die Predigt und der Gottesdienst
Leberecht Gottlieb (67)

67. Kapitel, in welchem wir beobachten, wie die Predigt Leberecht Gottliebs entsteht und was die Leute sagen und tun, nachdem der Gottesdienst an sein Ziel gekommen ist ...

Zuerst einmal musste es darum gehen, den alten Luthertext aus dem Jahre 1912 metrisch zu bändigen. Denn jeder Text will - wie schon Nietzsche festgestellt hatte - gleichermaßen bei Dionysos als auch bei dessen apollinischem Antipoden Wohlgefallen erregen. Das Metrum ist also zu beachten, denn die Fortbewegung des Melos geschieht in Maß und Rhythmus. Ein Text darf nicht humpelnd daher kommen - es sei denn Ironie und Sarkasmus sind Ziel des Vortrags. Ein heiliger Text jedoch muss über das Parkett gleiten oder würdig schreiten:

Christus spricht: Sorget nicht.
Nicht um euer Leben, nicht
was ihr essen, trinken werdet.
Christus spricht: Sorget nicht.

Nicht um euren Leib, und wie ihr
ihn bekleidet. Ist das Leben
nicht viel mehr als alle Nahrung
und der Leib mehr als die Kleider?

Schaut die Vögel unterm Himmel:
Weder säen, weder ernten die Gefiederten,
sie sammeln nichts in Scheunen.
Doch der Gott - ernährt sie doch.

Seid ihr nicht viel mehr als diese?
Und wer wäre unter euch,
der vermochte, seinem Leben
eine Elle zuzusetzen,
wie er sich auch darum sorgte?

Warum sorgt ihr euch um Kleidung?
Schaut die Lilien auf dem Felde,
wie sie wachsen und gedeihen.
Ohne Arbeit, ohne Spinnrad.

Wahrlich, wahrlich, auch der König
Salomo in Pracht und Prangen
ist gekleidet nie gewesen
wie nur eine dieser Blumen.

Wenn nun Gott das Gras der Felder
allso kleidet, Gras, das heute
steht und morgen in den Ofen
wird geworfen: Sollte er auch
nicht viel mehr auch euch das wollen?

Schöpft Vertrauen! Niemals saget:
Ach, was werden wir bald essen?
Ach, - was werden wir denn trinken?
Und womit uns dann bekleiden?
Solche Fragen stellt der Heide.

Und der Gott weiß, was euch Not tut.
Denen, die nach seinem Reiche
trachten, wird der Zufall alles
richten. Sorget nicht für morgen,
jeder Tag sorgt für das Seine.

So besiegt er seine Plage.

Ja - soweit kann Leberecht der Anuschka Cohn schon einmal etwas zum Übersetzen geben, damit sie das biblische Wort in's Arabische transformiere. Leberecht ruft - und die freundliche Dame des Hauses, LEGOtt-Dienerin und Dolmetscherin für morgen erscheint. Sie nimmt den Heiligen Text aus Hand Leberechts Hand in die Ihrige und macht sich sofort an die Arbeit. Leberecht legt sich weiter in's Zeug und schreibt die ersten Predigtgedanken auf. Dazu hat ihm Anuschka einen Federhalter auf das Pult gelegt, an dem sitzend der Ruheständler nun von uns genau beobachtet wird, während der Heilige Geist sein Werk tut und sich des alten Mannes als Griffel bedient:

Liebe Freunde hier im fremden Lande. Als ein Reisender von Norden komme ich her und bringe Euch das Wort dessen, der vor vielen Jahrhunderten hier bei Euch einst als Knabe gewandert und später im Heiligen Land gelehrt, geheilt und gelitten hat. Christus - der Sohn Gottes. Auch wir da oben im kalten Norden kennen diesen Gott, der seiner Natur nach zugleich ein Mensch wie du und ich gewesen und geblieben ist. Er bedeutet uns allen die Brücke aus der Verweslichkeit herauf in das Unverwesliche hinein. Unsere Sünden, die eigenen und die ererbte große Urschuld hat er auf den Nagelstufen an das Holz hinauf getragen - und deshalb in dessen unendlicher Höhe mit dem Leiden seines Leibes verwandelt, indem er den Charakter der Sünde auf diese Weise entschärfte und aus unserer armen Verfehlung seinen großen Verdienst machte, kraft dessen wir alle, die wir das zu glauben versuchen,  entlastet werden bei dem Jüngsten Gerichte, welches eines fernen Tages über die Welt rollen wird.
Dieses allein auch ist der Grund dafür, dass wir uns keine Sorgen mehr zu machen brauchen. Weder über Essen, Trinken noch Kleidung. Denn wer das Wort des Meisters Jesus versteht, der ist satt für alle Zeit und braucht nicht an den verschiedenen Rauschtränken der Gegenwart zu schlürfen, mit denen Satan uns zu betäuben versucht. Unser Predigttext sagt es ganz deutlich. Ja, wir wissen seit Generationen, dass Lilien die schönsten und reinsten Blumen sind, obwohl sie auf dem Felde wachsen und oft unter viele Wildkräuter getan sind, einige von denen sogar tödlich giftiges Pflanzenzeug. Die Lilien jedoch kümmert es nicht. Sie tragen um ihr Gewand keine Sorge, sie wissen noch nicht einmal, dass sie schön sind. Sie sind - und das reicht ihnen völlig aus. So auch die Vögel unter dem Himmel - habt ihr sie Scheunen bauen sehen? Nein. Sahet ihr sie Speicher errichten? Niemals. Sie haben allenfalls kleine Nester, welche für sie selbst und ihre Brut ein Jahr lang halten. Dann sind sie entzwei - doch es findet sich woanders eine Gelegenheit zu hausen. Und ist nicht der Gesang der Vögel das Vorbild aller unserer Kirchentonarten und Hymnen? Gewiss - so verhält es sich, ihr Lieben. Das nun alles sollen wir auf uns selbst beziehen - aber wir sollen nicht nur selber uns ein glückliches Beispiel an Blumen und Vögeln nehmen, sondern auch andere Menschen dazu ermuntern, sich diese heitere Lebensart für und als Lebensmaxime abzuschauen. Zum Ende hin gesehen, mögen wir schließlich auch glauben, dass Gott uns als Blumen seiner Herrlichkeit immer wieder nach dem Abblühen neues Aufblühen gönnen will und uns schweben lassen wird wie den wundersamen Vogel Phoinix aus der eigenen Asche hin zu neuem Fluge höher als der allerhöchste Pyramid gemessen werden kann.  

