Autogottesdienst auf dem Erfurter Messegelände
Hupen statt Gebetsrufe

Pfarrer Christoph Knoll bei der Liturgie. | Foto: Paul-Philipp Braun
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  • Pfarrer Christoph Knoll bei der Liturgie.
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Ich schaue auf die Uhr: fünf Minuten nach halb elf. Ich muss mich sputen. Eigentlich hatte ich längst auf dem Messegelände sein wollen, eigentlich wollte ich an diesem Morgen der Erste sein. Doch noch steckt mir die Osternacht in den Knochen. Ich habe schlecht geschlafen und von der österlichen Freude, die gegen Mitternacht ganz plötzlich einsetzte ist nicht mehr viel zu spüren.
Der Rundruf bei der Familie ist längst getan, allen ist ein gesegnetes Osterfest gewünscht; Gesundheitswünsche stehen in diesem Jahr ganz vorn.

Noch bevor ich aus der Haustür bin, beginne ich panisch meinen Haustürschlüssel zu suchen. Ich finde ihn, nachdem ich die Jacke dreimal umgedreht habe, in meiner Gesäßtasche. Ich sprinte zum Auto, das Hoftor bleibt auch nach dem Ausfahren offen. Noch eine halbe Stunde bis zum Gottesdienst. Die Tachonadel überschreitet die zulässige Höchstgeschwindigkeit mehr als einmal, wenn auch immer nur kurz. Jedes Mal bremse ich erst mich und dann das Auto. Als ich übermütig auf den Messeparkplatz abbiegen will, weißt mich ein lächelnder Ordner in gelber Weste zurück. Ich solle zur nächsten Einfahrt, dort gehe es zum Gottesdienst. Ein Pappaufsteller mit dem Logo der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland verrät mir, dass es hier wirklich reingeht. Doch auch ohne den Aufsteller hätte ich es gefunden. Alle Autos vor und hinter mir haben den Blinker bereits gesetzt, mein Kollege Ari kniet vor der Einfahrt und fotografiert die kommenden PKW.

Brav und ohne Murren reihe ich mich ein, folge im Schritttempo der Kolonne, die vor allem aus  SUVs besteht. Kurz bevor ich auf die große Schotterfläche darf, reicht eine junge blonde Frau mir einen grünen Zettel. Sie trägt einen einfachen Mundschutz, wünscht mir durch ihn schöne Ostern. Ich fahre an einigen Menschen mit gelben Warnwesten vorbei, ein Mann in orangefarbenem Overall weist mich. Er scheint auf dem Flughafen gelernt - oder zumindest viele Pilotenfilme gesehen - zu haben. Seine Arme wedeln, als wollte er einen Airbus dirigieren. Dabei fahre ich nur einen kleinen Renault. Ich stelle das Auto ab, steige aus und bemerke schon kurz darauf, das dies ein Privileg ist. Nur wenige Autos von meinem entfernt steht ein Freund in seinem Cabrio. Er reicht mir ein Basecap, bittet mich, es dem Fahrer im Wagen vor ihm zu geben. Er dürfe den Wagen nicht verlassen, sagt er. Ich als Pressevertreter habe da mehr Glück, ich darf mich während des ganzen Gottesdienstes frei bewegen. Weil ich gern den Überbringer spiele, findet die Mütze zügig ihren Bestimmungsort.

Noch eine Viertelstunde bis zum Gottesdienst. Die Fläche des Parkplatzes ist schon gut gefüllt, noch immer kommen neue Autos über die staubige Zubringerstraße. Während des Gottesdienstes sollen es etwa 160 sein, erfahre ich später von einem Mitarbeiter der Messe. 
Aus den offenen Dachfenstern der Fahrzeuge schauen Kinder, eine Frau hat ein UKW-Radio auf das Dach ihres Autos gebunden. Auch hier ist, wie überall in den Autos, die Frequenz 101,0 eingestellt. Über sie wird später der Pfarrer zu den Gläubigen sprechen. Ein Filmteam des MDR ist da. Ich treffe bekannte Kollegen aller Thüringer Medien. Alle wünschen sich ein frohes Osterfest, alle halten den gebotenen Abstand. 

