Nagel, Lanze, Dornenkrone ...
AKUPUNKTUR

"Dornenkrone, Lanze und drei Nägel auf einem Blatt Papier" (K.I. von BING)
  • "Dornenkrone, Lanze und drei Nägel auf einem Blatt Papier" (K.I. von BING)
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Gedanken in Verfolg der Überlegungen von Louis-Joseph Berlioz über das Kreuzigungsgeschehen Jesu:

Karfreitag, Karsamstag und Ostern - Hauptknoten aller religiösen Feste. Wie Akupunkturpunkte liegen diese drei Tage auf dem Hauptmeridian aller spirituellen Überlieferungen dicht beieinander, wo unsere Vergangenheit sich über das Gegenwärtige in die Zukunft treiben lässt. An diesen Stellen können wir ablesen, wie es um die Christenheit steht, den Glauben und die Kirche sowieso. Wenn sonst gar nichts mehr geht, Akupunktur hilft. Meister Li reizt mit feinen Metallnadeln bestimmte Punkte - gebannt ist der Schmerz.

Lasst uns ähnlich dazu einmal davon ausgehen, wie die gesamte Schöpfung Gottes bis auf den heutigen Tag mit Nadeln besonderer Art behandelt wird. Auch die Dornenspitzen der Krone Christi und die Heilige Lanze gehören mit dazu. Die Speerspitze wird bei den Wienern in ihrer Hofburg aufbewahrt. Von den drei Nägeln, mit denen man Jesus am Kreuz hielt, soll Helena einen in das Mittelmehr geworfen haben, vor den anderen beiden kann man zu Bamberg und im Dom von Monza niederknien.

Zugegeben - es ist unüblich von „Behandlung” zu sprechen, wenn es um die Leiden des Gottessohnes und um das Kreuzigungsgedenken am Karfreitage geht. Aber wir wollen es wenigstens versuchen, auf diese Weise Abstand von den unvollständigen Vorstellungen zu nehmen, mit denen im Laufe der Zeit der mystische Heilscharakter des Karfreitagsgeschehens vom Unfug der sogenannten Aufklärung überwuchert worden ist.

Wir müssen dazu etwas weiter ausholen. Niemand wird einen Akupunkteur wegen des Deliktes sogenannter Körperverletzung ins Gefängnis werfen lassen, nachdem er mit Nadeln in den Leib des Patienten gefahren war. Denn „wer heilt, hat Recht” sagte schon Hippokrates. Und David Hollaz schreibt: „Der Sohn Gottes … ließ sich den Übelthätern gleich rechnen, Hände und Füße am Creutze ausdehnen und annageln, hieng an der Gerichts=Stätte vor Jerusalem mitten unter Dieben und Mördern, als ein Fluch für Uns; starb auch, nachdem er alle sein Blut für Uns vergossen an dem Holze des Creuzes unter großen Wundern und Zeichen.” Hollaz war Dogmatiker in der Hochzeit der lutherischen Orthodoxie - seine Dogmatik erschien im Jahre 1709 und war in Gebrauch so lange, bis die Dummen das Kunstwerk der abendländischen Metaphysik gänzlich niedergerissen hatten.

Man fasse es, wenn man es fassen kann. Die Heilsbedeutung des Leidens und Sterbens Jesu Christi wird heute nicht selten schamhaft oder aus Unkenntnis ihres theologischen Gesamtzusammenhangs gerade in den Kirchenpredigten sich neuzeitlich gebender Prediger verschwiegen oder relativiert. Man schämt sich für den urarchaischen Gedanken, dass Gottvater einen nicht unblutigen Versöhnungsakt dazu gebraucht haben wollte, kraft dessen und quasi durch den Tod eines seiner einzigartigen Wesen, welches zugleich ganz als Mensch und ganz als Gott verstanden werden sollte, die ontologische Schuld aller bis dato gewesenen, seienden und noch kommenden Menschenkinder als getilgt gelten kann und die göttliche Gerechtigkeit trotzdem nicht fahren gelassen worden ist. Das klingt kompliziert? Nun - man muss sich schon Mühe geben, wenn es um letzte Dinge geht. Es sind Gedanken aus dem geistigen Universum der Engel und von den Höhenregionen des absoluten Weltgeistes herstammend. Statt der Hollazschen Gedanken hört man heute oft Karfreitagspredigten über die Gewalt von Menschen gegen Menschen, über Tiere und Natur. Zweifellos ist es gut, wenn Menschen sich dafür einsetzten, „dass nichts Böses geschieht” und die Gewalt auf Erden minimiert wird. Aber der tiefere Sinn des Karfreitags ist damit nicht erschöpfend gedacht und noch nicht einmal ansatzweise berührt worden.

Denn es wurde Christus das Leben nicht von irgendwelchen brutalen und intriganten Leuten genommen - sondern er hat sein Leben für die Menschheit kraft eigenen Entschlusses hingegeben. Wobei „hatte” zugleich „hat” meint und „immer noch und wieder gibt” bedeutet. Denn wir bewegen uns hier nicht auf dem Verständnisniveau des einfältigen sensus historicus, sondern die drei anderen sensus (analogiae, moralis und anagogicus) der Auslegungstradition heiliger Texte sind hinzuzuziehen. Der Unterschied zwischen Lebenshingabe und Lebenabstötung darf nicht unbeachtet bleiben.