So etwa die geschriebene Predigt - kurz und bündig. Das gesprochene Wort Leberechts war dann doch etwas länger und Andruschka Cohn hatte einige Mühe damit, die gelehrten Gedanken des Sachsen in Ruhe zu extemporieren - aber, da der Predigtvortrag Leberecht Gottliebs ohne unnütze Problematisierungen und lästige Genderei auskam, war es einigermaßen dann doch möglich. Denn es wurde nicht auf irgendwelche exotische Opfergruppen eingegangen und auch das Klima und der Neokolonialismus spielten gar keine Rolle. Es war - um es mit einfachen Worten zu sagen - eine ganz ehrliche sogenannte rechtgläubige Predigt, die nicht mehr als das sagte, was der Text bereits selber sich zum Gegenstand gemacht hatte.

Leberecht standen maximal nur zehn Minuten Zeit für seine kleine Ansprache zur Verfügung, denn der Gottesdienst einer orientalischen Kirche zielt wesentlich auf die Vergottung und Theosis hin, nicht hauptsächlich auf Belehrung. Das meiste von dem dreistündigen Geschehen vollzog also ein greiser Priester mit langem Barte und unendlich prächtigem Goldgewand. Er stand mit dem Rücken meist zu den Hörern und verbeugt sich, kniet und erhebt sich, betet und singt, weiht und bespricht, verwandelt und zeigt schließlich das Brot und den Kelch und tränkt und speist die etwa fünfunddreißig Menschen, die gekommen waren. Es sind auch einige Deutsche und ein paar Briten dabei. Andruschka hatte Leberecht darüber informiert, dass die Gemeinde seit ein paar Jahren auch immer eine Predigt im sonst ostkirchlich orientalischen Ritus aufgenommen hat - und zwar, weil die Ausländer es erst gewünscht und dann auch gefordert hatten. Der letzte Prediger sei nach einer Reise gen Dubai leider nicht zurückgekommen, deshalb habe Abdul Abdullah, der Taxifahrer, Leberecht angesprochen, die heutige Predigt zu halten. Nach dem Gottesdienst, der tatsächlich knapp drei Stunden (inclusive der zehn Leberechtminuten) gedauert, kommen ein paar Leute zu Leberecht und drücken ihm die Hand - ein oder zwei küssen dieselbe sogar. Dann sagt ein Mann zu Leberecht in gebrochenem Englisch: 

"Danke, Vater für Wort für Wort. Es  hat mich sehr erbaut. Und gut, dass nicht sein Politik und Schmutz von Welt in Rede. Ich mit ganzer Familie leben auf Müllkippe. Wir nicht brauchen Problem noch mehr. Wir hören gern Wort, das gut tut und gut macht. Danke, danke, danke!"

Dann geht der dieser Mann aufrecht davon und Anuschka Crohn erzählt Leberecht später am Nachmittag bei einer Tasse Tee vom Schicksal der Müllmenschen in Kairo. Sie bedankt sich auch, dass es sich Leberecht getraut hat, das wirklich reine und unverfälschte Wort der alten Vätertheologie wieder einmal hören zu lassen. Und nicht versucht hat, das biblische Wort mit Regenbogenattitüden und queerer Wokness zusätzlich beweisen zu wollen. So sagte sie es. Genauso!

Leberecht dankt seinerseits und macht sich wieder an die Lektüre des Lapis-Buches. Denn morgen will er den Heroldsstecken schneiden, denn bereits am 11. September 2024 sollte ja die Rückreise geschehen - und da muss sich unser Mann nun noch tatsächlich sehr bald entscheiden, ob man in Jerusalem Zwischenstation machen wird und das Rückflug-Ticket einfach verfallen lässt, oder ob man brav nach Hause fliegt - und dort alles so weiter gehen lässt, wie bisher. Im Dresdener Seniorenheim "Abendsonnenfrieden" ... 

--
Mehr von Leberecht Gottlieb hier

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer
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