die Freuden Moses
STRAHLENDER GLANZ

Marc Chagall: Mose erhält die "Tafeln der Vergegenwärtigung" (Detail) - im Hintergrund die Pflanze Atropa Belladonna
  • Marc Chagall: Mose erhält die "Tafeln der Vergegenwärtigung" (Detail) - im Hintergrund die Pflanze Atropa Belladonna
  • hochgeladen von Matthias Schollmeyer

Von den Bräuten des ägyptischen Pharao berichtet uns Thomas Mann, dass sie Tollkirschen pflückten, auspressten und sich von dem Saft etwas in ihre dunklen Augen träufelten. Atropa Beladonna - eine Nachtschattenpflanze. Das in den Früchten enthaltene Atropin weitet die Pupillen. Das Auge erglänzt - das Antlitz leuchtet und verleiht dem Gesicht eine überirdische Note. Auch der Predigttext vom 30.1.2022 will nicht ohne überirdischen Glanz auskommen. Moses Angesicht leuchtet. Was geschah?

Mose war vierzig Tage und vierzig Nächte auf dem Berge bei dem HERRN und aß weder Brot noch trank er Wasser. Sondern schrieb auf zwei Tafeln zehn bindende Zeichen. Diese Tafeln in der Hand stieg er vom Berge hinab, merkte dabei aber nicht, wie vom Reden mit dem HERRN die Haut seines Angesichts strahlte. Aber Aaron und alle Kinder Israels sahen den Glanz. Sie fürchteten sich, Mose zu nahen. Er musste sie anrufen; da erst wandten sie sich ihm zu - und er sagte ihnen, was der HERR auf dem Berge mit ihm geredet hatte, wobei er sein Angesicht mit einem Schleier bedeckte. Nur wenn er hineinging zum HERRN, um mit ihm zu reden, tat er die Bedeckung ab. Wenn er dann herauskam, um die Worte des HERRN den Kindern Israels zu sagen, sah man die Haut seines Angesichts noch glänzen. Und deshalb legte er den Schleier auf seinem Angesicht solange nicht ab, bis er hineinging, mit dem HERRN erneut zu reden. (Exodus 34,29ff)

Ein Mann, der weder isst noch trinkt, scheint nichts mehr von dem zu brauchen, was dem Bauch angenehm ist. Denn er stieg in höhere Sphären auf, spricht dort mit dem HERRN - und dieser redet zu ihm als das „Sein Selbst an sich“. Worte von solcher Kraft sind es, dass der harte Granit der Bergwelt sich mit ewigen Zeichen leicht beschreiben lässt, wie feinstes Bütten von einer Schwanenfeder. Zehn Zeichen sind es, mit deren Kombinationen alles dargestellt werden kann: 0,1,2,3,4,5,6,7,8,9. Die ersten 5 dieser Reihe (0,1,2,3,4) ergeben in ihrer Summe 10, das ist die Anzahl aller einstelligen Ziffern und zugleich der Zahlenwert (י), mit dem der Gottesname (יהוה) beginnt. Und die letzten 5 Ziffern der Reihe 0,1,2,3,4,5,6,7,8,9 (gemeint sind 5,6,7,8,9) ergeben 35, also in der Quersumme 8, das ist auch der Wert der Quersumme des Tetragramms (des Gottesnamens).
Mose war bereits schon einmal mit der geheimnisvollen Welt der Zeichen und Symbole bekannt gemacht worden: Das war damals am brennenden Dornbusch (2.Buch Mose 3,1ff). Dort hatte er die göttliche Namensformel gehört: Das gewaltige und tröstliche ICH BIN DAS ICH BIN und danach das ER IST DER DASEIENDE. Heute nun sieht Mose die einzelnen Elemente jener alles erschaffenden Sprache in deren alles erhaltender Schrift - und darf beides nach Hause mitnehmen. 
Nachdem die β-Version des göttlichen Alphabeths beim Zwischenfall mit dem Goldenen Kalb leider vernichtet worden war (2.Buch Mose 32.19), empfängt Mose nun die Endfassung des Codes aller Codierungen zu treuen Händen ein zweites Mal - und balanciert damit von der Höhe einsamer Bergerfahrungen zurück in die Ebene, wo das Volk wohnt. Er wird den Code nie wieder leichtsinnig im Zorn zerschmettern,  ganz gleich wie das Volk sich bei der Lektüre der ewigen Tafeln anstellen wird.

