Traktat über den Weltäther
als Wohnung Gottes

murus cubiculorum fati

Pseudogregorius an seinen Freund und Gefährten Panegrios zu Samosata

Carissime - gern will ich Dir nun zum Beschlusse noch einige Dinge mitteilen, die ich teils wach, teils im Traume geschaut und danach mit dem Licht der Vernunft erkannt habe. Im Wesentlichen geht es um die Frage, ob ein Gott sei - oder ob nicht. Oft haben wir beide dafür schon die Klingen unserer geistigen Schwerter gewagt. Und Du erinnerst Dich sicher, wie ich nicht in Allem Deiner Lehre - noch weniger der Lehre unserer geliebten Kirche - habe folgen können und wollen. Ich bleibe also dabei, wie ich es oft schon ausgeführt habe - und erkläre es noch einmal Dir, meinem geliebten Freunde und Weggenossen:

1. Damals schon, als Gott noch ganz alleine und nur für sich selbst lebte (ach, wie lange ist das wohl her) konnte ihn keiner ansprechen. Nicht deshalb, weil er etwa nicht ansprechbar gewesen wäre - etwa in dem Sinne eines: „Habe grade keine Zeit“ oder „bin zur Zeit nicht ansprechbar.“ Sondern es verhält sich viel einfacher: Wer denn hätte ihn ansprechen können? Es war ja nur er selber da und überhaupt kein sogenannter Ansprechpartner, welcher zu ihm sollte flehen oder der ihn hätte verfluchen können, bzw. der einfach gesagt hätte, „He, – Gott! Wie geht es heute?“

2. Gott war also allein, so wie auch dieser Tage. Jedoch gab es früher einmal ein ganz besonderes Alleinsein, welches wir heute nicht mehr kennen. Sein Sein hatte sich noch nicht mit dem All und der Einsamkeit des Nichts berührt - geschweige denn vermählt. Das verstehst Du nicht? Siehe! Wenn man einfach allein ist, dann ist man allein. Aber wenn man allein ist und zusätzlich weiß, dass man allein ist, – dann ist man nicht mehr ganz allein, – weil ja das Alleinsein quasi selber neben einen hingetreten ist und immerfort einem zuraunt: „Siehst du, – nun bist du ganz allein!“ Und genau das ist schon keine echte Einsamkeit im Sinne des Seins mehr. Nein - genau an dieser Stelle ist das einfache (oder landläufige) Alleinsein zu einer hochveritablen Angelegenheit geworden. Man ist mit sich selbst Eines geworden (All-Ein-sam). Und das ist ein zugleich sonderbarer als auch wunderschaffender Zustand.

3. Wie dem auch sei, eines Tages – das heißt „Nicht eines Tages” (denn es gab ja weder Tag noch Nacht, es gab ja noch nicht einmal die sogenannte Zeit!) sondern eher: „So mir nicht´s dir nicht´s” wollte es geschehen, dass der alleinige Gott auf eine ganz besondere Weise vor SICH SELBST hinschaute. Und damit begann alles, – besonders das, was wir die Welt nennen. Mit diesem besonderen wissenden Hinschauen - damit begann die Schöpfung.
Gott hatte sonst zwar auch nichts anderes getan, als in sich hinein zu schauen, aber auf einmal schaute er anders. Er schaute  vor sich hin. Der Blick Gottes richtete sich dadurch auch nach draußen und fiel ins Nichts hinaus bzw. hinein.

4. Da aber draußen nichts war, auf welches sein Blick hätte fallen und darauf verweilen mögen – denn da war ja nur das NICHTS – trieb sein Blick in´s Unendliche hinaus und zog dabei sich selbst nach sich, – so daß Gott sich selbst (weil er da draußen nichts erschauen konnte) vermittels dieses seines Ausblickens sich selbst „ent-schaute.”  Sein Schauen wurde darin durch nichts aufgehalten und deshalb verließ er sich selbst sozusagen durch seinen Blick und vermittels seines entströmenden Hinausblickens. Er wurde dabei selbst ganz Blick, – Blick, der das Nichts anschaute, und sich auf diese Weise  von SICH SELBST selbst löste – und im Nichts auflöste.

