Kurzkommentar in Corona-Zeiten
Leidensfähigkeit

Foto: Sebastian Kranich

Leidensfähigkeit hat keinen guten Ruf. Nietzsche schilt das Christentum eine Sklavenmoral. Er meint: Der christliche Gott lehre die Schwachen ihr Schicksal zu erdulden, anstatt zu herrschen. In „Also sprach Zarathustra“ geht der Geist – in seiner ersten Entwicklungsstufe – in die Wüste und erlernt als Kamel Demut und Leidensfähigkeit: Das ist kein freundlicher Gedanke, bezieht man ihn auf den Entwicklungsstand eines Christen.

Irgendwie scheint Leidensfähigkeit etwas zurückgeblieben. Sie lässt sich einlullen ins „alte Entsagungslied, das Eiapopeia vom Himmel“ (Heine). Sie kommt als inaktiv und naiv daher und wird allenfalls noch geschätzt als „Frustrationstoleranz.“

Oder sollte ich besser schreiben: Hatte keinen guten Ruf? Denn die Zeiten ändern sich. Aushalten wird gerade zur Tugend: Aushalten, dass meine Pläne zunichtewerden. Aushalten, dass wir nicht mehr zueinander können und einem und den Kindern irgendwann die Decke auf den Kopf fällt. Aushalten auch die Angst und die Ungewissheit, ob es mich oder meine Nächsten trifft – und wenn ja, wie hart? Sogar die Wirtschaft und der Sport lernen auszuhalten.

Müssen wir in dieser Situation ein neues „Entsagungslied“ anstimmen? Ja, wahrscheinlich. Aber nicht nach der Weise von Heinrich Heine, sondern mit einer Sentenz von Theodor Gottlieb von Hippel dem Älteren (1741 - 1796). Der Stadtpräsident von Königsberg war mit Immanuel Kant befreundet und hinterließ uns diese aufgeklärte Lebensweisheit:
„Es gehört mehr Kraft zum Leiden als zum Tun, mehr Stärke zum Entbehren als zum Genießen.“

Autor:

Dr. Sebastian Kranich, Ev. Akademie Thüringen

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