Jesus wird nicht getötet, sondern er gibt sein Leben hin. Das ist ein großer Unterschied - aber jene, welche von nichts etwas verstehen, werden es nicht begreifen können. Um die Unterscheidung zwischen beidem zu treffen, muss die Spannkraft des betrachtenden Geistes groß genug sein. Denn es geht nicht um die vordergründige Demonstration der Brutalität der Menschenmasse, die „kreuzige ihn” brüllte, es geht auch nicht um die Roheit der Soldaten, durch welche Jesus gefoltert wurde, sondern um die Aufzeigung ontologischer Grundzusammenhänge, an denen die Kirche Jahrtausende lang inhaltlich gearbeitet und worum zahlreiche Synoden mehr oder weniger ernsthaft gerungen haben und noch ringen. Dort, wo dieser Unterschied vergessen worden ist, müsste man ihn zum Gegenstand der Predigt machen. Dazu diene uns das - zugegeben nicht auf Anhieb gleich für jeden sofort einleuchtende - Bild von einer besonderen Art Akupunktur. Sie geschieht am Leibe des einen Gottmenschen, um die gesamte Menschheit zu heilen.

Wichtig sind dabei nicht so sehr die Dornen des Akanthusgewächses, Lanze und Nägel aus Metall, sondern jene Punkte, in welche die drei Nägel als acus sacrae gestoßen worden sind. Es sind Füße und Hände des Sohnes Gottes. Was bedeutet das? Hinfort muss niemand mehr vor Gott weglaufen wie einst Adam, auch nicht vor sich selbst wie Judas Iskariot, der sich erhängte und noch weniger vor Menschen wie Abels Bruder Kain auf freiem Fuß. Auch muss niemand mehr „handeln” wie der reiche Kornbauer angesichts übermäßiger Ernten oder wie die rastlose Martha im Gegensatz zu Maria, die ihre Hände gefaltet hielt und des Meisters Predigt mit offenem Ohr und Herzen lauschte. Flucht ist zwar immer noch möglich - aber nicht mehr nötig. Sei so frei, nicht zu handeln - denn die Hände Christi sind weltumspannend in schwebenlassender Ruhestellung und seine Füße haben  für alle Ewigkeit auf dem Schädelberg ihren Standpunkt gefunden. Alles, was Hände tun können, ist nun getan - und alle gangbaren Wege sind zum Ziel gelangt. Die Welt ist durch den König der Juden ins Gleichgewicht gebracht worden - und er selbst am Kreuz ist dieses Gleichgewichts sichtbare Waage. Du selber musst nirgendwohin mehr laufen, um etwas zu tun. Jemand ist für dich gegangen und hat es erledigt. Das ist die Botschaft. Wohin dann noch die Lanze stach und die Dornen auf dem Haupte Christi und was das genau über das bereits Gesagte hinaus noch bedeuten mag, darüber will jeder selber nachsinnen.

Die gestörten Meridiane und Nervenbahnen der Existenz als Mensch im Kosmos sind - für alle Zeiten - aus der Störung genommen. Kein Weltschmerz mehr - „wer heilt, hat Recht.” Der Gott am Kreuz will und wird sich nicht mehr entziehen. Wie er dann auch vom Kreuz genommen, hinter einen Grabstein gelegt, in der Hölle gewesen und auferweckt worden ist, das locken die Nadeln seinem Leibe ab - und da dieser auch dem Leib eines jeden Menschen gleich ist, geschieht es auch in je deinem Leibe, wenn dein Glaube es will, schreibt Hollaz sinngemäß. 

So denkt heute keiner mehr? Gewiss. So hat nie jemand gedacht? Mag sein - aber in den Büchern steht es so geschrieben. Und die Bücher halten fest, wozu unsere Gedanken zwar stark genug sind, es zu finden bzw. zu erfinden, aber gleichzeitig zu schwach auch, es zu behalten und immerdar zu beherzigen. Wir könnten es jedoch zu Rate ziehen und glauben. Das heißt, wir könnten uns vornehmen, es glauben zu wollen. Und dieses Glauben-Wollen ist! schon der ganze Glaube. Mehr Glauben gibt es nicht, als das Glauben-Wollen bzw. das Bitten darum, den Glauben glauben zu wollen. Wie der Akupunkteur dem materiellen Körper mit Hilfe der Nadeln aus Metall und Stein die physischen Schmerzen ablockt, so verflüchtigt sich der Zwang zum Rennen und ewigen Machenmüssen bei der hörend-glaubenden Betrachtung des sogenannten Karfreitagszaubers. Die Störung wird entstört …

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Louis-Joseph Berlioz (9. Juni 1776 in La Côte-Saint-André – 28. Juli 1848 ebenda) war ein französischer Landarzt und praktizierte als Akupunkteur

Autor:

Matthias Schollmeyer

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