5. Indem Gott dergestalt im Nichts aufging, ist von ihm selber buchstäblich nichts übrig geblieben. Und wenn es nicht so mißverständlich klingen würde, müßte man sagen, er sei durch leichtsinniges Hingucken ganz einfach gestorben. Besser sollten wir aber lieber sagen: Er war nun das zum Gott verkörperte „Nichts“ geworden. Und dieses Nichts stellte nunmehr so etwas wie seinen Schrein dar, einen ewig ruhigen Heiligenschrein.
Er hatte sich also mit seinem Blick selbst ins Nichts hinein vergraben. So etwa wie Du, Carissime, wenn du manchmal Dich in ein spannendes Buch vergraben und dann lesend mit ihm fast eins geworden bist. Aber das ist nur gleichnishaft ein Bild!  Wir sollen uns ja angeblich kein Bildnis machen dürfen (ja, – wenn das so einfach wäre, lieber Freund!)

6. Das Nichts war nun selber ganz sachte mit etwas Sanftem erfüllt worden (mit den Blicken der sich an das Nichts verloren habenden Gottheit) – und dieses Sanfte und Sachte haben manche unter uns ernst zu nehmenden Menschen dann auch folgerichtig GOTT nennen mögen. Wir benutzen heute trotzdem die seltsamen Worte eines „vorher“ und „nachher“ - auch sagen wir „Gott.“ Diese rätselhaften Worte gebrauchen wir, um etwas zu beschreiben, was wir im Grunde eigentlich nicht verstehen. Wir verstehen es nicht, weil es uns Kopfzerbrechen bereiten würde, wenn wir es verstehen könnten.

7. Aus Sorge vor diesem Kopfzerbrechen wählen wir unsere Worte so, als ob Fischer ein Netz knüpften, um sich damit Fische einzufangen. Aber nun knüpften sie die Maschen riesengroß, so dass die Fische werden hindurch schwimmen müssen. Nur die beim Fischen ins Wasser gefallenen Fischer kann man mit dem Netz wieder heraufholen und retten, – damit sie weiterhin auf diese Weise fischen. Ach - diese törichten und klugen Fischer! Niemand durchschaut sie so recht, – außer wir. Aber auch nur durch die Maschen unserer Netze!

8. Zurück zum Thema. Das unendliche Nichts hatte Gott nun ganz ausgesogen, so daß zwangsläufig Gottes leere Hülle mit dem vom Blicke Gottes bislang noch unerfüllten Rest des Nichts kongruent geworden und zusammentrat.
Ja, – es war genau so, wie ich es zu sagen versuche: Es flossen die leere Hülle von Gott und das noch unerfüllte Nichts in EIN UND DASSELBIGE. Niemand kann nun mehr sagen, dass dort, wo das Nichts ist, Gott nicht sein könne! Denn prinzipiell ist ja die Hüllenleere Gottes immer dort mit dabei, wo scheinbar das NICHTS obwaltet. Die Leere Gottes hat sich - als leere Hülle getarnt - im Nichts eingenichtst. Besser sagen wir: Eingenistet. In jenem zu ihm selbst unterschiedenen "anderen" Nichts (in das hinein der Blick Gottes verschwand) – in dieser gemeinsamen Zusammenheit des Nichts und zugleich Gottes ist sozusagen beider wundersames Nest errichtet. 

9. Und zusätzlich durchströmt der Blick Gottes, der von seiner Fülle weg seinerzeit in das ursprünglich ganz leere Nichts absichtlich zuerst hinaus gezogen war und sich dann immer weiter hat hinausgesogen sein lassen, – zusätzlich zu diesem Ziehen und Gesogen-Werden durchströmt dieser Blick nun auch die ausgeleerte und zugleich gelehrte geistig/geistliche Erinnerung an ein ehemalig eigenes, für jetzt aber verlorengegangenes Nirgendwosein Gottes. So wird der Schrein des Nichts die Wohnung des Höchsten.

10. Die Welt ist also voller ursprünglicher Gottheit. Und dieses auf zwiefache Weise! Erstens, insofern Gottes leere Hülle, die mit dem Nichts eines wurde, – oder sollten wir sagen: Das leere Nichts, das mit Gottes Hülle Hochzeit feierte? einen Raum für die Schöpfung ermöglichte. Und zweitens als alle Raumzeit durchforschender Blick, der immer weiter in das bodenlose Nichts hinauseilend dieses durchschaut und mit göttlichem Schauen erfüllt.
Über diesen „Blick Gottes - fort von sich selbst“ ist viel geredet, geschrieben und gerätselt worden. Manche sagen, genau dieses Aus-und-von-sich-Absehen müsse jenes Fluidum sein, was die Alten „Äther” nannten. Der Äther sei sozusagen ein im Geschehen von Raum und Zeit waltendes Echo des steten Gottesblicks. Wäre also Echo des verdämmerten - oder um es musikalischer zu sagen - verklungenen Gottes. Noch härter ausgedrückt - des verkommenen oder verlorengegangenen Gottes.

