Konfliktlinien zwischen »Kirchenparteien«

Erkunden die jüngere Vergangenheit (von links): Merle Koller, Jessica Bruchmüller, Jan Brademann, Maria-Friederike Stegen, Nikita Rittschik (im Hintergrund), Nico Ahnert (davor), Charlotte Bernhardt und Justus Vesting. | Foto: Judith Brademann-Fenkl
  • Erkunden die jüngere Vergangenheit (von links): Merle Koller, Jessica Bruchmüller, Jan Brademann, Maria-Friederike Stegen, Nikita Rittschik (im Hintergrund), Nico Ahnert (davor), Charlotte Bernhardt und Justus Vesting.
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Kirche und Demokratie: Studierende erforschen im Dessauer Archiv Dokumente aus den 1920er-Jahren

Die Geschichte der Evangelischen Landeskirche Anhalts während der Weimarer Republik hat bislang kaum das Interesse von Historikern geweckt. »Das ist bedauerlich«, findet der Historiker und Archivar Jan Brademann. »Denn die Eigenständigkeit der Kirche und die meisten demokratischen Gestaltungselemente ihrer inneren Ordnung waren damals etwas Neues.« Die seit 1920 getroffenen Entscheidungen wirkten in zentralen Grundsätzen bis heute nach. Auch die politische Polarisierung der Gesellschaft der Weimarer Republik würde sich in der Kirche widerspiegeln.
Um das Forschungsdefizit rund um das Inkrafttreten der ersten Verfassung der Landeskirche Anhalts am 14. August 1920 – und sei es nur in Ansätzen – zu verkleinern, werteten Theologiestudentinnen und -studenten der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg unter Leitung von Justus Vesting im landeskirchlichen Archiv in Dessau-Roßlau Unterlagen aus: Akten aus dem Bestand des Landeskirchenrats sowie der Gemeinden St. Johannis und St. Marien, aber auch publizistische Quellen.
Die zu erwartenden Konfliktlinien, so der erste Eindruck, verliefen innerhalb der Kirche weniger zwischen Demokraten und Antidemokraten. Eher ging es um solche Fragen, wie weit die Demokratisierung der Kirche gehen und welches Verhältnis sie zu Staat und Gesellschaft einnehmen sollte – beim Schulwesen, in der Sozialfürsorge oder der Moral. Der Begriff »Volkskirche« wurde unterschiedlich aufgefasst.
Die Frage der Pfarrerwahl wurde publizistisch und während der verfassunggebenden Versammlung 1919 ausgetragen und mündete in der Regelung der alternierenden Besetzungsfolge, die noch heute gilt. Die Wahlen zum Landeskirchentag erfolgten in zwei Wahlbezirken in allgemeiner, direkter, geheimer Verhältniswahl über Listen. Gemeindeglieder ab 21 Jahren, erstmals auch Frauen, durften wählen. 1926 konnten die gelisteten Kandidaten dreier »Kirchenparteien« gewählt werden: die (konservative) »Freie kirchliche Vereinigung«, die (liberalen) »Freunde evangelischer Freiheit« und die »Religiösen Sozialisten«. Die Konservativen erzielten mit 66 Prozent der Stimmen fast eine Zweidrittelmehrheit. Mit Hans Richter aus Leopoldshall, Ewald Stier aus Schackstedt/Jeßnitz und Richard Bindemann aus Dessau untersuchten die Studenten drei Pfarrer, deren Theologie, soziales und politisches Engagement sich jeweils den genannten Kirchenparteien zuordnen lässt. Visitations- und Gemeindekirchenratsprotokolle gaben Einblick in die bürgerlich geprägte Dessauer Johannisgemeinde. Besonders bemerkenswert war die 1923 erfolgte Einweihung einer »Heldenkapelle« in der Johanniskirche für die 275 im Weltkrieg gefallenen Gemeindeglieder.
Das so feststellbare nationalkonservative Profil der Gemeinde leitete, so Brademann und Vesting, zu vorläufigen Überlegungen über: Die aufgeklärte Tradition der Kirche, die Anhalt im 19. Jahrhundert geprägt hatte, spielte in den 1920er-Jahren nur noch eine untergeordnete Rolle. Während der Freistaat bis 1932 fast durchgängig von einer sozialliberalen Koalition regiert wurde, war die Kirche im rechten Lager zu verorten. Immer mehr Kirchenaustritte und die wachsende offene Ablehnung von Religion und Kirche in der Öffentlichkeit polarisierten das Verhältnis insbesondere des Klerus zu den linken und liberalen Parteien. Seit dem Trauma des Krieges hatte sich eine »Theologie der Krise« entfaltet, die angesichts des Scheiterns einer Versöhnung von Glaube, Vernunft und Technik ihr Heil häufig in einem theologischen wie politischen Konservatismus suchte und für ein bibeltreu orientiertes Christentum und die »Gesundung« der Nation eintrat. Liberale, auf Freiwilligkeit der Mitgliedschaft, klare Trennung vom Staat und den inneren Pluralismus der Glaubenshaltungen abhebende Positionen, wie sie etwa Ewald Stier vertrat, wurden weiter zurückgedrängt.
Die Studierenden hoben mehrfach die Spannung hervor, die sich auftat zwischen der organisatorischen Modernisierung der Kirche auf der einen und dem konservativen Profil der Pfarrer und des Landeskirchentags auf der anderen Seite. Ein Teil von ihnen will die Forschungsergebnisse vertiefen. Dies erscheint vor dem Hintergrund einer stark durch die nationalsozialistische Regierung und Ideologie geprägten Kirchengeschichte Anhalts ab 1932 besonders wichtig. (G+H)

Autor:

Kirchenzeitungsredaktion Evangelische Landeskirche Anhalts

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