UNERHÖRTE SCHÖNHEIT
Beethovenoratorium 11.9.2021 Kirchenkreis Wittenberg

Beethoven also ... Nicht alle mögen Beethoven. Carl Friedrich Zelter, einer der wenigen Duz-Freunde Goethes, hat seinem Weimarer Staatsminister anvertraut, die Musik Beethovens komme ihm vor wie ein Kind, "dessen Vater eine Frau und Mutter ein Mann gewesen sein muss."  Der Mann, dessen Kadenzen wir nachher gleich lauschen dürfen, war als Musiker am Lebensende taub. Er hat trotzdem Musik komponiert.

Noch ein Zeuge zu dieser Sache ist Dietrich Bonhoeffer. Der schreibt seinem Freund Bethge 1944 aus dem Gefängnis, er könne durch die Haft den tauben Beethoven besser verstehen: „Seit einem Jahr habe ich keinen Choral mehr singen hören. Aber es ist merkwürdig, wie die nur mit dem inneren Ohr gehörte Musik … fast schöner sein kann als die physisch gehörte; sie hat eine größere Reinheit, alle Schlacken fallen ab; … Es sind nur einige wenige Stücke, die ich so kenne, daß ich sie von innen her hören kann; aber gerade bei den Osterliedern gelingt es besonders gut. Die Musik des tauben Beethovens wird mir existentiell verständlich, besonders gehört für mich dahin der große Variationssatz aus Opus 111" (DBW 8, 367 f). 

zum Beispiel hier: https://youtu.be/bYe27pJ2RBI (die letzten 5 Minuten muss man in diesem Leben unbedingt gehört haben)

Thomas Mann schließlich hat seinem Dr. Faustus-Roman gerade im Blick auf dieses raffinierte Stück lange Überlegungen gewidmet. Der Philosoph Adorno, der zeitgleich mit den Manns im amerikanischen Exil war, spielte die nur zweisätzige Sonate Beethovens op 111 dem Erfinder der literarischen Phantasiefigur Adrian Leverkühns vor. Mann war von der Adornoschen Interpretation dermaßen stark beeindruckt, dass er dem Gymnasiallehrer Kretzschmar einen Vornamen mit W (Wendell) verlieh, um Theodor W. Adorno, den er sonst nicht immer wohlgefällig beredete, ein kleines Buchstabendenkmal im Dr. Faustus zu setzen. Gerade diese nur zweisätzige Klaviersonate Beethovens bringt den Knaben Adrian Leverkühn in Kaisersaschern zur Musik und macht ihn zum besessenen Tonsetzer. Wendell Kretzschmar erklärt in Vorträgen am Klavier Beethoven - und hat Erfolg. Die Musik geht nie mehr ab. Sie bringt Leverkühn am Ende fast um, wie auch Nietzsche an der Gottes-Aufgabe im Wahn landete - Thomas Mann stellt Nietzsche und Leverkühn als musikalische Brüder dar. Beide brachte die Musik fast um - und der Roman, der aus der Beethoven-Musik entstand, beschreibt die Seele der Deutschen wie kein anderer. Wie sich in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts alles offenbarte und verwirklichte, das wird mit Hilfe von Beethovens Musik erklärt.

Künstler unter sich ... Ein Tauber macht etwas, was er selber nicht hören kann. Ein Blinder malt etwas, das er nicht sehen kann. Jemand, der nicht geliebt wurde, kümmert sich um Menschen. Einer der nicht gehen kann, rennt um die Wette. Das Paradoxe ist immer mit im Spiel. Beethoven hat unnachahmlich den Wunderworten Schillers vom Götterfunken "Freude" in seiner Neunten Sinfonie jenes musikalisches Gewand gegeben, welches tatsächlich "von den Sitzen fliegen" lässt. Ein Trinklied - ich wollte, wir würden so die Eucharistie feiern und den Becher Jesu segnen. "Lasst den Schaum zum Himmel spritzen!" Freude schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium. Wir betreten feuertrunken, Himmlische dein Heiligtum.

Da sind wir also in unsere kleinen Dorfkirchen-Heiligtümer hezogen, um Beethovens unerhörter Tonschönheit zu lauschen. Fülle des Wohllauts. Kurz zur Grundidee des Oratoriums: Der auf hoher See über Bord gegangene Musikmaschinenkonstruktuer Nepomuk Mälzel lässt allerlei Erinnerungen an seinem geistigen Auge vorüber ziehen. Erinnerungen an Beethoven, der einer war, der die Musik aus dem tiefen Brunnen seiner eigenen Seele schöpfte. Mälzel dagegen - war er "nur" ein begnadeter Mechaniker? Nicht zu Unrecht hat er zumindest immer vermutet, wie die Ton-Harmonie mit den ersten Geschöpfen des ewigen Meisters und Weltenkonstrukteurs, den natürlichen Zahlen, zu tun haben muss. Mälzel konstruierte Maschinen, die Musik machen konnten. Die Zahlenverhältnisse standen im Dienst der harmonischen Um-, Auf- bzw. Abschwünge. Solche alten Automaten des 19. Jahrhunderts kommen uns heute vor wie seltsam lebendig tote Brüder und Schwestern, die wirklich so etwas wie eine Seele bekommen zu haben scheinen. Sobald sie Musik spielen, die der taube Kompositeur aus seiner Seele aufsteigen fühlte und bei Tageslicht und Kerzenschein auf Papier notierte, werden sie zum Golem und müssen bzw. dürfen singen. Solange der Zettel unter ihren Zungen vibriert.

Unhörbar ist eigentlich nichts. Die Welt ist Klang. Wie geheimnisvoll klingt dessen Stille in uns lange nach, wenn die Musikanten schon längst fort gegangen sind …

Autor:

Matthias Schollmeyer

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