Nun wissen wir aber, dass überhaupt nichts verloren gehen kann, aber wissen, dass alles Verlorengegangene nicht selten wiedergefunden wird, – wenn nur erst ein wirklicher Blick darauf fällt! Das Verlorengegangene ist nie  g a n z  verloren. Erlaube mir, Carissime, dass ich ein Beispiel aus der fernen Zukunft des Menschengeschlechts nutze, um Dir meine Gedanken genauer vorzutragen:
Eine kleine weiße Muschel, welche Meereswogen an den Strand Hyperboraias getragen hatten, wurde von einem Knaben eingesammelt und in die Hosentasche gesteckt – dann aber vergessen. Erst nach Jahren ward die Muschel in der Terra Afrikana wiedergefunden, als nämlich ein anderer Knabe dort in seine Hosentasche griff. Die Mutter des Urlaubsknaben gab vor Jahren die Muschelhose ungesäubert in eine angeblich wohltätige Kleiderspende. Quod erat demonstrandum.

11. Die Muschel war zwar verschwunden, jedoch war zugleich auch immer da. – Es hatte sie lange nur keiner wahrgenommen. Wie freute sich die Meermutter, da man ihre Muschel entdeckt hatte. 
Nichts geht verloren, noch nicht einmal das Nichts. Denn das Nichts verbirgt uns den Blick Gottes und er sich in seiner Leere. Übrigens, – wir sind uns völlig bewußt darüber, wie wir inzwischen mit der unpräzisen Sprache jener Mystiker reden, die ähnliche Gedanken auf den Scheiterhaufen der Kirche hie und da haben mit dem Leben bezahlen müssen.
Noch einmal und darüberhinaus: Durch den ins Nichts ausgeströmten Blick des sich entschauenden Gottes füllte sich das unendliche Nichts langsam mit Blicken, ohne dabei jemals voller zu werden. Denn weil der Blick aus den Augen Gottes nicht sofort das gesamte Nichts erfasste, sondern allein mit der Geschwindigkeit des Äthers (welche nur in Gott selbst unendlich ist, im Nichts damals aber höchstens siebenmal das Trillionenfache der Lichtgeschwindigkeit betrug) – weil also der Blick Gottes sich im Vergleich zur Unendlichkeit recht langsam davonstahl, kam es zu Unterschieden und Interferenzen des reflektierten Blickes Gottes im Nichts.

12. Aus diesen interferenten Turbulenzen entstanden dann ihrerseits die Vorläufer der sogenannten Quarks und Strings, aus deren Verklumpungen alle Energiefelder herrühren (erlaube mir, Carissime, dass ich zu Dir nun in Worten und mit Begriffen einer viel später erst anbrechenden Zeit rede). Schließlich ging es hin und her bis zu den Elementarteilchen, die sich wie wild aufeinander zu stürzen begannen; irgendwann gab es einen singulären Zustand absoluter Anomalien und den daraus resultierenden Urknall, von dem die Wissenschaft in tausend Jahren wird fabeln müssen. Woraus dann schlußendlich dasjenige Gebilde entstand, welches wir Kosmos nennen oder Universum.

13. Was lernen wir aus diesen einfachen Betrachtungen? Der Blick Gottes durchschaut nach wie vor alles - es gibt nichts, was er nicht kennt, höchstens ein paar entlegene Regionen des Nichts, in die das Auge des Allmächtigen aber mit inzwischen fast unendlicher Geschwindigkeit seine Strahlen inspizierend noch entsenden wird. 

Carissime, es lag uns sehr am Herzen, diese Tatsachen aus der Spelunke der Vergessenheit heraus ans fröhliche Tageslicht zu führen, um damit diesem oder jenem zweifelnden Zeitgenossen unter uns gleichsam wie nebenbei einen gewissen Trost zu spenden. Denn wer da sagt, es sei kein Gott, mag nach mehrmaliger Lektüre des vorliegenden Traktates sich erneut der kritischen Frage widmen, ob die Dinge nicht vielmehr doch viel einfacher liegen, als ich es oben eben ausgeführt habe …

Gott ist also anzusprechen gerade dort, wo er nicht ist, oder nicht zu sein scheint. Das Nichts aber ist seine ewige Bühne, das Schweigen sein Sprachrohr und das Hintergrundrauschen unseres nicht endenden Nachdenkens bezüglich des fraglichen Sinn von Allem die Resonanzkammer seiner unhörbaren Stimme.

Gott befohlen, mein Lieber
Pseudogregorius Thaumaturgos

28. octobris AD 222

Autor:

Matthias Schollmeyer

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