Sünde
Ein überkommener Begriff?

Apfel, Schlange, Mensch: 
Holländisches Gebetbuch, Leiden um 1490. Gott verbietet Adam und Eva, vom Baum der Erkenntis zu essen (links) und der Sündenfall. | Foto: Foto: kna-bild/Barbara Beyer
  • Apfel, Schlange, Mensch:
    Holländisches Gebetbuch, Leiden um 1490. Gott verbietet Adam und Eva, vom Baum der Erkenntis zu essen (links) und der Sündenfall.
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Sünde scheint der Inbegriff des Weltfremden zu sein, des Gestrigen. Ein Begriff, der für manche überhaupt nur noch innerhalb kirchlicher Logik funktioniert. Eine Spurensuche.

Von Alexander Brandl

Offen gestanden: Dafür, dass die Sünde in unserem christlichen Denken und Reden so viel Raum einnimmt, scheint wenig Klarheit darüber zu herrschen, worum es sich dabei überhaupt handelt. Vielleicht hilft ein kurzer Blick in die Theologiegeschichte.
Der wahrscheinlich prägendste Denker zu dem Thema war Augustinus. Im fünften Jahrhundert entwickelte er das, was heute noch als Erbsündenlehre bekannt ist. Dahinter steckt die Vorstellung, dass mit dem Aufbegehren von Adam und Eva zwischen Gott und den Menschen etwas dermaßen in Schieflage geraten ist, dass niemand sich aus eigener Kraft daraus befreien kann. Nach Augustinus vererbt sich die Sünde so von Generation zu Generation. Immer wieder neige der Mensch dazu, im Zweifel sich selbst vorzuziehen. »Amor sui« nennt der Kirchenlehrer das. Selbst-Liebe.

Christus wolle uns dagegen für andere öffnen: für unsere Nächsten, in denen Gott sich spiegelt, und für Gott selbst. »Caritas« nennt er diese Form der Liebe, in Abgrenzung zur fleischlichen »amor sui«. Leider ist es mit Augustinus in der westlichen Welt auch üblich geworden, Selbstliebe pauschal als den Inbegriff von Sünde und Egoismus zu sehen. Eine liebevolle Selbstannahme als Geschöpf und Ebenbild Gottes hat für mich allerdings wenig zu tun mit der sündigen Selbstsucht, von der Augustinus spricht. Fehlt uns einfach der passende Begriff dafür? Vielleicht eine »caritas sui«?

Ich springe rund eintausend Jahre weiter, zum Reformator Martin Luther. Er knüpfte bei Augustinus an und entwickelte aus dessen Vorstellung ein griffiges Bild: Der Mensch sei »auf sich selbst verkrümmt«. Nur die ausgestreckte Hand Gottes könne seinen Blick aufrichten und ihn aus der Schuldverstrickung befreien. Luther formulierte dazu eine knappe lateinische Formel: Der Mensch sei »simul iustus et peccator«, also selbstbezogen, sündig und zugleich geliebt und angenommen von Gott. Beides gilt immer, unabhängig von einzelnen Taten, seien diese nun gut oder schlecht.

Die Vorstellung, dass jeder Mensch immer noch mehr ist als seine Taten, findet sich letztlich auch im Konzept der Menschenwürde, wie sie im Grundgesetz angelegt ist. Der Mensch ist immer Selbstzweck und in diesem Sinne gut – egal, ob er seinem Handeln nach moralisch gut ist. Das ist Würde, wie sie das christliche Menschenbild im Kern ausmacht. – Ist die Frage nach der Sünde dann womöglich unbedeutend?
Ich glaube, so banal es klingen mag: Gott will, dass der Mensch ein gutes Leben lebt. Darum überhaupt die Geschichten der Bibel, darum die tausenden Seiten von Text: Sie konservieren für uns Erfahrungen und Vorstellungen von gutem, gelingendem Leben – auch und gerade angesichts von Angst, Schuld, Verzweiflung und Tod. Dreierlei gehört zu so einem Leben, das betont Jesus in seinem zentralen Doppelgebot der Liebe, das hin und wieder auch Dreifachgebot genannt wird: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft. Und: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.«

Der Mensch ist also aufgespannt zwischen drei Pfeilern, drei Formen der Beziehung: zu unseren Mitmenschen, zu uns selbst und zum Göttlichen. Das scheint mir tatsächlich das Wesentliche im Leben eines Menschen zu sein.

Was wäre dann Sünde? Die Trennung von Gott? Ich ergänze aber, denn das halte ich für entscheidend: Gott ist nicht ein Dritter außerhalb der Welt. Gott ist auch in der Welt. Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber betont: Gott ist dort, wo echte Beziehung stattfindet. Sünde als eine Haltung, die Gott widerspricht, hieße dann, Beziehungsbande zu zerschneiden oder verkümmern zu lassen – zu Gott, zu anderen Menschen oder zu uns selbst.

Vielleicht kann die Sünde so zu einer heilsamen Vorstellung von Menschsein beitragen, zu einer, die auch solchen einleuchtet, die christliche Begriffe nicht schon mit der Muttermilch aufgesogen haben. Sünde ist dann nicht das Produkt eines Gottes, der mit den Menschen spielt und sie in Erlösungsbedürftigkeit leiden lässt, sondern das Ausschlagen einer ausgestreckten Hand, die doch – Gott sei Dank – immer ausgestreckt bleibt.

Der Autor ist Vikar in München. 

Für unsere Sünden gestorben
Ohne Sünde geht es nicht

Autor:

Online-Redaktion

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