Punkt 11.15 Uhr beginnt der Gottesdienst, Pfarrer Christoph Knoll trägt einen weißen Talar, seine Augen glänzen. "Wir berühren uns, ohne uns zu berühren", sagt er zur Begrüßung. Ein Bläserensemble hebt an, am Rand des Gottesdienstes entdecke ich meine Kollegin Lisa. Sie hat kein Auto dabei, kam zu Fuß zum Gottesdienst und soll nun eine Radioreportage machen. Die erste Meldung hat sie bereits abgesetzt, per Telefon ins Funkhaus durchgegeben. Ausgerüstet mit einem Teleskop-Stab, an dem ein Mikrofon befestigt ist, läuft sie durch die Autoreihen. Vorsichtig nähert sie sich heruntergelassenen Scheiben, befragt die Gottesdienstteilnehmenden zu ihrer Meinung. Die Menschen würden, sagt sie mir, die Idee durchweg positiv finden, die Umsetzung über das Autroadio ist aber nicht für jeden ganz leicht. 

Auch ich habe zunächst Probleme, der Liturgie zu folgen. Ich schalte mein Radio auf Mittelwelle, suche die Frequenz, finde sie nicht. Wann ich das letzte Mal eine Radiofrequenz eingestellt habe? Ich weiß es nicht, aber fünf Jahre werden nicht reichen. Das Digitale ersetzt ja inzwischen die Suche zwischen Rauschen und Kratzlauten. Ich fummle durch das Menü auf dem leicht staubigen Radiodisplay, finde eher zufällig als bewusst die gesuchte Frequenz auf Ultrakurzwelle. Immer wieder wird die Liturgie, die inzwischen von einer Leinwand wiedergegeben wird, durch lautes Hupen unterbrochen. Es ersetzt die Gebetsrufe, die durch geschlossene Scheiben eh nicht zu hören wären. 

Etwa eine Stunde dauert der Gottesdienst, den ich jedoch nur beiläufig verfolge. Die Menschen um mich herum, die in ihren Autos sitzen, teils von Liedzetteln singen, teils die mitfahrenden Kinder bespaßen sind spannender.  Ich beobachte sie, stelle fest, dass wenige Reihen hinter mir ein Taxi steht.
Nach dem Segen steige ich aus, gehe auf das Taxi zu. Eine ältere Dame hat auf dem Beifahrersitz platzgenommen, neben ihr der dunkelhaarige Fahrer. Schon seit vielen Jahren gehöre sie zur Thomasgemeinde, lässt die Dame mich wissen. Dass sie daher auch an diesem ungewöhnlichen Gottesdienst teilnimmt, es sei ihr eine Herzensangelegenheit. Da sie aber kein Auto habe, bestellte sie sich ein Taxi. Den Fahrer freut es. "So bekomme ich nebenbei noch einen Gottesdienst mit", lacht er. Das Taxometer zeigt 56,20 Euro an. Geld, das die Dame gern für diesen Gottesdienstbesuch ausgibt. 

Mit lautem Hupen verabschieden sich die Autos nach dem Gottesdienst. Das Bläserensemble spielt noch ein paar Stücke, einige der Gäste dürften sie noch auf dem Heimweg aus dem Radio hören.
Pfarrer Christoph Knoll steht noch immer im weißen Talar neben dem einfachen Altar, auf dem ein großes güldenes Kreuz ist. Er sieht glücklich aus. Als ich ihn darauf anspreche, bejaht er. Er habe eine Nähe gespürt, obwohl jeder in seinem Auto bleiben musste. Das sei besonders und ungewöhnlich gewesen. Nach dem Gottesdienst gehe es für ihn zum österlichen Gulaschessen, lässt er mich wissen. 
Er grinst und setzt sich in sein eigenes Auto. 

Hintergrund: 
Wegen der andauernden Corona-Pandemie sind klassische Gottesdienste derzeit verboten. Um das Osterfest jedoch trotzdem feiern zu können, veranstaltete die Thomasgemeinde in Erfurt den ersten Autogottesdienst auf dem Gelände der Messe Erfurt.

Autor:

Paul-Philipp Braun

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