stirbt nicht am Geburtstag der Deutschen Demokratischen Republik. Das gehört sich einfach nicht. Aber Joseph Meinrad Globnich, Kurts Vater, von dessen Leben wir hier einiges beschreiben müssen, um seinen Sohn Kurt Globnich und dessen späteren Schüler Leberecht Gottlieb zu verstehen, legte sich nieder und starb im gesegneten Alter von einundachzig Jahren. Der kleine Kurt war ein Nachkömmling, den Joseph zusammen mit seiner um Vieles jüngeren Frau gezeugt hatte, als er nämlich selber bereits 68 Jahre alt geworden war, –  aufwachsen gesehen hatte er ihn gern, wenn auch nicht allzu lange.

Joseph Meinrad Globnich war Apotheker. Der elende Krieg hatte ihm die Existenz zerstört und ihn dann mit seiner jungen Frau Marianne und dem Kurt nach Sachsen geführt. Joseph Meinrad war ein deutschnational gesinnter Mann gewesen, ehrlich, ordentlich, bescheiden, fleißig, katholisch und – vertrieben aus der Heimat. Nun wurde er auf dem Pottsitzer Friedhof begraben. Der katholische Priester aus der Kreisstadt kam mit etlichen Ministranten herbeigeeilt; sie feierten ein Requiem in der Kirche, die ihnen von den Evangelischen zu diesem Zwecke geöffnet worden war. Auch ein kleiner Männerchor war bestellt worden - der sang in bedenklicher Stimmlage das Schubertlied vom Grabe und seiner Tiefe und Schauderhaftigkeit. Einer derer von Salis Seewis hatte treffliche das Grab betreffende Worte gefunden. Franz Schubert muss sofort Feuer gefangen haben, den düsteren Phantasien des dichtenden Schweizers eine passende Musikalität anzukomponieren. Leberecht war während der Bestattungsfeier zwar nicht zugegen - aber von diesem Liede sehr entzückt. Manchmal meinte er gar, die damalige schon längst vergangene funerale Begebenheit miterlebt, so dass dieselbe bei ihm sogar in Verdacht stand, Ausschlag für sein späteres Theologiestudium gegeben zu haben. Freilich, im Jahre des Hinscheiden des alten Apothekers war Leberechts Seele eben gerade noch für acht Jahre lang zur Präsenz in den platonischen Gewässern des Storchenteich verpflichtet gewesen. Aber das Lied hatte starke Eindrücke in des Knaben Seele hinterlassen, da der Vater es zum jährlich in großer Treue wiederkehrenden Totensonntage auf seinem alten Grammophon immer und immer wieder ablaufen ließ - Frau und Sohn hörten den düsteren Gesang durch die dünne Wand des Studierzimmers, das im Pottsitzer Pfarrhaus an die Kochküche angrenzte. Der Text ergeht sich in wohlabgestimmten Harmonien und mehreren Strophen über die Eigenart des Grabes im Besonderen und der Gräber im Allgemeinen, deren erste Zeilen hier (LINK) kurz wiedergegeben werden sollen:

Das Grab ist tief und stille,

Und schauderhaft sein Rand.

Es deckt mit schwarzer Hülle

Ein unbekanntes Land.

Man führte damals auch eine Marienstatue mit sich, die links neben dem Altar aufgestellt wurde. So ward das Altarretabel, welches den verzweifelten Gottessohn im Garten Gethsemane herzeigte, wie er nämlich mit dem Schicksal ringt, den helfenden Engel sieht und den übergroßen Trostleidenskelch bis zur Neige bald leeren muss, sehr schön mit der Mutter-Gottes-Figur ergänzt. Als die Trauerfeier vorüber war, senkte man den Sarg mit dem Leichnam des Apothekers in die gute alte Erde des Gottesackers. Und dann brannte in jedem darauf folgenden Jahr zu Allerseelen eine Gedächtniskerze im Gläschen auf dem Grabhügel Joseph Meinrad Globnichs. Die Kerze wurde exakt bereits am Sterbetag, dem 7. Oktober, aufgestellt und entzündet - und sie brannte exakt bis zum 2. November ohne Unterlass und zeugte von irgendeines Menschen Gedenken an den verblichenen Apotheker. Am 3.November, also exakt dem Tag des Heiligen Hubertus, war die Kerze immer verschwunden.