Mose ist dabei so zu Mute, als ob er in seinen Händen Antimaterie hielte. Es ist ihm so, als ob er die Weltformel gefunden hätte. Es ist so, als ob er von heute an Raum in Zeit umwandeln könnte - und Zeit zu Raum. Es ist so, als ob er eine Möglichkeit erfand, mit Zeichen Realitäten hervor zu zwingen - und Realität in Zeichen zu bannen. Wen wundert es, dass einem solchen Erfinder die Augen glänzen und das Antlitz erstrahlt. Für die Uneingeweihten dagegen ist es kaum auszuhalten: Sie wenden sich ab. Und Mose muss sie erst anrufen, damit sie sich ihm halbwegs wieder zuwenden. Martin Buber nennt die beiden steinernen Tafeln „Tafeln der Vergegenwärtigung”. Wer sie hat und begreift, schätzt Brot und Wasser nicht mehr als diese Zeichen und den Glanz, den sie in uns bewirken, wenn wir sie tragen, abschreiben und davon singen und sagen. Es gibt Menschen, die sind bei diesen Zeichen geblieben und nicht verhungert, obwohl ihnen nur Brot und Wasser zugestanden worden ist.

Tafeln des Gesetzes werden sie oft genannt … Es sollte uns klar sein, dass nicht so sehr nur die ethischen Regeln und Bestimmungen der menschlichen Gesellschaften gemeint sind, irgendwelche Verordnungen, Abstandsregeln, Verfassungen und Paragraphen aus Grundgesetzen, sondern die ewigen Zeichen als Sprossen der Traumleiter (1.Buch Mose 28,12), über deren Stufen gleitend alles zum Engel wird, sich in den Augen Gottes zur Botschaft wandelt und - zur Erde herabsteigend - sich als duldendes Ding lange wieder an uns ausliefert.
Mose schaute das alles, und er weiß es jetzt für immer. Wären nur irgendwelche Gesetze gemeint gewesen, müsste der Bergwanderer eher mit sorgenvollem Blick zurückgekehrt sein. Moses Angesicht wird aber durch etwas Größeres geprägt.

Warum eigentlich fürchten sich die Leute vor dem Glanz auf Moses Gesicht? Warum müssen sie erst angerufen werden? Erklingen deshalb die Glocken am Sonntag von den Kirchtürmen herab, damit man jene Orte aufsuche, an denen von solchen wunderbaren Sachen erzählt wird? Oder ist, damit man das Hören und Sehen vom Ewigen überhaupt aushält, tatsächlich so etwas wie ein Schleier oder eine Decke über unser Erkennen geworfen? Eine ontologische Maske. Hinter diese Maske hin zu denken und jenseits ihrer hervor zu denken, wie Mose, das kann man nur, wenn man nicht bloß nach Brot und Wasser sucht, sondern nach dem, was Steine zu Brot und Wasser zu Wein werden verwandelt.

Ist es eigentlich egal, an welcher Stelle diese sonderbar maskierende Decke, der gnädig bergende Schleier sich befindet? Irgendwann hatte Mose seinen Schleier satt, den er nur der Schwachen wegen fast aus Gewohnheit anlegte. Es sind fast immer irgendwelche Leute mit irgendwelchen Ängsten, die für ihre Furcht vor dem Wunderbaren Decken, Schleier und Masken fordern. Legten sie die einmal ab, würden sie etwas von dem ausstrahlen, was Mose kennt. Die Leute aber tragen ihre verhüllenden Decken irgendwann so gehorsam - wie von selbst. Tragen und Trügen. Masken und Schleier. Decken und falsche Brillen. Scheuklappen, Sichtschutze und Verhängnisse. Die Leute - das sind übrigens immer wir selber …

Wer sich all dieser „Gestelle“ (Heidegger) zu entledigen wagt, wird Anteil an den Freuden Moses gewinnen. Hat dann nicht nur wie die Töchter Ägyptens ein paar Stunden lang glänzende Augen (für den Pharao), sondern erblickt selber die Struktur der Äonen  …

Autor:

Matthias Schollmeyer

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