Wer sie hingestellt und wer sie weggeräumt, das war nicht ganz klar. Jedenfalls geschah das Hin- und Herrücken der Devotionale von niemandem aus der Familie Globnich, sondern, so vermutete man nicht zu Unrecht, eine alte Frau namens Katharina Marie Melmert brachte die Kerze zum Apotheker und räumte sie auch wieder fort. Dieselbe Alte lebte sehr zurückgezogen und wurde im Ort „Die alte Melmerten“ genannt. Man hatte mit ihr eher keinen Kontakt, denn sie lebte, wie man sagte, „mit Kräutern und Sprüchen“. Nur wer unter Warzen litt oder von der Gürtelrose heimgesucht wurde, schlich sich bei der Abenddämmerung zur alten Melmerten. Welcher Konfession diese Frau angehörte, das war ungewiss. Eingetragen war sie nicht, weder bei den Katholiken in der Kreisstadt noch bei den Evangelischen in Pottsitz. Auch ging sie während der gesamten DDR-Zeit nie zur Wahl. Und die Wahlschlepper, die sonst jeden bettlägerigen Bürger aufsuchten und mit dem Wahlscheine bedrängten, um die Beteiligungsprozente an der üblen Farce hochzubringen, – zur Melmerten gingen sie mit der Urne nicht. Sie trauten sich nicht …

Wie alt die Melmerten war, galt als unbekannt. Sie schien überhaupt nicht zu altern, das heißt, sie sah immer schon sehr alt aus. Die Kinder fürchteten sich vor ihr, weil auch die Erwachsenen sagten: „Geht da nicht hin, zu dieser Frau!“ Sie selber aber ging oft sogar zur Nacht aus und fürchtete sich gar nicht, wohl, wie man ahnte, weil sie mit den Wesen des Waldes und der Feldflur in innigster Verbindung stand. Wovon sie lebte - das kannte keiner. Elektrischen Strom hatte sie nicht. Heizte mit Holz und ihre kleine Hütte stand am Ende des Weges, der „Hinter den Weiden“ hieß und nur drei Häuser hatte. Eine alte zerfallene Scheune, eine noch nicht ganz verfallene Scheune jüngerer Erbauungszeit - und eben diese ihre Hütte. Die alte Melmerten war schon immer in Pottsitz ansässig gewesen. Der Weg „Hinter den Weiden“ (ohne Hausnummern) endete in einer sumpfigen Wiese, über der im Sommer die Glühwürmchen tanzten, dass es nur so eine Art hatte. Die feuchte Stelle heißt Flurstück 397 auf der Flur „Kleine Stücken“ in der Gemarkung Pottsitz. Soviel zur Melmerten. Sie wird an anderer Stelle wieder auftauchen, wie der Leser sich sicher bereits denken kann.

Am 7. Oktober 1979 hatte also der Pottsitzer Geistliche, Pastor Martin Gottlieb, die Kerze auf dem Grab Joseph Globnichs wieder brennen gesehen und jenen Satz ausgesprochen: „Noch zehn Jahre! Dann wird abgeräumt. Die Liegezeit ist vorbei.“ Und genau zehn Jahre später, um den 7. Oktober 1989 herum, schickte er, während das taube Staatsvolk der DDR sich in frenetischem Jubel über die vier Jahrzehnte des Bestandes ihrer sogenannten Republik ausgelassen ergehen sollte, – schickte er dem Staatsbürgerkundelehrer und Sohn Joseph Meinrad Globnichs, dem Kurt also, ein pfarramtliches Schreiben des Inhalts, dass die Einebnung der Grabstelle bis zum 3. November 1989 nunmehr zu erfolgen habe, da die Liegefrist abgelaufen sei ...

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Autor:

Matthias Schollmeyer

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